Arbeiterleben in Linden - Proletarische Familien
Die Non-Profit-Initiative „Lebensraum Linden“ lud am 12. Oktober 2017 wieder einmal in die Buchhandlung Decius, Falkenstraße 10, zu einer Veranstaltung ein. Michael Jürging (Moderator) und Manfred Wassmann konnten die Diplom-Sozialwirtin Prof. Dr. Heidi Rosenbaum aus Göttingen als Referentin gewinnen.
Rosenbaum (inzwischen pensioniert, letzte Berufsstation Uni Göttingen) leitete von 1983 bis 1991 das Projekt (Geldgeber DFG):
„Wandlungen der Rolle des Vaters in deutschen Arbeiterfamilien im frühen 20. Jahrhundert“.
Ort der Untersuchungen ist Mitte der 1980er Jahre die Arbeiterhochburg Linden (seit 1920 ein Stadtteil von Hannover), die politisch sehr stark sozialdemokratisch geprägt ist. Heidi Rosenbaum, in Linden geboren und die Jugendzeit verbracht, befragt 34 Frauen und Männer, die in Arbeiterfamilien aufgewachsen sind. Sie differenziert dabei in:
1.) Traditionelle Familien
2.) Sozialdemokratischen Familien
3.) Kleinbürgerlich orientierte Familien.
Die Untersuchungs-Ergebnisse, die noch näher betrachtet werden sollen, führen zu erstaunlichen Ergebnissen:
Das in den Sozialwissenschaften lange tradierte Bild von der proletarischen Familie und dem proletarischen Vater stellt sich als unzureichend heraus. Selbst im sozial sehr homogenen, demokratisch geprägten Linden ließen sich verschiedene proletarische Milieus und verschiedene Typen von Arbeiterfamilien bzw. Arbeitervätern identifizieren. Diese Differenzierung resultiert nicht aus unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, sondern aus einer Kombination mehrerer Faktoren.
Noch einmal zu der Differenzierung. Rosenbaum erkennt bei
TRADITIONELLE FAMILIEN
> Hohe Kinderzahl
> Kindererziehung Frauensache, Väter wenig involviert
> Große Bedeutung körperlicher Strafen
> Starke Konzentration der sozialen Kontakte auf Verwandtschaft
SOZIALDEMOKRATISCHE FAMILIEN
> Stark unterschiedliche Kinderzahlen
> Etliche Väter sehr an Kindern interessiert; starke Vaterfiguren aufgrund des politischen Engagements
> Kaum körperliche Strafen
> Bemühen um gute Bildung und Ausbildung der Kinder
> Soziale Kontakte über Verwandtschaft hinaus erweitert
KLEINBÜRGERLICH ORIENTIERTE FAMILIEN
> Geringe Kinderzahlen
> Hohe berufliche Qualifikation der Männer
> Wenig körperliche Strafen
> Sehr ausgeprägtes Bemühen um gute Schul- und Berufsausbildung der Kinder
> Zentrale Werte: Wohlanständigkeit und Respektabilität
> Starke Konzentration der sozialen Kontakte auf
Verwandtschaft
Dies ist nur ein kleiner, aber sehr Erkenntnis reicher Ausschnitt der Befragung.
Wer sich näher informieren möchte, der besorge sich das Buch
Proletarische Familien- Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung, Rosenbaum, H. , Suhrkamp Verlag, 1991,
zum (moderaten) Preis von 14 Euro, auch im Internet erhältlich.
Nach dem Vortrag schloss sich noch eine lebendige Frage- und Antwortrunde an,
so kam u. a. zur Sprache:
> starke Dominanz der Väter in religiösen Fragen (Deuker),
> gibt ab es auch Untersuchungen über das Leben kommunistisch geprägter Familien? (Müller),
> unter welchen Gesichtspunkten wurden die InterviewpartnerInnen ausgewählt? (Sperlich).
Danke für Ihren Bericht, lieber Herr Sperlich!
Den Vortrag von Frau Prof. Rosenbaum fand ich zum einen wegen der inhaltlichen Ergebnisse interessant, zum anderen aber auch wegen der geschilderten Anstrengungen, die pro Interview dafür erforderlich waren. Da ist es nicht verwunderlich, dass es so gut wie keine sozialwissenschaftlichen Studien über Linden gibt. Wer ist schon willens und in der Lage, die nötige Zeit und Sorgfalt aufzubringen? Und dann tritt das ein, was Peter Perrey anspricht: Die Zeitzeug/innen gehen nach und nach verloren. So stehen wir ständig vor der Herausforderung, aus begrenzten Erkenntnissen so eine Art Hologramm zu erstellen, das uns eine gewisse Vorstellung vom "Ganzen" vermittelt.