Die Weihnachtszeit in den Fünfzigerjahren - Kindheitserinnerungen
Jedes Jahr wieder, wenn es auf den Winter zugeht und die Adventszeit beginnt, nehme ich mir Zeit für Besinnlichkeit. Dann schweifen meine Gedanken ab an längst vergangene Tage, an die Tage meiner Kinderzeit, als auch Eltern und Großeltern noch lebten. Ich denke, dass es vielen anderen Menschen ebenso ergeht. Die langen dunklen Abende, der Geruch von Kerzenwachs und Tannenzweigen, die weihnachtliche Musik, das Knacken der Nussschalen, die geschmückte Wohnung, die stimmungsvoll beleuchtete Stadt oder ein Besuch des Weihnachtsmarktes oder eines Adventsgottesdienstes. Alles das und noch viel mehr trägt dazu bei. Darüber möchte ich in dieser Geschichte erzählen, wie es früher war, denn solche Erinnerungen sind etwas Schönes. Wer sich erinnert, so heißt es, der lebt zweimal. Und gerade die Weihnachtszeit ist es, die sich wohl den meisten Menschen in ihren frühen Kindheitsjahren tief ins Gedächtnis eingeprägt hat, war doch damals für einen selber in den ersten Lebensjahren alles neu und deswegen besonders eindrucksvoll. So will ich nun beginnen.
Adventszeit
Wenn der Herbst und damit die Laternenzeit vorbei war, hatten wir Kinder ein neues Ziel vor Augen dem wir entgegen fieberten wie keiner anderen Zeit des Jahres. Natürlich war es die Weihnachtszeit, denn so schön ein Sommertag, ein Geburtstag oder Ostern auch waren. An die Weihnachtszeit reichte nichts auch nur annähernd heran. Das waren für uns Kinder die wichtigsten und bedeutungsvollsten Tage des ganzen Jahres.
Bei uns in der Küche hing der Adventskalender. Wie hatten wir darauf gewartet, das erste Türchen aufmachen zu dürfen, und wie waren wir dann jeden Tag aufs Neue gespannt, was sich dahinter verbergen würde. Natürlich besonders am 24. Tag, war dieses Türchen doch größer und schöner als alle anderen. Allein beim Anblick des Kalenders wurde mir ganz stimmungsvoll zumute. Er zeigte meist einen winterlichen Dorfplatz, eine tiefverschneite Landschaft oder eine Krippenszene. Das Ganze war mit Silberflitter verziert, das den Kalender doppelt schön erscheinen ließ. Mit den Fingern berührte ich es und freute mich daran. Allein solch ein Kalender und das tägliche Öffnen der Türen war eine große Freude für meine Schwester und mich.
Ein erster Höhepunkt ließ nicht lange auf sich warten. Es war natürlich der 1. Advent. Mitten auf dem Stubentisch stand der Adventskranz. Die erste Kerze durfte angezündet werden. Unsere Eltern und wir beiden Geschwister saßen drumherum und blickten in die Flamme. Ab und zu nahmen wir Kinder eine Tannennadel von dem großen Weihnachtsstrauß im Flur mit den Strohsternen daran und hielten sie ins Feuer. Ein gemütlicher Nadelgeruch breitete sich aus. Das Kokeln machte uns natürlich Spaß. Doch irgendwann meinten unsere Eltern, dass es nun genug damit sei.
Oft knackten wir Wallnüsse, die wir so gern aßen. Die Schalen wurden anschließend in die bullernde Glut des Kohleofens geworfen. Unter der Hitze zersprangen sie und krachten dabei laut. Zu jedem Advent sangen wir auch Weihnachtslieder. Einen Fernseher oder einen Plattenspieler besaßen wir noch nicht. Und auch in unserem großen Metz-Radioapparat liefen nicht ständig Weihnachtslieder über den Sender. So mussten wir für die weihnachtliche Stimmung selber sorgen, und womit ginge das besser, als durch Singen. Auch das machte uns Kindern Freude, und wir kannten zumindest die ersten und zweiten Strophen aller Lieder auswendig. Bei den letzteren haperte es meist. Doch die kannten unsere Eltern.
Anfang Dezember war es auch, wenn unsere Eltern an die Verwandten in der Ostzone dachten, die in Blankenburg und dem Dorf Timmenrode am Harzrand lebten. Die Menschen in Ostdeutschland hatten Mangel an vielen Dingen des alltäglichen Lebens, die für uns selbstverständlich waren. Ihr Lebensstandard war bei Weitem nicht so hoch wie der bei uns im „wohlhabenden“ Westen. Und so kauften unsere Eltern eine Menge Lebensmittel ein: Kaffee und Kakao. Schokolade, Rosinen und Gewürze. Bananen, Apfelsinen und Zitronen. Die Südfrüchte noch in unreifem Zustand, da ein Paket viele Tage unterwegs war. Alle diese Sachen gab es drüben nicht oder nur sehr selten und dann zu unerschwinglichen Preisen. Man kann sich in der heutigen Zeit kaum vorstellen, wie sich unsere Verwandten damals darüber gefreut haben. Und jeder hoffte natürlich, dass sein Paket nicht geöffnet würde und dass der Inhalt die Verwandtschaft tatsächlich auch erreichte, denn das war nicht selbstverständlich.
Dann kam der 6. Dezember, der Nikolaustag. Schon der Tag davor war besonders aufregend. Wir Kinder suchten unseren größten Stiefel heraus und putzten ihn blitzblank. An diesem Tag konnte ich es kaum erwarten, wenn ich abends ins Bett gehen durfte, auch wenn ich sonst versuchte es so lange wie möglich hinauszuzögern. Der Stiefel stand auf meiner Bettseite in der Fensterbank, gegenüber der meiner Schwester. Würde ich den Nikolaus diesmal bemerken? Ich wunderte mich jedesmal wieder aufs Neue, wie er es fertigbrachte, durch das geschlossene Kinderzimmerfenster zu kommen. Aber ich hatte auch nie irgendwelche Zweifel, dass er es nicht schaffen würde. Oft, wenn ich schon am Einschlafen war, raffte ich mich noch einmal auf, um einen Blick hinter die Vorhänge in das Fenster zu werfen. Aber es hatte sich noch nichts getan. So schlief ich dann ein.
Wenn wir sonst irgendwann am Morgen aufwachten oder unser Vater uns später, als wir zur Schule gingen, wecken musste, so war es an diesem Tag anders. Vor Aufregung wachte ich irgendwann in der Nacht auf, und tatsächlich war der Nikolaus dagewesen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Wie freute ich mich über den Inhalt meines Stiefels. Meist war darin ein großes Marzipanbrot, ein oder zwei Apfelsinen und einige Nüsse. Nach heutigen Maßstäben ist es wohl wenig. Doch damals war es viel, und unsere Freude war dementsprechend groß.
Es kam der 2. Advent. Es wurde gebastelt. Strohsterne oder Transparente, die aus schwarzem Karton ausgeschnitten und von hinten mit buntem Transparentpapier beklebt wurden. Sie eigneten sich als Geschenke für Omas und Opas und Tanten. Wir gingen zum Kindergottesdienst, in dem manchmal ein Krippenspiel aufgeführt wurde. Dort bewunderte ich den riesigen Adventskranz mit den dicken roten Kerzen, der an breiten Bändern von der Decke herabhing. Seine Kerzen konnten vom Küster nur mit Hilfe einer langen Stange, an der oben ebenfalls eine Kerze befestigt war, angezündet werden.
So zwischen dem 2. und 3. Advent war es auch, wenn sich unser Vater mit uns Kindern auf den Weg machte einen Tannenbaum zu holen. Es war gar nicht so einfach, den richtigen Baum zu finden. Schließlich sollte es der Schönste sein. Damals gab es keine Nordmanns- oder Blautannen, sondern nur Fichten. Sie hatten allerdings zwei Nachteile. Die Nadeln piksten, und sie fingen schon kurz nach Weihnachten zu Nadeln an. Deswegen blieb der Weihnachtsbaum nie lange stehen. Meist wurde er schon nach Silvester abgetakelt.
Wir stiefelten dann durch den eingezäunten Tannenbaumwald und besahen uns die Bäume von allen Seiten. Der Verkäufer beriet uns dabei, nahm sie heraus, drehte sie hin und her, und sie wurden von uns für gut oder schlecht befunden. Die einen waren zu klein, die anderen zu groß. Die einen zu dicht, die anderen zu kahl. Oder sie waren nicht gerade gewachsen oder hatten sonst irgendeinen Fehler. Doch irgendwann fanden wir den Richtigen und es war, wie jedes Jahr wieder, ein wunderschönes Exemplar. Er war so groß, dass er bis zur Zimmerdecke reichen würde. Wie leid tat mir da mein Freund, der oben im Haus wohnte. Dessen Familie hatte immer nur einen kleinen Baum, der auf einem Tischchen stand. Außerdem hatten sie elektrische Lichter. Wir hatten natürlich richtige Kerzen, die um so vieles schöner waren.
Kamen wir mit vom Tragen harzverklebten Händen zu Hause an, wurde der Baum erstmal auf den Balkon gestellt. Dort rückte ihm unser Vater mit einer Säge zu Leibe, um den Stumpf für den Ständer passend zu machen. Mit viel Mühe war es schließlich geschafft, hatte unser Vater als Beamter doch zwei linke Hände. Schließlich kroch ich unter den Baum und konnte die Flügelschrauben festdrehen. Nun stand er also da und wartete wie ich jeden Tag auf Weihnachten. Schon jetzt sah er wunderschön aus, und ich freute mich jeden Tag an seinem Anblick.
Der 3. Advent ließ mein Herz höher schlagen. Nun war es wirklich kein weiter Weg mehr bis zum Weihnachtsfest. Manchmal hörte ich meine Eltern tuscheln, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, oder ich sah sie zufällig mit einem großen Paket oder einer Tüte durch die Wohnung gehen. Das erhöhte die Spannung ungemein und ich konnte sie kaum noch ertragen. Was mochte wohl da drinnen gewesen sein? Vielleicht sogar etwas für mich? Später, als ich zur Schule ging, schrieb ich natürlich einen Wunschzettel, den meine Eltern irgendwann an das Christkind weiterleiteten.
Etwas anderes ging mit der Weihnachtszeit einher, das zusätzlich für eine stimmungsvolle Atmosphäre sorgte. Damals kamen richtige Winter tatsächlich häufiger vor als heute, nicht nur gefühlt. Zwischen den Jahren 1939 und 1974 gab es ungewöhnlich viele kalte, was zur Folge hatte, dass wir zwar nicht immer, aber eben doch öfter eine weiße Weihnacht hatten und dass Schnee auch in der Vorweihnachtszeit nichts Ungewöhnliches war.
Wenn es frostige Tage gab, dann hatte die Natur an unser Kinderzimmerfenster die schönste Eisblumenlandschaft gemalt. Weiße, glitzernde und kunstvoll geschwungene Kristallgebilde. Unsere erste Handlung am Morgen nach dem Aufwachen bestand dann darin, gegen die Fensterscheibe zu hauchen. Ein kleines Loch tat sich in der Eisblumenlandschaft auf und wir konnten hinausgucken. Wenn wir sahen, dass über Nacht Schnee gefallen war, dann waren wir überglücklich. Nach dem Frühstück hielt uns dann nichts mehr. Schnell in den Keller, den alten Schlitten hochgeholt, mit dem unser Vater schon zu seiner Kindheit gerodelt war und ab ging es nach draußen. Natürlich wurde auch ein Schneemann gebaut. Er hatte Augen und Knöpfe, die aus Kohlen bestanden. Eine Mohrrübe als Nase, und manchmal konnte auch irgendeins der vielen Kinder aus der Nachbarschaft einen alten Topf besorgen, der ihm auf das runde Haupt gesetzt wurde. Und natürlich rodelten wir auch, denn hinter unserem Haus befand sich ein kleiner Hang. Wer kam am weitesten, wer stellte einen neuen Rekord auf? Und auf dem Bauch liegend oder rückwärts auf dem Schlitten sitzend, war es natürlich noch spannender.
Auch versuchten wir eine Schneebude zu bauen und legten uns eine Rutschbahn an. Beim Schliddern hatten wir viel Spaß, auch wenn wir dabei so manches Mal auf dem Hosenboden landeten. Aber wir entwickelten eine immer größer werdende Geschicklichkeit darin. Am Abend sackten wir dann völlig erschöpft, aber glücklich, in unsere Betten. Die waren eiskalt, wurde der Kohleofen im Kinderzimmer doch nur dann beheizt wenn wir Spielbesuch bekamen. Doch lag man erstmal unter den dicken Federbetten, die wir bis zur Nasenspitze hochzogen, dann wurde es schnell gemütlich warm.
Irgendwann zu dieser Zeit war es dann auch, da wurde gebacken. Das gehörte natürlich zu Weihnachten dazu. Zunächst waren es leckere Butterkekse, die unsere Mutter mit Backsternen ausgestochen hatte. Später waren es zwei riesige Weihnachtsstollen. Wir sahen unserer Mutter dabei zu wie sie den Teig knetete, die Rosinen hinein tat, ihn walzte und aufrollte. Als letztes wurden die Stollen noch mit einer Glasur bestrichen, mit einem Geschirrtuch bedeckt und dann zum Bäcker gebracht, denn in unseren Backofen passten sie längst nicht hinein.
Mit dem 4. Advent stieg meine Aufregung noch mehr. Wie schön war es, wenn wir endlich die vierte Kerze anzünden durften. Nun brannten sie alle, und was war das doch für ein herrlicher Anblick. Doch die letzten Tage zogen sich zäh wie Kleister in die Länge. Sie wollten einfach nicht vergehen. Aber dann war es doch soweit. In der Nacht zum Heiligabend schlief ich nur sehr unruhig, und am nächsten Morgen war ich hellwach. Der mit Abstand schönste Tag des ganzen endlos langen Jahres stand bevor.
Der Heiligabend
Schon am Morgen wartete etwas Schönes auf uns Kinder. Wir durften im Kalender das 24. Türchen öffnen. Das war viel größer als die anderen und immer war darin die Krippe mit Maria und Josef abgebildet. Gebührend bestaunten wir das wundervolle Bild.
Doch dann wollten die Stunden gar nicht mehr vergehen. Was sollte man an solch einem Tag anfangen? Die Stube durften wir nicht mehr betreten. Wir wussten, dass jetzt der Baum darin stand und dass irgendwann im Laufe des Tages das Christkind kommen würde, um ihn zu schmücken. In unbeobachteten Momenten versuchte ich durch die dicke Mattglasscheibe der Stubentür zu gucken. Doch natürlich war dadurch nicht das Geringste zu erkennen. In meiner Vorstellung war das Christkind tatsächlich ein Kind, nicht viel älter und größer als wir auch. Es trug sicherlich ein weißes Kleid und hatte goldblondes, gelocktes Haar. Allein der Gedanke, dass das Christkind unseren Baum schmücken würde, verlieh dem Tag einen außergewöhnlichen Glanz.
Nach dem Mittagessen hatten wir immerhin den halben Tag geschafft. Nach wie vor wussten wir Kinder nichts mit uns anzufangen und gingen uns gegenseitig auf die Nerven. Wenn die Dämmerung einsetzte war Kaffeezeit. Es gab den Stollen, den unsere Mutter gebacken hatte und der nun vorzüglich schmeckte.
Und dann war es endlich soweit. Wir zogen unsere Winterkleidung an, unser Vater steckte uns einen Groschen für den Klingelbeutel zu und es konnte losgehen. Auch wenn ich den Kirchgang damals als notwendiges Übel betrachtete, so gehörte er doch natürlich zu Weihnachten dazu und ohne ihn wäre ein Heiligabend eben nicht der Heiligabend gewesen. In einigen Fenstern, auf dem Weg dorthin, waren schon erleuchtete Tannenbäume zu sehen. Es sah sehr feierlich aus. Doch für meinen Geschmack war das noch viel zu früh, war es doch noch nicht einmal richtig dunkel. Manche Fenster zierten bunte Papier- oder Strohsterne. Elektrische Lichterketten oder -pyramiden gab es in dem Maße noch nicht.
Wir kamen frühzeitig in der Kirche an, denn wir wollten möglichst einen Sitzplatz weiter vorne ergattern, von dem wir die große Krippe mit den wundervollen Krippenfiguren sehen konnten. Die stand unter dem großen Weihnachtsbaum, und oft gingen wir vor oder nach dem Gottesdienst nach vorne, um sie ganz aus der Nähe betrachten zu können. Die Zeit bis zum Beginn des Gottesdienstes vertrieben wir uns auf Vorschlag unseres Vaters damit, die Kerzen am Weihnachtsbaum zu zählen. Das waren eine ganze Menge, meist so um die 70. Doch selten konnten wir uns über die Anzahl einigen, wurden doch manche Kerzen aus den unterschiedlichen Blickwinkeln immer durch irgendeinen Zweig verdeckt.
Inzwischen begannen die Glocken zu läuten. Das war ein Fortschritt, und nun würde es bald losgehen. Die Kirche hatte sich mittlerweile so gefüllt, dass kein einziger Platz mehr frei war. Weiter hinten mussten sogar einige stehen. Endlich hörten die Glocken auf zu läuten und der Gottesdienst begann.
Es war eine viel feierlichere Stimmung als sonst. Es lag wohl am gedämpften Licht und natürlich an den Weihnachtsliedern, die wir sangen. Manchmal wurden auch irgendwelche Instrumente gespielt oder ein kleiner Chor war zu hören. So ging der Gottesdienst voran. Ich war nicht immer bei der Sache, denn ich musste daran denken, was uns nachher zu Hause erwarten würde. Besonders wenn die Predigt einsetzte hatte ich Zeit zum Nachdenken, verstand ich doch sowieso kein Wort von dem, was der Pastor da oben von der Kanzel sprach, und so machte ich auch gar nicht erst den Versuch, seinen Worten zu folgen. Außerdem bedauerte ich ihn. Er musste später noch einen zweiten Gottesdienst abhalten und konnte nicht bei seiner Familie in seiner Weihnachtsstube sein und bei seinen schönen Geschenken, die er sicherlich auch bekam.
Wenn die Predigt zu Ende war, atmete ich durch und wohl auch die vielen anderen Kinder, die mit ihren Eltern ebenfalls nicht in den Kindergottesdienst gegangen waren. Nach der Weihnachtsgeschichte und dem „O du fröhliche“, das im Stehen gesungen wurde, war ich wie befreit. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis wir die Weihnachtsstube betreten durften.
Vor der Kirche herrschte eine fröhliche, ausgelassene Stimmung. Dichtgedrängt standen Menschen beieinander und wünschten sich gegenseitig frohe Weihnachten. Den einen oder anderen aus unserer Straße grüßten wir auch, hielten uns jedoch nicht lange damit auf, denn wir wollten so schnell wie möglich nach Hause. Auf dem Rückweg sahen wir durch viele Fenster nicht nur erleuchtete Weihnachtsbäume, sondern es standen auch brennende Kerzen auf den Fensterbänken. Das war damals in Westdeutschland so Brauch. Sie sollten uns in diesen schönen Stunden an die „Brüder und Schwestern“ in der Ostzone erinnern. An unsere Verwandten, denen wir nicht nahe sein konnten. Auch unser Vater stellte zum Gedenken Kerzen auf.
Doch dann waren wir endlich zu Hause. Meine Schwester und ich verschwanden sogleich im Kinderzimmer und zogen die Tür hinter uns zu. Nun würde es gleich losgehen. Voller Aufregung warteten wir. Dann erklang das lieblichste Geräusch, das ich mir je vorstellen konnte: das Läuten der Weihnachtsglocke, vom Christkind oder gar vom Weihnachtsmann selber geläutet. Unsere Mutter holte uns ab und unser Vater kam uns entgegen. Gemeinsam schritten wir durch den Flur der Weihnachtsstube entgegen. Allein der Anblick des Leuchtens, das durch die matten Scheiben der Stubentür drang, verzauberte mich. Es war ein Licht, das es nur zu Weihnachten gab. Zusätzlich der Gedanke, dass bis vor wenigen Augenblicken der Weihnachtsmann und das Christkind in unserer Stube gewesen waren, um den Baum zu schmücken, die Kerzen anzuzünden und die Geschenke darunter zu legen. All das verzückte mich und versetzte mich in eine andere Welt.
Und dann betraten wir die Weihnachtstube. Was war das für ein Anblick! Der Baum war unbeschreiblich schön. Lametta hing in unzähligen silbernen Fäden von den Zweigen herab und verlieh der Stube einen fast übernatürlichen Glanz. Die Flammen der Kerzen spiegelten sich in den Kugeln. Zwei silberne Vögel mit weißem Schweif saßen in den höchsten Zweigen des Baumes. Hölzerne Engel, die Musikinstrumente spielten, silberne Glöckchen, Strohsterne und vieles andere mehr gab es zu bestaunen. Ich war mir damals sicher, dass es keinen zweiten Weihnachtsbaum auf der ganzen Welt geben könnte, der so schön war wie der unserige.
Der zweite Blick fiel unter den Baum und war nicht weniger schön und aufregend. Für uns Kinder, nicht verpackt, sondern gleich so, dass wir sehen konnten was wir bekamen. Mein Herz sprang vor Freude und ich war überglücklich. Doch bevor wir uns den Geschenken widmen durften, blieben wir voller Ehrfurcht vor dem Baum stehen. Einige Weihnachtslieder mussten noch gesungen werden, das war so Sitte und wir taten es gern, gehörte es doch einfach dazu: Kommet ihr Hirten, Ihr Kinderlein kommet, Am Weihnachtsbaume, Es ist ein Ros entsprungen und noch das eine oder andere. Mit verklärten Blicken standen wir andächtig da und schauten auf den Baum mit den brennenden Kerzen und den Geschenken darunter.
Irgendwann meinten unser Eltern, dass es nun reiche mit dem Singen und wir unsere Geschenke in Empfang nehmen dürften. Ich versank sofort in meiner Spielzeugwelt, denn ich bekam immer etwas ganz besonders Schönes. Einmal war es ein Bauernhof aus Holz mit vielen Tieren, einmal eine Eisenbahn, deren Lock ich mit einem Schlüssel aufziehen konnte und die immer im Kreis herum fuhr und einmal eine Ritterburg. Es gab nicht so viel wie in der heutigen Zeit. Wir kannten es ja nicht anders. Doch es war immer etwas Wunderbares. Zusätzlich bekam jeder noch einen bunten Teller mit allerhand zum Naschen darauf.
Einige Zeit später - die Kerzen am Baum waren längst abgebrannt – wurde mein Spielen durch das Abendessen unterbrochen. Es gab Kartoffelsalat mit Bockwürstchen. Doch dann konnten wir Kinder weiterspielen, und die Zeit verrann dabei wie im Fluge. Aus unserem großen Radioapparat erklang Weihnachtsmusik. In den sechziger Jahren, als wir einen Fernsehapparat bekamen, wurde der am Heiligabend grundsätzlich nicht angemacht. Das passte einfach nicht zu diesem wundervollen Tag, und ich hätte es auch nie gewollt. Es hätte mein Spielen und die wunderschöne Stimmung nur gestört.
An diesem Abend durften meine Schwester und ich lange aufbleiben. Doch irgendwann wurden wir dann doch müde und machten uns bettfertig. Ich konnte mich kaum vom Anblick der Weihnachtsstube trennen. Natürlich nahm ich mein Geschenk mit ins Kinderzimmer hinüber und stellte es vor mein Bett. Ihm galt mein letzter Blick, bevor das Licht gelöscht wurde. Doch auch im Dunkeln war ich mit meinen Gedanken noch lange bei meinem Geschenk und dem wundervollen Tag. Außerdem musste ich auch daran denken, dass es nun wieder ein ganzes Jahr bis zum nächsten Heiligabend dauern würde. Und wie endlos lang so ein Jahr in der Kinderzeit war, daran kann sich wohl jeder erinnern. Doch nun gab es erstmal noch den ersten und zweiten Weihnachtstag, und auch diese Tage waren besonders schön.
Die Weihnachtstage
Wenn ich auch sonst gewöhnlich etwas länger schlief, so war das am Morgen des ersten Weihnachtstages anders. Schon früh war ich vor Aufregung aufgewacht. Mein erster Blick fiel auf dieselbe Stelle wie am Abend zuvor. Natürlich auf mein Geschenk, dass immer noch vor meinem Bett stand.
Als ich die Stube betrat, war sofort wieder dieses schöne Weihnachtsgefühl da. Alles sah so wundervoll aus. Der Tannenbaum im anbrechenden Licht des Tages. Er wirkte nun anders als am Abend zuvor, war aber nicht viel weniger schön. Von ihm strömte ein Nadelduft aus, der den ganzen Raum erfüllte. An der Wand das große Schwarzweißbild mit den beiden singenden Engeln darauf und natürlich der bunte Teller, von dem ich gleich naschte.
Unsere Mutter sahen wir an diesem Vormittag kaum in der Stube. Sie war fast die ganze Zeit in der Küche und bereitete das Festmahl vor, was mit viel Arbeit verbunden war. Natürlich gab es an diesem Festtag etwas Besonderes zu essen. Mal war es eine Ganz, mal ein Schmorbraten oder ein anderes Mal ein Hase. An ein Weihnachtsfest kann ich mich erinnern, da brachte unser Opa vom Markt einen Hasen mit. Das imponierte mir sehr, denn diesem musste erstmal das Fell abgezogen werden, was nicht einfach war. Im Fleisch konnten wir sogar die Kugel entdecken, die seinem Leben in Feld und Flur ein so jähes Ende bereitet hatte.
Das Mittagessen war natürlich köstlich, denn ein solches Mahl gab es nur zu besonderen Anlässen. Und außer Weihnachten und Ostern gab es eigentlich keinen weiteren im ganzen Jahr.
Am Nachmittag bekamen wir Besuch. Es waren unsere Großeltern und eine Tante. Nach dem Kaffeetrinken mit Weihnachtsstollen, wurden am Baum die Lichter angezündet und es wurde gesungen. Auf Wunsch unserer Oma wie immer „O du Fröhliche“ und auf Wunsch unseres Opas „Kommet ihr Hirten“, denn das waren ihre Lieblingslieder.
Während wir noch sangen, verließ unser Opa den Raum, um eben mal aufs Klo zu gehen. Kurz darauf hörten wir ein lautes Pochen an der Wohnungstür. Uns war sofort klar, wer da kommen würde. Es gab nur einen, der gegen die Tür klopfte und die Klingel nicht benutzte. Natürlich war es der Weihnachtsmann. Vornüber gebeugt kam er mit dem großen, schweren Sack auf der Schulter herein. Wir Kinder, und manchmal auch die Nachbarskinder, die dazu gekommen waren, standen voller Ehrfurcht vor ihm. Er reichte jedem von uns die Hand und erzählte von seiner Wanderung durch den tiefverschneiten Winterwald. Natürlich fragte er uns auch, ob wir denn alle artig gewesen seien. Im Großen und Ganzen konnten wir das Bejahen, auch wenn wir insgeheim wussten, dass es nicht immer so war. Ich rechnete jedenfalls meinen Eltern hoch an, dass sie nichts verrieten und zustimmend nickten. Anschließend musste ich vor den Weihnachtsmann treten, die Hände falten und ihm dieses Gedicht aufsagen:
Lieber, lieber Weihnachtsmann
schau mich nicht so böse an
stecke deine Rute ein
ich will auch immer artig sein
Seine Rute zeigte er uns und auch die Kohlen, die er für unartige Kinder dabei hatte. Doch dann kramte er noch tiefer in seinem Sack und holte die Geschenke heraus.
Kaum war der Weihnachtsmann verschwunden - er blieb nicht lange, denn schließlich warteten noch viele Kinder auf ihn und ich fragte mich sowieso, wie er das denn alles schaffen konnte -, da kam unser Opa zurück. Er war enttäuscht, dass ausgerechnet er in diesem Moment nicht dabei gewesen sein konnte. Er hatte mein volles Mitgefühl. Doch im nächsten Jahr, sagte ich ihm, würde es bestimmt klappen.
Ich glaube, dass ich sechs Jahre alt war, als ich den Schwindel erkannte. Ich weiß nicht mehr wie ich darauf kam, dass unser Opa der verkleidete Weihnachtsmann sein könnte. Aber ich wurde wohl stutzig, als er wieder zum Klo gegangen war und es an der Tür klopfte. Allerdings war ich mir noch nicht sicher, und so fragte ich den Weihnachtsmann, ob ich einmal sein Gesicht streicheln dürfte. Ich durfte. Wie Pappe fühlten sich seine roten Backen an. Da wusste ich Bescheid.
Natürlich waren die Weihnachtsfeste danach auch noch sehr schön. Doch der Zauber dieser ersten Jahre war verflogen. Das Leuchten des Festes verlor mit zunehmenden Alter so nach und nach an Glanz. Das ist bei Heranwachsenden sicher ganz natürlich. Doch irgendwann kommt dieser bei den meisten Menschen zumindest ein wenig zurück. Nämlich dann wenn sie selber Kinder haben. Dann sehen sie das Weihnachtsfest auch wieder mit anderen Augen, eben mit denen ihrer Kinder. Und auch die sollen diesen Zauber spüren, den man als Kind einst selbst erlebt hat und der sich so tief ins Gedächtnis eingeprägt hat. Und jedes Jahr im Dezember wieder wird man sich daran erinnern, wohl selbst in hohem Alter noch. Denn diesen besonderen Geist der Weihnacht, den hat man für immer verinnerlicht.
Auch weihnachtlich oder winterlich:
-
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
8 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.