Unterwegs in den Dolomiten – Am Tomaselli-Klettersteig der Fanes und auf dem Hochplateau von Averau
Dass es in den Alpen allerschönste Berglandschaften gibt, wissen nicht nur Alpenurlauber, Wanderer und Bergsteiger. Ein Gebiet dieses vielseitigen und großartigen Gebirges ist es aber, das in der ganzen Welt keines gleichen hat. Das sind natürlich die Dolomiten, die einzigartig sind. Inmitten grüner und bunter Blumenwiesen ragen schroffe und oft bizarre Felsformationen himmelhoch in den meist blauen Himmel. Was ist das für ein herrlicher Kontrast! Im Tal eher sanft, und darüber hinaus oft wilder wie es kaum geht. Das ist wohl die Landschaft, die keinen, der sie je besucht hat, nicht in ihren Bann gezogen hat. Der eine hat sie vielleicht bei einer großen Dolomitenrundfahrt kennen gelernt. Der andere war darin zum Wandern oder sogar zum Klettern unterwegs. Und wieder andere haben im Winter dort die Bretter untergeschnallt, zum Beispiel an der Sella, die schöne Abfahrten bietet und dabei an einem Tag umrundet werden kann, die bekannte Sellaronda.
Viele Male war ich in diesem Gebirge, das einst in einem Meer aus Korallenkalk und Meeresgetier entstanden ist, unterwegs und habe darin etliche Gipfel bestiegen. In der Langkofelgruppe, im Rosengarten, in der Tofana, der Marmolada und anderswo. Und jedes Mal wieder, wenn ich sie nach langer Anfahrt mit dem Auto erreiche, staune ich über die Schönheit dieser Berglandschaft. Auch wenn man zu Hause seine eigenen Bilder ansieht oder die im Netz, dann können diese doch nicht im Entferntesten die Großartigkeit dieser wunderbaren Gegend wiedergeben. Und deswegen muss man sie einfach immer mal wieder besuchen, um dieses Wunder der Natur mit eigenen Augen anzuschauen.
Für dieses Mal haben wir uns ein Gebiet in den östlichen Dolomiten ausgesucht, nahe des einstigen Olympiaortes Cortina d`Ampezzo. Nachdem ich von dort an anderer Stelle schon über die Drei Zinnen und die Tofanegruppe berichtet habe, geht es dieses Mal um die Gegend beiderseits des Falzarego-Passes. Dieser spielte im Ersten Weltkrieg eine strategisch bedeutende Rolle. Dort eröffnete sich nämlich den italienischen Alpini die Möglichkeit des Durchbruchs in die Täler nach St. Kassian und Corvara hin. Und so war dieser Pass in großen Gefechten mit immensen Verlusten auf beiden Seiten heiß umkämpft. Während sich die Alpini am Kamm der drei Tofane-Gipfel festsetzten, verschanzten sich die Tiroler als Landesverteidiger gegenüber am Fanes-Kamm und in deren Wänden. Und die letztgenannte Gebirgsgruppe war es nun, die wir erkunden wollten. Das hatte allerdings einen ganz bestimmten Grund, denn dort befindet sich der Tomaselli-Klettersteig, einer der schwierigsten der ganzen Alpen. Das war für uns – Vater und Sohn – Anreiz genug, gerade dieses Ziel auszusuchen.
Nachdem wir unseren Wagen am Falazarego-Pass abgestellt haben, wollen wir uns jedoch am Vormittag erstmal warmlaufen. Und dazu erstreckt sich südlich des Passes genau die richtige Gegend, das Hochplateau von Averau. Vielleicht kennt dieses der eine oder andere Leser, mit den Felsgruppen des Monte Averau und des Cinque Torri im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um eine wunderbare Landschaft mit Wiesenflächen, Waldgebieten und darüber hinaus ragenden Felsmassiven. Da die Höhenunterschiede und Entfernungen nicht allzu groß sind, eignet sich das Gebiet hervorragend für Wanderungen. Und zum Einkehren gibt es auch die eine oder andere Hütte, auf der man sich in der Sonne sitzend einen Cuppuccino und einen Apfelstrudel gönnen kann. Zum Beispiel auf der Rifugio Cinque Torri mit Blick auf die markanten Felsen der Fünffingerspitzen. Ein viel fotografiertes Dolomitenmotiv. Immerhin 2137 Meter liegt sie hoch. Von dort aus kann auch sehr gut der nebenan liegenden Gipfel des Monte Averau mit leichtester Kletterei bestiegen werden, der sich noch 500 Höhenmeter über der Hütte befindet. Wer einigermaßen trittsicher ist und halbwegs schwindelfrei, dem kann ich es empfehlen. Wegen der großartigen Aussicht in alle Richtungen lohnt es sich unbedingt. Besonders auch auf die niedrigere Cinque Torri, die nahe liegenden Tofane- und Fanesgipfel und zum Talkessel um Cortina hin. Aber auch auf die richtig großen Dolomitengipfel.
Da wir schon in der Frühe durch dieses schöne Gebiet gestartet sind, erreichen wir gegen Mittag wieder den Falzarego-Pass. Nach einem Mittagsschläfchen auf den grünen Matten in der Sonne, fühlen wir uns nun bereit für die Fanes. Wer möchte, kann sich vom Pass (2105 m) aus 650 Höhenmeter ersparen und die Seilbahn zum Lagazuoi hinauf benutzen. Für uns steht jedoch das Naturerlebnis im Vordergrund, so dass wir uns mit schweren Rucksäcken und Ausrüstung für zwei Tage darin auf Stiefelsohlen die mehr oder weniger steilen Pfade, die sich zum Teil in vielen Kehren die Hänge hinaufwinden, auf den Weg machen. Gut, dass es heute Teleskopstöcker gibt, denn die erleichtern einen solchen Aufstieg ungemein, zumal man dabei merkt, dass auch die Luft schon etwas dünner wird. Immer wieder muss man mal stehen bleiben, nach Luft hecheln und die Pulsfrequenz herunterfahren. Doch irgendwann am frühen Abend erreichen wir nach viel Schufterei die Höhe. Und da die Sonne nicht mehr allzu hoch über den Gipfeln der Puezgruppe über dem Tal von Corvara steht, machen wir uns auch sofort an die Suche nach einem geeigneten Biwakplatz für die Nacht. Der ist bald gefunden. (Siehe auch: Übernachtung auf der Hütte oder im Biwak) Zwar droht kein Regen, doch wollen wir uns einen windgeschützten Platz mit einem Dach über dem Kopf gönnen. Dazu eignet sich eine der vielen einstigen höhlenartigen Kriegsstellungen, die man hier oben überall finden kann. Der Raum, im Ersten Weltkrieg in den Stein gemeißelt, eignet sich gut dazu. Vor inzwischen über einem Jahrhundert mussten die Soldaten im Winter bei meterhohem Schnee und vor den eisigen Winden einigermaßen geschützt darin ausharren. Für sie war das alles andere als ein Vergnügen. Für sie ging es nur darum, irgendwie zu überleben. Und Hunderttausende von ihnen kamen gar nicht mal durch Kriegshandlungen ums Leben, sondern durch die Unbilden des Wetters. Lawinen, Steinschlag, Tod durch Erfrieren oder Abstürze in gefährlichem Gelände führten dazu. Wir hingegen liegen in der Nacht bequem in unseren warmen Schlafsäcken auf den morschen Brettern aus dieser Zeit, sind aber in Gedanken oft bei den Soldaten. Und wir müssen dabei auch an unseren Opa- und Uropa denken, der als Goslarer Gebirgsjäger neben Belgien und Rumänien auch in diesem Gebiet zum Einsatz kam und Schlimmstes erlebt hat.
Am nächsten Tag durchstreifen wir weglos kreuz und quer dieses interessante Gebiet. Wir stoßen auf einen langen Kriegstunnel, Gedenkkreuze und verrostete Konservendosen und Stacheldraht. Und natürlich haben wir einen Blick für die schöne Natur ringsherum, in der uns
nur selten Menschen begegnen. Gegen Abend finden wir uns am Fuß der Fanisspitze, auf die der Tomaselli-Klettersteig führt, ein. Dort steht eine kleine Biwakschachtel für Notübernachtungen. Doch natürlich kann man sie auch so benutzen. Für drei bis vier Personen bietet sie Schlafraum. Meist übernachten wir unter freiem Himmel. Doch da ein kalter Wind weht und es nur wenig über null Grad ist, ziehen wir uns nach einem schönen Sonnenuntergang in die Wärme der Hütte zurück.
Eigentlich wollen wir wie immer am frühen Morgen starten. Doch ein Blick aus der Tür zeigt ein dichtes Nebelgrau mit nur wenigen Metern Sichtweite. Also noch einmal rumgedreht. Zwei Stunden später, gegen Acht, wird es dann zumindest etwas lichter. Da wir an diesem Tag einen langen Weg vor uns haben, packen wir unsere Siebensachen zusammen und steigen in den nahen Klettersteig ein.
Der geht sogleich deftig los. An fast senkrechter Felswand, zwischendurch eine waagerechte Passage, führt das Drahtseil, an dem wir uns sichern, in die Höhe. Dieses Fixseil ist auch notwendig, gibt es doch an manchen Passagen weder Griffe im Fels noch Tritte, so dass mit den Schuhsohlen auf Reibung geklettert werden muss. Mit Armkraft darf dabei am Seil entlanggehangelt werden. Doch dann haben wir die Schlüsselstelle, die gleich zu Anfang kommt, hinter uns. Aber es bleibt weiterhin schwieriges Gelände. Oft senkrecht und manchmal über glatte Platten. Mal an Verschneidungen hinauf, mal durch einen Kamin. Ab und zu geht es nur mit Hilfe von Eisenklammern oder –stiften weiter. Dabei ist der Fels meist stark ausgesetzt, so dass es unter unseren Stiefeln tief hinunter geht. Aber gerade das hat natürlich seinen Reiz. Wer diesen Klettersteig machen möchte, der hat es hier mit dem Schwierigkeitsgrad D/E zu tun. Das bedeutet, dass der Steig sehr schwierig bis extrem schwierig ist. Aber es gibt Sportklettersteige, die noch anspruchsvoller sind, die auch an überhängenden Wänden entlangführen. Für mich reicht dieses hier allerdings vollkommen aus, kostet es doch Anstrengung genug.
Doch dann haben wir nach viereinhalb Stunden und knapp 500 Höhenmetern die Kletterei geschafft. Wir stehen auf dem Gipfel der Fanisspitze, 2980 Meter hoch. Und natürlich ist die Aussicht fantastisch. Ein großer Teil der bekannten Dolomitengipfel liegt im Blickfeld. Die drei Tofanegipfel, Monte Cristallo, Antelao, Monte Pelmo, Civetta, Sella, Marmolada und andere. Das ist eine eindrucksvolle Szenerie markanter Felsgipfel, die sich aus grünen Tälern himmelhoch erheben. Einzig und allein die Marmolada mit ihrem leider abschmelzenden Gletscher an der Nordflanke sticht daraus hervor. Alle anderen Gipfel sind zu steil, als das sich an ihren Flanken Gletscher bilden könnten. Und alle sind auf ihre Art reizvoll und möchten umwandert oder erklommen werden. Es gibt so viele attraktive Ziele, egal was und wo auch immer, für die ein einziges Leben nicht ausreicht. Aber wenn man dann doch ab und zu mal eines davon verwirklichen kann, dann macht es das Leben bedeutend lebenswerter. Deswegen zieht es uns auch immer wieder in die Natur und besonders in die Berge. Und wenn es dabei etwas abenteuerlich zugeht, dann ist es für uns doppelt schön.
Lieber Kurt, mit Begeisterung lese ich Deinen mich wieder faszinierenden Bericht mit großartigen Bildern von den Dolomiten! Wie wunderbar, dass Du Deine Leserinnen an Kletter- und Höhenerlebnissen mit Deinem Sohn teilhaben lässt.
Sei herzlich gegrüßt, Kirsten