Vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg – Historische Fotos, in Russland aufgenommen, erinnern an einen Krieg einer neuen Dimension
Am 11.11.1918 elfeinviertel Uhr mittags kam der Befehl, dass von elfdreiviertel Uhr Waffenstillstand sei. Vom 12.11. ab Räumung des besetzten Gebietes und Rückmarsch durch Luxemburg über Trier, den Hunsrück, Richtung Oppenheim. Am 4.12. bei Nierstein den Rhein überschritten und am 12.12. von Höchst nach Blankenburg entlassen. Am 21.12. reiste ich allein nach Villing, um mich bei der Zollverwaltung wieder beim Dienst zu melden. Weil Mama, Kurtchen und Otti nicht mitreisen konnten, feierten wir schon am 20. das liebe Weihnachtsfest.
Das sind die Worte meines Großvaters Otto Wolter, die er in seinen Kriegsaufzeichnungen kurz und trocken aufgeschrieben hat. Im Alter von 36 Jahren war er am 21.11.1916 zum Landwehrinfanterieregiment 84 als Reservist nach Hadersleben zum Kriegsdienst eingezogen worden, hatte so die zweite Hälfte des Krieges an der Westfront miterlebt. Er war bei den Stellungskämpfen bei Cheriese bei Arras, am Wytscheltebogen und bei Flabas, nördlich von Verdun, dabei.
Er hat Glück gehabt, denn er hat den Krieg trotz schwerer Verletzung überlebt. So schreibt er: Am 3. August 1917, zwei Uhr nachts, durch drei Maschinengewehrschüsse durch den linken Oberschenkel verwundet. Von 3. bis 18.8. im Feldlazarett gelegen. Vom 18. bis 31.8. Lazarettzug nach Deutschland. Vom 24.8. bis 24.10. Lazarett Wolfsanger bei Kassel. Vom 25.10.1917 bis 6.3.1918 Lazarett Fürstenhof in Blankenburg.
Die Verletzung musste also schwer gewesen sein, war er doch immerhin acht Monate im Lazarett. Doch dann wurde er wieder eingezogen. Und er zeigte uns Enkelkindern in den Fünfzigerjahren weitere Verletzungen, die ebenfalls schwer gewesen sein müssen. Im Hals-Nackenbereich hatte er tiefe Narben. Wir Enkelkinder durften sie damals mit unseren Fingern befühlen und waren beeindruckt davon. Allerdings weiß ich nicht die Umstände dazu, habe ich doch als Kind nie danach gefragt. Ob er sich beim Unterkriechen von Stacheldraht verletzt haben könnte?
Doch nun war der Krieg zu Ende, und man kann sich vorstellen, wie groß die Freude im Hause Wolter war, dass Vater Otto wieder heimkehren konnte. So vielen Familien erging es anders, wie es noch heute die Kriegsdenkmäler aus dem Ersten Weltkrieg, die in jeder Stadt, in jedem Dorf zu finden sind, bezeugen. 17 Millionen Menschen waren getötet worden, eine Million verhungerte und 20 Millionen wurden verwundet. Jeder sechste deutsche Soldat musste sein Leben lassen. Und bei den anderen beteiligten Ländern wird es nicht viel anders gewesen sein. Sie fielen einem Krieg zum Opfer, der sich in einer völlig neuen Dimension abspielte. Zwar gab es schon im Deutsch-Französischen Krieg ein knappes halbes Jahrhundert zuvor moderne Feuerwaffen. Kanonen von Krupp und Maschinengewehre. Doch wurde auch noch mit herkömmlichen Waffengattungen der Infanterie und der Kavallerie gekämpft, wie z. B. beim berühmten Todesritt von Mars-la-Tour. Das war zum großen Teil noch eine Kriegsführung wie zu Zeiten Napoleons.
Doch der Erste Weltkrieg sollte die Kriegstechniken verändern. Nun kämpften Menschen an Maschinen gegen Maschinen, die von anderen Menschen bedient wurden. Das kannte man bis dahin in diesem Ausmaße nicht annähernd. Und das sorgte für die hohen Todeszahlen und ein unvorstellbares Grauen. Niemand, weder die Verantwortlichen aus Politik und Militär, noch das Volk, zu denen auch Intellektuelle und Studentenvereinigungen gehörten, noch die Soldaten selber, die mit Freude und Hurrarufen in den Kampf zogen, hatten eine Ahnung davon, was da auf sie zukommen sollte. Und gerade die jungen Männer, die sich in Scharen freiwillig zum Kriegsdienst meldeten und die eigentlich keine Soldaten waren, sondern Bürger in Uniformen, fielen in der ersten Zeit des Krieges wegen ihrer Unerfahrenheit im auch noch nicht dagewesenen Stellungskrieg in Massen.
Aber auch die Zeit nach dem Krieg war als Kriegsverlierer für die deutsche Bevölkerung alles andere als leicht. So schreibt meine Urgroßmutter Clara Voss in ihren alljährlichen Weihnachtsaufzeichnungen zumindest einige Worte zu den jeweils vorangegangenen Jahren:
1918: Welch traurige Zeit. Unser innig geliebter Otto (Sohn) starb am 30. April für das Vaterland, liegt in Frankreich begraben. Kaiser und Fürsten abgesetzt. Unser Kaiser weilt in Holland. Gott sei Dank sind Ludwig und Otto, der Schwiegersohn, zurückgekehrt. Das liebe Clärchen (Tochter und Ordensschwester) ist in Stromberg am linken Rheinufer. Von dort aus konnte sie den Kanonendonner hören, hat auch den traurigen Rückzug gesehen. Das liebe Minchen (andere Tochter) hat lange Verwundete gepflegt.
1919: Die Zeiten sind in wirtschaftlicher Beziehung schwerer geworden. Lebensmittel beinahe nicht zu bezahlen. Schwiegersohn Otto bei Riebe (Zöllner an der deutsch-dänischen Grenze) ist nach Magdeburg versetzt worden, weil das Land jetzt dänisch geworden ist.
1920: Sind immer noch schwere Zeiten. Die Feinde möchten unser Vaterland ganz vernichten, doch über dem allen steht ein Stärkerer. Er will alle durch die Not zu sich ziehen, weil auch in unserm Vaterland viel Gottlosigkeit war.
1921: Unser Vaterland wird vom Feind geknechtet, Schiffe, Gewehre sind uns genommen. Wir müssen um Aufschub der vielen Kriegsschulden bitten, ist aber bis heute noch nicht bewilligt. Die Feinde wollen unsere Steuern, Eisenbahnen, Bergwerke mit Beschlag belegen. Wovon sollen denn unsere Existenzmittel beschafft werden? Über allem steht jedoch unser Gott, er allein weiß, weshalb wir geknechtet werden, sicher, dass wir mehr seine Gebote halten sollen.
1922: Wir haben um unseren Unterhalt zu sorgen, doch verzagen wir nicht. ½ Margarine kostet jetzt 1350 Mark, ein 1900 Gramm Brot 840 Mark.
Man sieht also, dass es schwierige Zeiten waren. Und zwischen den Zeilen von Clara Voss entnimmt man ihren Worten, dass sie ihr Land - wie fast alle Menschen ihrer Zeit wohl auch - nicht als den Hauptverursacher des Krieges betrachtet hat. Für sie waren vermutlich die anderen die Schuldigen: Franzosen, Russen, Engländer und Italiener. Die Staatsführer wussten durch Propaganda das eigene Volk schon immer in die richtigen Bahnen zu lenken. So war es zu allen Zeiten.
Näher auf die Kriegsursachen und den Krieg selber möchte ich in diesem Bericht nicht eingehen. Das habe ich vor vier Jahren getan, als sich der Kriegsbeginn zum hundertsten Mal jährte (siehe Link im Anschluss). Dabei habe ich auch von der Westfront und der Alpenfront berichtet, den Fronten, an denen meine beiden Großväter zum Einsatz kamen. Doch hier soll es in Bildern einmal um die Ostfront gehen, und das hat seinen besonderen Grund.
Als wir kürzlich nach dem Tod einer entfernteren Verwandten, der Tochter eines Bruders des Großvaters meiner Frau, deren alte Fotoalben sichteten, fanden wir Fotos von deren Vater aus dem Russlandfeldzug. Da diese Verwandtschaftslinie ausgestorben ist, kann ich leider niemanden mehr dazu befragen. Immerhin tragen einige der Fotos Bildunterschriften, so dass wir sehen können, an welchen Orten in Russland sie entstanden sind. Das sind die Städte Poworsk und Kowel und vermutlich deren Umland, die heute zur Ukraine gehören. Und diese Bilder zeigen eindrucksvoll, wie einfach, aus unserer heutigen Sicht primitiv, die Menschen vor über einem Jahrhundert in den ländlichen Gebieten Russlands gelebt haben. Ihre einfachen Häuser aus Balkenwerk, die Feuerstellen und die genügsamen Einrichtungen. Wenn es auf uns heute ärmlich wirkt, so war es das doch damals nicht, sondern völlig normal. Nicht viel andere Regionen, die in Deutschland etwas abgelegen waren, wie z. B. im Emsland, habe ich doch von dort eine ähnliche Fotoserie im GEO gesehen, gab es auch bei uns. Es war zu dieser Zeit das natürliche Leben in kargen Gebieten, in denen die Menschen um ihren Lebensunterhalt ringen mussten. Jeder lange Winter, jeder trockene Sommer, konnte damals zu Hungerkatastrophen führen.
Ein anderes Bild zeigt einen langen Trauerzug, noch ein anderes zerstörte Häuser. Auch wenn es in Russland ein völlig anderer Krieg war als an der Westfront, so war er doch dort auf andere Art grausam. Besonders ein Bild dokumentiert es, dass ich, auch wenn es der eine oder andere nicht ansehen mag, nicht weglassen konnte, ist es doch ein Zeitdokument. Auch möchte ich drei Feldpostkarten zeigen, die natürlich an der Front zensiert wurden. Von den Grausamkeiten des Krieges durfte nichts geschrieben werden, sollte doch so wenig wie möglich davon in die Heimat dringen. Die Personen, um die es bei diesen Fotos geht, leben nun schon seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr. Fritz Hütte, der auf ihnen abgebildet ist, ist 1967 gestorben.
Die Bildserie gibt jedenfalls einen Eindruck davon, wie das Leben im ländlichen Russland war. Und sie zeigt die deutschen Soldaten, die sich mit Land und Leuten auf irgendeine Art arrangieren mussten, in einem Krieg, der, wie schon gesagt, ganz anders war als an der Westfront. In Russland, wo die Mittelmächte Deutschland und Österreich gegen Russland kämpften, gab es keine festgefahrenen Stellungskämpfe. Dort waren Kriegsverschiebungen die Normalität. Als dann 1916 Rumänien in den Krieg mit eingriff, verlief die Front vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Entscheidend für den Kriegsausgang an der Ostfront war aber auch die Unterstützung Deutschlands der Bolschiwiki unter Lenin, die 1917 zur Oktoberrevolution führte. Und so kam es danach, dass Deutschland-Österreich mit Druck auf die Revolutionäre den erzwungenen Frieden von Brest-Litowsk herbeiführen konnte. Die Ostfront war Geschichte.
Doch dann machte die deutsche Kriegsführung einen gravierenden Fehler. Statt die Truppen aus dem Osten abzuziehen, um sie an der Westfront einsetzen zu können, beließen sie den Großteil von ihnen für eine spätere deutsche Besiedlung in Russland. Das sollte sich, neben anderen schwerwiegenden Fehlern, die zuvor geschehen waren, rächen und zum bekannten Ausgang des Krieges führen, der dann am 11. November 1918 mit dem Waffenstillstand endete. Deutschland wurde zum Kriegsverlierer erklärt und musste damit die äußerst schweren Reparationslasten tragen. Das war auch eine der Hauptursachen, die den Boden für den nächsten Weltkrieg bereiten sollten. Und der sollte den ersten, auf Grund weiter entwickelter Waffen, an Größe noch weit übertreffen. Am Ende waren es geschätzt um die 75 bis 80 Millionen Menschen, die bis 1945 durch beide Kriege und menschliche Unvernunft den Tod fanden.
Siehe auch:
- Vor 100 Jahren begann der 1. Weltkrieg - Zwischen dem Ortler und dem Isonzo wurde ein erbitterter Hochgebirgskrieg geführt
- Vor 66 Jahren endete der 2. Weltkrieg. Was erinnert heute in Hannover noch daran? - Eine Spurensuche
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am 11.11.2018
um 21:27
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