Asyl für eine Kirchenglocke aus Ostpreußen; Geschichte einer langen Reise...
An einem bitterkalten Dezembertag im Jahre 1934 - meine Mutter hat mir später davon erzählt - wurde ich in der Lutherkirche in Insterburg/Ostpreußen feierlich zur Taufe getragen. Draußen versank die Landschaft in hohem Schnee, aber die Sonne schien von einem blauen Himmel und tauchte das Innere der alten Kirche in der Nähe des Flüsschens Angerapp in wohltuendes Licht. Damals muß es gewesen sein, dass auch das feierliche Geläut der Kirchenglocken zu Beginn des Gottesdienstes an meine „Baby-Ohren“ drang. Natürlich habe ich es als gerade eben erst geborener kleiner, ostpreußischer „Lorbass“ nicht bewußt wahrnehmen können, aber ich bin sicher, dass es so gewesen sein wird.
Das alles spielte sich vor nun mehr als 75 Jahren ab. Heute - der bekannte Fernsehjournalist Wolf von Lojewski berichtete darüber in einem Ostpreußenfilm und bestätigte es mir gegenüber in einer freundlichen E.-Mail - heute ist meine alte Taufkirche in meinem Geburtsort Insterburg in der jetzt russischen Stadt Tschernjachowsk, in der russischen Exklave Kaliningrad gelegen, längst dem Erboden gleichgemacht, nachdem sie zuvor nach dem Einmarsch der Roten Armee einige Zeit als Kornspeicher mißbraucht worden war.
Noch bevor wir - 1939 nach Treuburg in Masuren verzogen - Ende 1944 vor den heranrückenden Russen gen Westen flohen, schon Monate vorher mußten auch einige der Glocken aus der Lutherkirche in Insterburg ihren angestammten Platz im markanten Turm des Gotteshauses am Alten Markt verlassen: Sie wurden vom Staate konfisziert und an zentrale Sammelstellen in Norddeutschland verbracht, wo sie ihres Schicksals harrten, eingeschmolzen und zu „Kanonen“ verarbeitet zu werden! So war das damals, und viele Kirchenglocken aus dem ganzen Reich mußten den gleichen Weg antreten. Einige von ihnen, denen durch das Kriegsende im Mai 1945 ihre Zweckentfremdung erspart blieb, konnten dennoch nie wieder heimkehren. Die Kirchtürme, in deren Glockenstühlen die verwaisten Plätze wieder hätten eingenomen werden können, standen nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands in Landstrichen, die nun zu Polen oder zur Sowjetunion gehörten. Oder sie wurden von den atheistischen Machthabern einfach „ausradiert“. Glocken gab es also, die ihr Schicksal der „Heimatlosigkeit“ mit Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches teilten.
Wohin also mit den vielen heimatlosen Glocken? Wo konnten sie wieder zum Leben erweckt und ihrer Zweckbestimmung zugeführt werden, christliches Gemeindeleben mit ihrem Klingen zu begleiten?
Man fand Lösungen, gute, sinnvolle Lösungen! In der gesamten Bundesrepublik hielt man Ausschau nach Kirchen, in denen die für lange Zeit zum Stumm-Sein verurteilten Glocken Unterschlupf finden könnten.
Viele Kirchengemeinden boten gern Asyl und nahmen sie auf, die vielen Glocken, die nicht mehr an die Plätze zurückkehren konnten, an denen sie einst und ursprünglich ihren Dienst taten.
So schaffte man auch in Hannover-Bothfeld im Kirchturm der
St. Nicolai-Kirche Platz für eine Glocke, die mir dereinst in der Lutherkirche in Insterburg/Ostpreußen zu meiner Taufe im Jahre 1934 erklungen war.
Vor einiger Zeit, lange bevor meine Frau und ich aus der hannoverschen List nach Bothfeld gezogen waren, entdeckte ich auf einem Spaziergang ganz zufällig und vollkommen überrascht auf dem rauhen Gemäuer des kleinen Gotteshauses eine Bronzetafel mit der Inschrift: „Eine Glocke in diesem Turm stammt von der Lutherkirche Insterburg Ostpreußen“.
Mein Erstaunen, meine Freude, meine Rührung waren grenzenlos! Was für eine erstaunliche Begebenheit! An die 70 Jahre nach meiner Taufe in der Lutherkirche in Insterburg, meiner 1.002 km von Hannover entfernten Geburtsstadt, gibt es diese fantastische und so viele Emotionen auslösende Begegnung! „Meine“ Taufglocke hat durch die Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit auf vielen schicksalhaften Wegen zu mir „zurück gefunden“! In der Fremde sind wir wieder einander begegnet. Ich höre sie seither wieder zum Gottesdienst und zu anderen Anlässen klingen, schliesse die Augen und reise im Geiste zurück in die alte, mir entfremdete Heimat Ostpreußen, der immer noch und wohl anhaltend eine stille Sehnsucht gehört.
Mich und manchen, denen ich davon erzählt habe, hat diese Geschichte berührt, betroffen gemacht, aber andererseits auch getröstet...
Bürgerreporter:in:Klaus Perrey aus Hannover-Bothfeld |
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