"Leg dich, Zigeuner": Bewegendes Buch über Sinti-Verfolgung in Hannover
Sie waren zwei der großen Sportidole der zwanziger Jahre:
Otto "Tull" Harder, Jahrgang 1892, Bürgersohn, aufgewachsen in Braunschweig, für seine Alleingänge gefürchteter Mittelstürmer beim Hamburger SV und mehrfacher Nationalspieler.
Johann "Rukeli" Trollmann, Jahrgang 1907,Sinto, aufgewachsen in Hannovers Altstadt, für seinen intelligenten und fintenreichen Kampfstil ebenso geliebt wie gehasst.
Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft verbindet diese Sportler einiges. Beide müssen sich gegen Widerstände durchsetzen, ihren Sport zunächst heimlich ausüben. Beiden wurde der sportliche Höhepunkt ihrer Karriere, eine Teilnahme an den Olympischen Spielen, verwehrt - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Roger Repplinger zeigt in seiner Doppelbiographie "Leg dich, Zigeuner" diese Parallelen mit lebendigen, szenischen Schilderungen aus der Kinderheit und Jugend der späteren Spitzensportler auf.
Der Stock ist die Strafe für den Fußball. Wenn er spielt, was er eigentlich jeden Tag tut, und der Vater ihn erwischt, kommt der Rohrstock. Fritz Harder, der seinem Sohn den deutschen Kaisernamen als ersten und seinen eigenen als zweiten Vornamen gegeben hat, wird das Fußballspielen schon noch aus seinem Sprössling herausprügeln. Davon ist er felsenfest überzeugt. Das wäre doch gelacht.
Der aufkommende Nationalsozialismus bedeutet einen Bruch im Leben der beiden Biographien. Und auch ein Bruch im Stil des Buches: Repplinger wechselt von szenischen Schilderungen zu nüchternen - und dadurch nicht weniger bewegenden - Zusammenstellungen von Fakten und Dokumenten.
Der Nationalsozialismus erstarkt in einer Phase, in der sich Harders Karriere dem Ende zuneigt. Zwar ist für ihn gesorgt (Familie, Versicherungsagentur), doch in Harders Leben macht sich Leere breit: Ihm fehlt das Erlebnis der Kameradschaft, die er als Fußballer und als Soldat im Ersten Weltkrieg erfahren hat. Harder schließt sich der SS an, würde am liebsten wieder an die Front, wird aufgrund seines Alters aber in einem Konzentrationslager eingesetzt - und macht dort keine spektakuläre, aber doch eine beständige Karriere.
Trollmann befindet sich dagegen auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit. Anhand der Artikel einer Fachzeitschrift über Trollmanns Kämpfe zeigt Repplinger, wie die Nationalsozialisten das Idol langsam, aber stetig demontieren. Zunächst werden ihm schlechte Eigenschaften zugeschrieben. Später gibt es verdeckte, dann auch immer offenere Drohungen gegen die Kampfrichter und auch Trollmann selbst, welche Konsequenzen der Sieg eines "Zigeuners" gegen arische Kämpfer haben könnte. Schließlich werden Hannovers Sinti nach und nach in Konzentrationslager verschleppt. Auch Trollmann, der nach langer Leidenszeit 1943 im KZ Neuengamme stirbt - vermutlich ermordet, weil er als Sparringspartner zu hart zugeschlagen hat.
Drüben ist ein jüdischer Häftling ins Wasser gefallen. Der Kapo reicht ihm eine Stange. Der Häftling klammert sich an die Stange. Der Kapo taucht die Stange mit dem Häftling unter, zieht sie wieder hoch, taucht sie wieder ein, zieht sie wieder hoch. Bis der Häftling ertrunken ist. Das macht dem Kapo Spaß. Auch der SS-Mann lacht.
Die Schilderung der Zustände in den KZs, des perfiden Systems, in dem sowohl Häftlinge als auch Aufseher in ständiger Unsicherheit gehalten und gegeneinander ausgespielt wurden, nimmt viel Raum in Repplingers Buch ein. Es sind Kapitel, die trotz ihrer klaren und nüchternen Sprache nur schwer zu lesen sind. Weil es einfach unvorstellbar scheint, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun. Es sind Kapitel, die einen nicht wieder loslassen.
Sie sehen zum Fürchten aus: riesige Augen in winzigen Gesichtern. Die Augen starren ausdruckslos, gläsern. Immer atmen sie schwer, wie nach einer großen Anstrengung, auch wenn sie nichts tun. Am Leben zu bleiben ist in diesem Zustand bereits die größte Anstrengung. Lederartige Haut bedeckt die Körper. Sie sind so dünn, dass Rukeli fast in den Körper hineinsehen kann. Sie sind auf schreckliche Weise nackt. Die Schulterblätter stehen weit aus dem Rücken heraus wie die verstümmelten Flügel eines Engels. Die Arme hängen wie verdorrte Äste herab, dünn wie Stecken. Keine Muskeln, nichts, körperlos, Gespenster.
"Leg dich, Zigeuner" ist kein leichtes Buch. Beim Lesen muss man gegen Ekel, Übelkeit, Abscheu kämpfen. Aber es lohnt sich. Mit seinem Wechsel zwischen historischen Fakten, szenischen Schilderungen und Analysen zeichnet Repplinger nicht nur ein lebendiges Portrait zweier Menschen. Er beschreibt und analysiert auch, wie die systematische Sinti-Verfolgung in der Region Hannover funktionierte (Harder leitete zeitweise das KZ-Außenlager Ahlem). Und er zeigt, welche Mechanismen Unschuldige zu Opfern und Mitläufer zu Tätern machen. Bewegend.
Roger Repplinger: Leg dich, Zigeuner. Die Geschichte von Johann Trollmann und Tull Harder. Piper-Verlag 2008. 378 Seiten. 22,90 Euro.
Bürgerreporter:in:Robin Jantos aus Hannover-Mitte |
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