Science Fiction auf MyHeimat: Der Mann, der nach oben fiel
Eigentlich sollen Bürgerreporter ja etwas reportieren. Doch was? Dank des Corona-Virus muss man ja schön zu Hause bleiben und im Umkreis der eigenen Haustür passiert nicht mehr viel,
Um doch den MyHeimat-Leser Abwechslung in die langen Tage daheim zu bieten, habe ich uralte Erzählungen von mir hervorgekramt. Früher einmal war ich nämlich Science Fiction-Fan, verschlang Romane und Geschichten dieses Genres nicht nur, sondern verfasste auch selbst Stories. Die verschwanden dann in der Schublade. So konnte mich kein Verleger entdecken und die Chance, mit diesen Erzählungen reich und berühmt zu werden, war vertan. Aber vielleicht kann ich ja den einen oder anderen Leser in diesem Tagen damit unterhalten. Es würde mich freuen, wenn Ihr, liebe Leser, Gefallen daran findet. Einige der alten Texte sind bereits auf MyHeimat zu finden. Heute folgt die Story:
Der Mann, der nach oben fiel
Horst Langfels wußte, daß jetzt der schwierigste Teil seines Rundganges begann. Der Botenwagen, den er vor sich herschob, war vollbeladen mit Akten und farbigen Umlaufmappen. "Bundesanstalt für physikalische Forschungsprojekte" stand zumeist in großer Schrift auf den Pappdeckeln, die mit Namenszeichen oder Abteilungsnummern ausgezeichnet waren. Langfels mußte nun den vierrädrigen Wagen um die Ecke bugsieren, wo der Gang zum Bürotrakt C IV abzweigte.
Der Botenwagen ließ sich schwer lenken und schon ein paar Mal waren ihm bei dem Manöver einige Vorgänge aus den Mappen herausgerutscht. Das war schon ein Problem gewesen, die Schriftstücke wieder richtig zuzuordnen. Und Horst wollte nicht durch Fehler auffallen. Schließlich war er noch in der Probezeit und es hatte mit seinen 50 Jahren lange gedauert, bis er endlich bei der Bundesanstalt wieder Arbeit bekam.
An der Ecke ließ Horst seinen Wagen für einen Augenblick los. Noch bevor er sich in eine neue Position gestellt hatte, um die Aktenberge besser dirigieren zu können, schien jemand ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die Wände kippten, er fiel. Instinktiv zog er den Kopf zwischen seiner Schulter ein, drehte sich noch etwas und prallte schmerzhaft mit seinem rechten Arm auf den Boden auf.
Benommen richtete Langfels sich auf. Arme und Rücken taten weh und den Kopf hatte er sich auch angestoßen. Wo war er bloß hingefallen? Der Teppichboden fehlte, stattdessen war der Betonfußboden irgendwann einmal mit inzwischen ergrauter weißer Farbe gestrichen. Eine Armeslänge von ihm entfernt schimmerte eine kleine Kuppel aus Milchglas am Boden, die genauso wie die Lampen aussah, die sonst an der Decke hingen. An der Decke befand sich allerdings nunmehr der braune Teppichboden, mit dem hier die Fußböden ausgelegt waren. Und kopfüber klebte dort oben sein Botenwagen.
"Au", sagte Horst Langfels laut, als er sich langsam bewegte. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Er schüttelte den Kopf, machte die Augen zu und wieder auf. Alles war noch da. Der Wagen an der Decke und die Lampe auf dem Fußboden. Horst hörte Stimmen. Zwei Menschen kamen um die Ecke vom Bürotrakt C IV. Sie gingen an der Decke entlang und hingen mit dem Kopf nach unten. Als die beiden den Amtsboten sahen, verstummten sie und blieben entgeistert stehen. Einen der Neuankömmlinge kannte Horst. Es war Regierungsdirektor Dr. Kümmerlich von der Verwaltung. Der Regierungsdirektor sagte: "Herr Langfels, Mensch, was machen Sie an der Decke?"
Binnen kurzer Zeit füllte sich der schmale Gang zum Bürotrakt C IV. "Erstaunlich", murmelte der Präsident der Bundesanstalt und be-trachtete seinen Mitarbeiter Horst Langfels, der sich jetzt erst einmal hingesetzt hatte. Er saß an der Decke, mit dem Kopf nach unten und schaute unter Verrenkungen in die Runde unter sich. Außer dem Präsidenten standen noch der Leiter des Personalreferates, der Chef des Botendienstes, eilig herbei geströmtes Personal aus dem Verwaltungstrakt und den angrenzenden Laboratorien sowie der Betriebsarzt unter Horst herum. "Was ist hier los? Wieso ist die Decke unten? ", fragte Amtsbote Langfels zum dritten Mal, während der Betriebsarzt beruhigend auf ihn einredete. Eine der Männer in weißen Kitteln, durch die sich die Leute vom wissenschaftlichen Dienst von den „Verwaltungshengsten“ absetzen, reichte Horst eine Aktenmappe. Es war Doktor Georginos. "Bitte nehmen Sie sie und lassen sie dann los", ordnete Georginos an. Horst nahm das Stück, ließ es los und die Mappe fiel wieder von ihm herunter auf den richtigen Boden. "Nehmen Sie jetzt bitte etwas, was sie in ihren Taschen tragen und lassen es fallen", bat der Doktor der Physik. Horst nickte verwirrt, kramte ein Schlüsselbund hervor, hielt es hoch und ließ das Bund fallen. Die Schlüssel fielen nach oben und klatschen an die Decke.
"Alles was Herr Langfels am Körper trägt, wird offenbar von der Erde abgestoßen, alle anderen Gegenstände fallen normal herunter, ob er sie berührt oder nicht", folgerte Geoginos aus seinem Experiment. Der Präsident murmelte nochmals „Erstaunlich“ und fragte dann: "Haben Sie eine Erklärung für dieses, ähem, dieses Phänomenen?"
Dr. Georginos nickte. "Wir haben zu der Zeit, als Herr Langfels zur Decke fiel, ein Scalarfeld erzeugt, im unterirdischen Versuchsraum, 600 Meter von hier entfernt", sagte der Wissenschaftler. "In energiereichen Scalarfeldern kann die Gravitation umgekehrt werden. Langfels muß irgendwie in einen Ausläufer dieses Feld geraten sein."
Diese Erklärung des Dr. Georginos klang überzeugend, änderte aber nichts an dem Umstand, daß Amtsbote Horst Langfels weiter mit den Füßen an der Decke stand. Für Langfels ließ der Präsident, der alle Mitarbeiter - solange, bis "die Zeit dafür reif sei" zum Stillschweigen verpflichtete - das nächste Büro ausräumen, ein Bett, einen Sessel und einen Tisch an die Decke schrauben, bat die Ehefrau der unglücklichen Boten ins Amt und offerierte ihr das Gästezimmer der Anstalt als vorübergehendes Domizil. Langfels schien sein Schicksal anfangs ohne besondere Gemütsregung hinzunehmen, erst als sein Mittagessen mit unwiderstehlicher Gewalt - aus seiner Sicht - zur Decke fiel, bekam er einen Weinkrampf. Der Betriebsarzt bat um Un¬terstützung durch einen Psychiater.
Auf Vorschlag von Dr. Georginos ordnete der Präsident die Wieder-holung des Experimentes an. Im Laufe der nächstens zwei Tage un¬ternahm die Gruppe um Dr. Geoginos sieben Versuche. Doch die erzeugten Scalarfelder zeigten in Bezug auf Horst Langfels keine Wirkung. Nachdem die Wissenschaftler erst einmal in eine wohlverdiente Pause gegangen waren, stand Langfels trübsinnig in seinem Zimmer am geöffneten Fenster. über ihn breitete sich bis zum Horizont eine überwältigende Decke aus Asphalt, Beton und etwas Grün aus. Er blickte nach unten. Fast sah es so aus, als schaute er aus großer Höhe aus einem Flugzeug auf das Meer. Unter ihm zogen weiße Wolken über die blaue Fläche des Himmels. An sich war Horst nicht schwindelfrei, große Höhen trieben ihm regelmäßig den Schweiß auf die Stirn und sein Herz klopfte bis zum Hals. Der Blick hinaus ängstigte Langfels diesmal aber nicht, obwohl die Fensteröffnung knapp oberhalb seiner Füße schon den Weg in die Tiefe freigab. Irgendwie reizte ihn sogar der unwirkliche Ausblick.
Ohne anzuklopfen platzte Dr. Georginos ins Zimmer. Der Wissen-schaftler reagierte sofort, leider allerdings nicht angemessen. "Sind Sie lebensmüde?", schrie er den Amtsboten an. "Weg vom Fenster!" Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Horst Langfels sich nicht so erschrocken hätte. Er machte unwillkürlich einen Schritt, bedauerlicherweise aber in die falsche Richtung. Langfels stürzte aus dem Fenster - und hatte immer noch keine Angst. Er wußte daß er fiel, doch ein berauschendes Gefühl beherrschte Horst. Der seit vorgestern auf ihn lastende Druck war auf einmal nicht mehr vorhanden. Die schwere Decke aus Beton und Asphalt mit dem im¬mer kleiner werdenden, am Fenster gestikulierenden Dr. Georginos wich vor ihm zurück. Die Wolken kamen langsam näher. "Ob ich wohl bis zum Mond falle", dachte Horst Langfeld noch.
Dr. Georginos veröffentlichte über die Ereignisse eine ausführliche Arbeit, die ihm den Nobelpreis für Physik einbringen sollte. Der Präsident der Bundesanstalt wurde wegen seiner Verdienste vom Minister in den frisch gegründeten Beirat der Bundesregierung für wissenschaftliche Grundlagenforschung berufen und Frau Langfels bekam - als nach einigem Hin und Her der Vorfall als Dienstunfall anerkannt worden war - eine kleine Witwenpension gewährt.
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Dort findet Ihr am Ende auch die Links zu früher von mir hier auf MyHeimat veröffentlichen Geschichten aus dem SF-Bereich . Viel Spaß beim Lesen.