Reif für die Insel - Einmal im Leben Robinson Crusoe sein, wer träumt nicht davon
Welcher Junge – und vielleicht auch so manches Mädchen - hat in seiner Jugendzeit nicht die spannende Geschichte von Robinson Crusoe gelesen, die Daniel Defoe als Roman vor 300 Jahren zu Papier gebracht hat. Inspiriert dazu wurde er vermutlich durch die tatsächliche Geschichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk, der nach dem Streit mit dem Käpt´n eines Kaperschiffes auf einer einsamen Insel im Pazifik vor der Küste Südamerikas ausgesetzt wurde. Über vier lange Jahre musste dieser dort allein ausharren, ehe er gerettet wurde.
Defoe ließ seinen Romanhelden Robinson, der als einziger einen Schiffbruch überlebte und an einem einsamen Strand angespült wurde, jedoch ganze 28 Jahre auf einer Insel. Allerdings nicht ganz allein. Er stellte ihm einen treuen Hund zur Seite. Und als er schließlich nach vielen Jahren den ersten Menschen begegnete, die an einem Freitag an seinem Eiland landeten, war er alles andere als begeistert davon. Das waren nämlich Kannibalen, und in einem Kochtopf wollte er nun wirklich nicht landen. Doch diesen ungehobelten Kerlen, die bei ihm für weiche Knie sorgten, konnte ein Essen auf zwei Beinen entkommen. Und so bekam Robinson einen menschlichen Freund, dem er nach diesem Wochentag einen Namen gab. Damit wurde das Leben für ihn erträglicher. Wir kennen das ja auch aus dem Film Cast Away, in dem sich Tom Hanks als Partner mit dem er reden konnte einen Basketball aussuchte, den er Wilson nannte. Das machte alles etwas einfacher für ihn, auch wenn der nicht antworten konnte.
Wie fasziniert war ich früher jedenfalls von dieser Robinsonade. Mehrere Male habe ich das Buch damals verschlungen. Und auch ich träumte in meiner jugendlichen Begeisterung davon, einmal völlig allein auf einem einsamen tropischen Eiland zu leben, weitab von jeder Zivilisation. Es mussten ja nicht gleich 28 Jahre sein. Eine kurze Zeit hätte mir schon vollkommen ausgereicht. Manch anderem Leser mochte es damals auch so gehen. Und vielleicht wünschen sich ja sogar die meisten Menschen irgendwann einmal in ihrem Leben vorübergehend in einer solchen Situation zu sein. Nämlich dann, wenn das alltägliche Einerlei und der Druck der Zivilisation nerven, was ja immer mal vorkommen kann. Gerade in der heutigen hektischen Zeit sind nicht wenige reif für die Insel.
Doch manchmal werden Träume tatsächlich wahr. Und wenn die passende Gelegenheit dazu kommt, dann sollte man sie beim Schopfe fassen. Und das tat ich, wenn auch nicht ganz allein, und auch wirklich nur für eine ganz kurze Zeitspanne.
Es war 1985, als wir auf der Insel Sri Lanka, die wir damals noch Ceylon nannten, Urlaub machten. Und dort in Beruwala waren die Strände schon ein wenig so, wie man sich einen Robinson-Strand vorstellt. Jede Menge weißer Sand, dahinter Kokospalmen, ein vorgelagertes Korallenriff und dazu viel blaues Meer. Doch Robinson war auf seiner Insel allein, und das waren wir natürlich nicht, auch wenn der Strand nur von wenigen Menschen bevölkert war. Und natürlich hatte man wegen der Größe dieser wunderschönen Tropeninsel nicht das Gefühl auf einer solchen zu sein.
Aber sofort bei der Ankunft an diesem schönen Fleckchen Erde stach mir etwas ins Auge. Das waren zwei kleine, vorgelagerte Inseln. Die eine lag ein Stück draußen, bestand aus wildem Felsgeklüft und war mit einigen wenigen Palmen bestückt. Die andere jedoch war etwas größer, etwa 400 Meter lang. Über ihren felsigen Ufern breitete sich ein dichtes, exotisches Dickicht mit vielen Palmen aus. Nun lag diese unbewohnte Insel zwar keine 200 Meter vom Ufer entfernt. Aber wie wir erfuhren, war sie durch Schwimmen doch nicht erreichbar. Eine aus der nahen Mangroven-Lagune kommende starke Strömung mit Strudeln führte zwischen ihr und dem Ufer entlang.
Bei diesem schönen Anblick nun kam mir nicht nur Harry Belafontes "Island in the sun" in den Sinn, sondern es spukte mir natürlich erst recht die Geschichte von Daniel Defoe durch den Kopf, und mir war sofort klar, dass wir dort rüber mussten. Einmal für einen Tag Robinson sein, das musste sich doch irgendwie machen lassen. Dieses paradiesisch wirkende Eiland wartete doch nur darauf, von uns erkundet zu werden.
Also Einheimische gefragt, ob sie uns mit ihrem Katamaran auf die Kokosinsel – so hieß sie zwar nicht, doch ich hatte sie so getauft – hinüberbringen könnten. Sie waren bereit.
Am nächsten Morgen trafen wir uns mit Sisira und Kaju unter Palmen am Strand, schoben den schweren Katamaran, mit dem sonst Touristen zur Waran-Beobachtung in den Mangrovensumpf gefahren wurden, ins fast 30 Grad warme Wasser und schaukelten kurz darauf über die seichten Wellen des Indischen Ozeans. Schnell erreichten wir die starke Strömung, die uns ins Meer hinausziehen wollte. Die beiden dunkelhäutigen Singhalesen mussten ihre ganze Kraft und Geschicklichkeit einsetzen, um den Katamaran beim Paddeln am Rande dieser Strömung zu halten. Vorbei ging es an einigen großen Wirbeln, in denen alte Kokosnüsse unaufhörlich ihre Kreise zogen. Dann kamen wir in ruhigeres Fahrwasser und steuerten auf die Insel zu, die sich vor uns paradiesisch aus dem Meer erhob, einer wahren Robinsoninsel gleich. Braune Felsen türmten sich bis zu einer Höhe von etwa 20 Metern auf. Darüber grünes Buschdickicht, aus dem sich schlanke Kokospalmen in den blauen Himmel reckten und der Insel eines kühnes, abenteuerliches Aussehen verliehen. Auf einem hervorstehenden Felsen sahen wir einen kleinen, weißen Rundtempel, eine buddhistische Dagoba.
Das kleine Heiligtum wird nur selten besucht, sagte Sisira. Sonst kommen keine Menschen auf die Insel. Nur früher einmal habe ein einsamer Mönch darauf gelebt. Die Ruine seines Hauses stehe noch irgendwo im Dickicht. Und andere Lebewesen würden uns sicher aus dem Wege gehen. Die Stachelschweine lassen sich erst in der Dämmerung blicken, so Sisira. Und unsere Frage, ob es denn dort Schlangen gäbe, konnte er nicht so genau beantworten. Aber für ihn waren diese langen Schuppentiere eben etwas ganz Gewöhnliches. Für uns allerdings nicht, auch wenn in unserer kleinen Hotelanlage als Haustier neben einem Mungo eine schwarze Rattenschlange lebte, die wir schon zu Gesicht bekommen hatten. Beide Tiere respektierten sich übrigens und gingen sich aus dem Weg. Nicht so wie in Rudyard Kiplings Geschichte "Rikki Tikki Tavi".
Das war es also, was ich mir erträumt hatte, wenn auch unsere Gefühle hinsichtlich der Schlangen und eventuellen anderen Getiers etwas gemischt waren.
Im ruhigen Wasser hinter dem Riff konnten wir an den Uferfelsen anlegen. Über einen waagerechten Palmenstamm balancierend, darauf bedacht, wegen der Fotoausrüstung nicht ins Wasser zu fallen, erreichten wir eine Treppe. Die war wohl vor undenklichen Zeiten einmal in den Fels gemeißelt worden. Während wir die Stufen erstiegen, hatten die beiden Ceylonesen schon wieder abgelegt, mit dem Versprechen, uns am späten Nachmittag auch wirklich wieder abzuholen.
Oben angekommen tat sich vor uns ein kleiner Pfad auf, der in das Dickicht der Insel führte. Natürlich kannten wir die meisten Pflanzen dieser grünen Üppigkeit nicht. Zu denen, die wir bestimmen konnten, gehörten die Tempelsträucher mit ihren großen weißen Blüten. Natürlich die Kokospalmen mit ihren schlanken Stämmen und eine Unzahl von wilden Ananasgewächsen, die einen Großteil der Insel dichtwuchernd bedeckten. Ihre Verästelungen waren stachlig, ihre Kronen fielen fächerartig in vielen Blättern herunter, und an ihren Zweigen hingen die roten Ananasfrüchte. Wir kamen uns sogleich wie im Paradies vor.
An der gegenüberliegenden Luvseite der Insel war das Wasser nicht ruhig. Die Felsen waren von der anrollenden Brandung rundgeschliffen. Sie umgaben fast die gesamte Insel und bildeten so einen natürlichen Schutzwall. Die Gischt einiger Brecher spritzte bis zu uns herauf und lief dann über die Felsen wieder ins Meer zurück. Es war ein stetiger Angriff der Wellen auf die Insel, die sich wie eine Festung aus der Brandung erhob.
Auf den kleineren vorgelagerten Felsen sahen wir Hunderte von Krabben. Sie lebten in dieser Gezeitenzone teils unter Wasser, teils an Land. Ohne Unterlass wurden sie von den Wellen überrollt, konnten aber trotzdem ihre Stellung am Felsen halten, obwohl das Wasser mit großer Kraft an ihnen riss und sog.
Als wir später auf das Meer hinausschauten, erkannten wir zwischen den Wellenbergen die dunklen Köpfe von Riesenschildkröten. Sie leben hauptsächlich unter Wasser, müssen aber zum Luftholen nach oben kommen. Leider zeigten sie nicht ihre mächtigen Panzer. Mehrere Zentner können diese urzeitlichen Tiere schwer werden.
Noch beeindruckt davon, folgten wir dem wilden Uferabschnitt, um das zum Meer hin weisende Ende der Insel zu erreichen. Mal kletterten wir über Felsen, mal kämpften wir uns durch dichtes Buschwerk, mal mussten wir eine kleine Schlucht durchqueren. Schließlich erreichten wir das Ende des Eilandes, das von einer steil nach unten abfallenden Felswand begrenzt wurde. Dort ließen wir uns nieder und schauten aufs weite Meer hinaus. Aus dem Urwald hinter uns hörten wir die Rufe verschiedener Vögel. Vor uns brandete das Meer gegen vorgelagerte Felsen, an denen es sich brach. Dahinter kein Land mehr soweit das Auge reichte. Erst nach einigen tausenden Kilometern erreichte die Wasserfläche den afrikanischen Kontinent. In südlicher Richtung war das nächste Land noch weiter entfernt. Doch dort in 8.000 Kilometern Entfernung schlugen die Wellen gegen Eisbarrieren, gegen die der Antarktis. Zwar hätten auch wir uns etwas mehr Kühle gewünscht, aber wir saßen hier nun bei hohen Temperaturen und extremer Luftfeuchtigkeit zwischen Ananasgestrüpp und unter Palmen, unter deren fächerartigen Wedeln verlockende Kokosnüsse hingen. Mein Versuch durch Klettern daran zu kommen, scheiterte allerdings kläglich. Auch das Abwerfen mit großen Steinen klappte nicht, hingen sie doch zu fest am Stamm. Das Leben als Robinson ist eben doch nicht so einfach, wie man es sich vielleicht vorstellt. Und die wilden Ananasfrüchte waren nicht essbar. Also mussten wir, nicht ganz stilecht, unsere mitgebrachten Sandviches verzehren.
Auf diese Art also verging unser Robinsonleben wie im Fluge, und die Sonne neigte sich bereits dem Horizont entgegen, was in den Tropen recht früh geschieht, als wir uns auf den nicht langen Rückweg zur Landestelle machten. Einmal mussten wir auf einem dicken Baumstamm balancieren, der waagerecht über eine Schlucht gewachsen war. Von seinem Stamm strebten überall Luftwurzeln nach unten, die sich in den Boden der Schlucht bohrten. Als dabei rote Riesenameisen an unseren Beinen hochkrabbelten, forcierten wir unsere Schritte. An einer anderen Stelle sahen wir die Mauerreste eines Hauses. Dort musste einmal der Mönch gelebt haben. Nebenan befand sich eine kleine Quelle, aus der klares Wasser sprudelte.
Als wir den Anleger erreichten, sahen wir schon den Katamaran, der auf uns zusteuerte. Die beiden Singhalesen hatten uns nicht vergessen, und unser Alleinsein auf der Kokosinsel und unsere kurze Robinsonade war damit beendet.
Und im Gegensatz zu mir war es für Sisira kein Problem, an die Kokosnüsse zu kommen. Wie ein Affe kletterte er den Stamm hinauf und warf die runden, grünen Früchte herunter. Nachdem er sie mit einer Machete geöffnete hatte, reichte er sie uns. Die süße Flüssigkeit schmeckte köstlich, auch das weiße Fruchtfleisch.
Zum Abschluss noch ein Bad im warmen Meer. Kaju meinte, dass wir das bedenkenlos machen könnten, da sich die Haie meist auf der anderen Seite des Riffes aufhalten. Das war uns auch ganz recht so, denn ihre Reihen von messerscharfen Zähnen hatten wir am Vortag bewundert, als die Fischer in der Morgendämmerung vom Fang zurückkamen und ihre reichliche Beute am Strand der Bucht fein säuberlich im Sand ausgebreitet hatten.
Danach griffen die beiden Ceylonesen zu ihren Paddeln, und es ging zum gegenüberliegenden Ufer der großen Insel zurück.
Es war ein eindrucksvoller Tag gewesen. Einmal im Leben Robinson sein, dieser Wunsch war für mich nun in Erfüllung gegangen. Auch meiner Frau hatte es gefallen. Zwar war sie nicht so sehr für Abenteuerliches zu haben, auch wenn sie damals noch das eine oder andere mit mir mitmachte. Aber sie interessiert sich doch sehr für sämtliche Pflanzenwelten, von denen es auf diesem Eiland mehr als genug gab.
Und als wir dann wieder zu Hause im kalten Deutschland waren, holte ich das verstaubte Buch von Defoe aus dem Keller, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr angerührt hatte und las noch einmal, wie es der Romanfigur Robinson in seinen 28 Inseljahren ergangen war. Und eigentlich ist so ein Inselleben eine tolle Sache. Allerdings nur dann, wenn es nicht allzu lange dauert.
Für mich ein echtes "Highlight"
AYUBOWAN