Die notwendige Wiederentdeckung der vergessenen Barmherzigkeit

Darstellung des barmherzigen Samariter an der Fonte di Gaya auf der Piazza del Campo in Siena
  • Darstellung des barmherzigen Samariter an der Fonte di Gaya auf der Piazza del Campo in Siena
  • hochgeladen von Manfred Hermanns

Vergessene Barmherzigkeit

Barmherzigkeit galt lange als ein unmoderner und obsoleter Begriff. Er schien nicht mehr in unser Denken und Empfinden zu passen. Er ist weithin aus unserer Alltagssprache verschwunden. Brauchen wir Barmherzigkeit nicht mehr in unseren hochtechnisierten und voll funktionsfähigen Krankenhäusern? Hat Barmherzigkeit noch einen legitimen Platz im Sozialamt oder gar im Jugendamt? Haben sich nicht selbst die Mitarbeiter des katholischen Caritasverbandes und der evangelischen Diakonie angewöhnt, darauf zu pochen, dass sie professionalisierte Sozialarbeit leisten? Es ist geradezu bezeichnend, dass in heutigen Fachlexika der sozialen Arbeit der Begriff Barmherzigkeit fehlt. Wird sich das im Jahr der Barmherzigkeit ändern, das Papst Franziskus ausgerufen hat?

Alles machbar durch den Sozialstaat?

Der Sozialstaat ist durch das sozialpolitische Engagement eine Selbstverständlichkeit geworden. Darauf möchte keiner verzichten. Der Bürger kann sich weithin darauf verlassen, dass er normalerweise nicht unter das soziale Existenzminimum fallen kann. Ein ausgebautes Netz der sozialen Sicherung fängt ihn bei den Risiken des Lebens, bei Alter und Invalidität, bei Krankheit und Unfall, bei Arbeitslosigkeit und Mutterschaft auf. Wenn trotzdem Not entsteht, dann muss, so wird gefolgert, eine Lücke in der Sozialgesetzgebung bestehen, die baldigst zu schließen ist. Alles scheint durch den Sozialstaat machbar und regelbar. Das hat auch seine Schattenseiten. Das führt oft nicht nur zu einem überzogenen Anspruchsdenken, sondern noch mehr zur Blindheit vor den Problemen der Mitmenschen. Der Sozialstaat kann, wenn er perfektioniert gedacht ist, die soziale Verantwortung der Mitmenschen aufheben oder stark einschränken.

Ohne Barmherzigkeit geht die motivationale Grundlage für die Sozialgesetzgebung verloren. Ohne sie werden oft neue Notlagen überhaupt nicht entdeckt. Die moderne Sichtweise gerät in die Einseitigkeit. Das Zuständigkeitsdenken verstellt uns den Blick für viele Notlagen.

Übersehene Not und übersehenes Leid

Auch wenn das „soziale Netz“ die größte Not in Deutschland und Mitteleuropa auffängt, gibt es viele, die durch dessen Machen fallen. Soweit es die finanzielle Armut betrifft, sind nur die „behördlich erfassten Fälle“ in die Sozialhilfe eingebunden. Die Vielen, die um ihre Anspruchsrechte nicht wissen oder die aus Scham oder Unvermögen, sich mit den Behörden auseinanderzusetzen, leer ausgehen, bleiben oft unbemerkt (verdeckte Armut). Barmherzigkeit muss eine neue Form der Wahrnehmung erschließen.

Hier einige Beispiele für übersehene Not

- Anstieg der Selbsttötungsversuche bei 15-19jährigen und bei über 85jährigen.
- jährliche Selbsttötungsrate von mehr als 10 000 Menschen im gesamten Deutschland,
- verbreitete Gefühle der Einsamkeit und Langeweile,
- zunehmende Scheidungsrate mit vielfältigen psychischen Folgen für die scheidungsbetroffenen Kinder,
- sexueller Missbrauch,
- 7,5 Millionen schwer behinderte Mitbürger im gesamten Bundesgebiet, davon 24 % mit einem Behinderungsgrad von 100 %,
- 400 000 Mitbürger leiden an Esssucht oder Magersucht und 800 000 an Medikamentenmissbruch,
- mehr als 2 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig.

Viele dieser Notlagen sind geistig - seelischer Art. Sie betreffen den ganzen Menschen. Zwar gibt es auch für diese Notfälle helfende Organisationen, aber der Gesetzgeber hat sich auf die finanziellen Notlagen konzentriert, die gewissermaßen leichter zu beheben sind, da sie nicht im gleichen Maße die personale Begegnung, den einfühlsamen Rat, die mitgehende Betreuung verlangen. Hier ist die Motivation der Barmherzigkeit gefordert, die diese seelischen Notlagen oft zuerst zu entdecken vermag und die Langmut seelischer Begleitung aufbringt.

Liebe und Barmherzigkeit tragen wesentlich menschlich-persönliche Züge. Zwischen dem Helfenden und Bedrängten soll und kann eine personale Begegnung stattfinden.

Neue Sicht der Barmherzigkeit für die Gegenwart

Das vielfältige Leid, von dem die genannten Beispiele Zeugnis geben, zeigt sich in unseren Familien, unserer Verwandtschaft, unserem Bekannten- und Freundeskreis, unserer Nachbarschaft, unserer Kollegenschaft. Viele mögen gerade von Verwandten, Freunden, Kollegen keine Hilfe annehmen, lieber von anonymen Institutionen. Haben wir Angst, dass gezeigte Schwäche gerade von den Nächsten ausgenutzt wird?

Dennoch spüren wir, dass wir mit unserem Zuständigkeitsdenken in eine Sackgasse geraten. Wir gelangen an die Grenze der Verrechtlichung, Rationalisierung, Professionalisierung unserer Lebenswelten, nicht primär und allein weil der Sozialstaat an seine Grenzen stößt, weil die Sozialausgaben der öffentlichen Instanzen prozentual kaum mehr erhöht werden können. Nach freiheitlicher Staatsauffassung gibt es keine Allzuständigkeit des Staates. Der Staat muss sich auf seine notwendigen Rahmen-, Koordinierungs- und Ergänzungsfunktionen beschränken. Der Staat ist zu einer ergänzenden Tätigkeit nur dann berufen, wenn die Kräfte der Individuen und der kleineren Gemeinschaften wie insbesondere der Familie nicht ausreichen. Er darf die Eigenverantwortlichkeit der Bürger nicht einschränken. Der perfekte Sozialstaat kann den ganzen Menschen und sein „Elend“ nicht erreichen.

Viele Nöte haben außer ihrer materiell - finanziellen Dimension, die primär Gegenstand der Sozialpolitik ist, auch eine seelische Dimension, die der soziale Gesetzgeber nur begrenzt gestalten kann. Der Sozialstaat kann nicht für alle Belange des Menschen kompetent und zuständig sein. Geistig-seelische Nöte, die in unserer Gesellschaft zunehmenden Probleme der Sinnlehre und Sinnentfremdung, die belastenden Konflikte in den zwischenmenschlichen Beziehungen können nur von einer Sozialarbeit und Diakonie, sei es beruflich oder nicht beruflich, organisationsgebunden oder nicht, erfasst werden, die den notleidenden Menschen in seiner gesamten leiblich-geistig-seelischen Dimension im Blick haben und sich ihm barmherzig erweisen.

Barmherzigkeit setzt Wahrnehmung der Person in ihrer Ganzheitlichkeit voraus, nicht allein als Suizidgefährdeter, Tablettensüchtiger oder Alkoholkranker. Der ganze Mensch ist krank und gefährdet. Gesetze, die Kompetenzen regeln, müssen genaue Kriterien zur Abgrenzung des jeweils zu erfassenden Personkreises angeben. Barmherzigkeit wird eingeschränkt, wenn sie erst nachforscht, prüft, abcheckt, inspiziert, kontrolliert. Barmherzigkeit ist nicht ausschließlich rational, sie erfasst intuitiv, begreift den ganzen Menschen in seinem Leid, lässt sich von diesem Leid anrühren, betroffen machen. Barmherzigkeit ist offen für Empathie, die Sympathie übersteigt. Gerade daran mangelt es oft in den ausschließlich naturwissenschaftlich medizinisch und vorwiegend nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten konzipierten Krankenhäusern.

Barmherzigkeit darf nicht nicht demütigen und verletzen. Wer Barmherzigkeit übt, muss sich bewusst bleiben, dass er selbst auf Barmherzigkeit angewiesen bleibt. Barmherzigkeit kann ausgenutzt, verzweckt, missbraucht werden, aber wie so oft, Missbrauch hebt den gerechten Gebrauch nicht auf. Wenn wir keine Barmherzigkeit pflegen, stirbt in uns eine Seite des Menschseins ab, werden wir taub gegenüber dem Leid von Menschen. Wir verarmen geistig und seelisch, wenn wir unsere Beziehungs- und Lebenswelten weiter aufteilen und zersplittern, wenn wir ausschließlich in Positionen, Rollen, Merkmalen, Kategorien, Sozialdaten, Kompetenzen, Funktionen denken und den Menschen als Person mit Fleisch und Blut, mit Herz, Seele und Verstand nicht mehr wahrnehmen.

Barmherzigkeit Quellgrund der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit, die einforderbar und einklagbar ist, ist die tragende Grundlage der Sozialpolitik. Zunächst muss dem Menschen das gegeben werden, was ihm zukommt, worauf er einen Rechtsanspruch hat. Gerechtigkeit ist die Voraussetzung der Barmherzigkeit als Ausdruck der Liebe. Aber Gerechtigkeit ohne den Quellgrund der Barmherzigkeit entbehrt ihrer Wurzel. Wie eine Pflanze ohne Wurzel auf die Dauer abstirbt, so auch die Gerechtigkeit. Die Erfahrung lehrt, wie die Enzyklika „Dives in misericordia“ sagt, „dass die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja zur Verneinung und Vernichtung ihrer selbst führen kann, wenn nicht einer tieferen Kraft - der Liebe - die Möglichkeit geboten wird, das menschliche Leben in seinen verschiedenen Beziehungen zu prägen“ (Nr. 12). Barmherzigkeit ist die „tiefste Quelle der Gerechtigkeit“ (ebd.).

Wenn auf die Grenze des Rechts hingewiesen wird, geht es nicht darum, diese zu schmälern, sondern die Lebensgrundlage des Rechts und der Gerechtigkeit zu verlebendigen. Der Sozialstaat bedarf der erneuernden Impulse aus dem Geist der Barmherzigkeit. Ohne die offene, sich erbarmende Sicht vom leidenden Menschen, das Sich-anrühren-lassen von seinem Leid lassen sich neue Felder des Rechts und der Gerechtigkeit gar nicht entdecken. Barmherzigkeit im freien gesellschaftlichen Raum hat bahnbrechende und pfadfinderische Funktion für eine dynamische Sozialpolitik.

Barmherzigkeit betritt Neuland. Sie muss mitunter Strukturen aufbrechen, die sich verfestigt haben. Barmherzigkeit macht Fehlentwicklungen in den gesellschaftlichen Strukturen sichtbar und durchbricht so den Teufelskreis der Not. Barmherzigkeit, die jeweils neue Not aufspürt, bleibt unruhig, ein solidarisches Widerlager, verbunden mit einem prophetischen Auftrag der Kritik in Worten und Taten.

Bürgerreporter:in:

Manfred Hermanns aus Hamburg

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