"Prosit Neujahr!" - Wiedersehen in einem Hamburger Einkaufszentrum

"Hallo Kurt!", rief er. Der Mann, der ihm entgegen kam, hatte ihn, offenbar in Gedanken versunken, nicht wahrgenommen.

"Mensch Heinz!" entgegnete der. "Wie kommst du in unser Einkaufscenter?"

"Ich wohne hier seit einem Vierteljahr. Es sind nur zehn Minuten zu Fuß."

Kurt lächelte. "Willkommen in unserem Stadtteil! - Willst du auch einen Gutschein einlösen?" Er schlenkerte die große Plastiktüte. "Ein Weihnachtsgutschein von meiner Frau. Ich brauchte unbedingt einen neuen Jogginganzug."

"Ja, es ist ein Gutschein für ein Buch. Aber es hat keine Eile! - Kann ich dich zum Kaffee einladen?"

"Das ist eine gute Idee!", stimmte Kurt zu, "wo wir uns so lange nicht gesehen haben.
Wann war unser Klassentreffen, ist es drei oder schon vier Jahre her?"

"Das war vor drei Jahren", antwortete Heinz und besorgte zwei Becher Kaffee.
Sie nahmen an einem Tisch Platz.

Kurt betrachtete Heinz lächelnd und fragte dann: "Was willst du mit einem Buch? Vor fünfzig Jahren, als wir nebeneinander auf der Schulbank saßen, hattest du doch immer Probleme mit dem Lesen!"

"Daran kannst du dich erinnern? Ja, gerade deswegen habe ich immer geübt. Ich kann jetzt schon das Alphabet rückwärts aufsagen!" Sie mussten beide lachen.

"Aber jetzt Spaß beiseite!", sagte Kurt. "Wie ist es dir seitdem ergangen? Hat sich was verändert?"

"Ja, wie gesagt, ich bin umgezogen und wohne jetzt bei meiner Freundin."

"Bei deiner Freundin?"

"Ja, meine Frau hat sich von mir getrennt."

"Ziemlich mutig von ihr, in eurem Alter!"

Heinz ging nicht darauf ein und fragte: "Und bei euch? Alles beim Alten?"

"Unser Jüngster ist jetzt ausgezogen. Helga und ich befürchteten schon, dass er das "Hotel Mama" nie verlassen würde."

Heinz lächelte. "Damit hatten wir keine Probleme. Unsere Tochter ist schon mit achtzehn ausgezogen."

Jetzt wird es Politisch

Sie schwiegen einen Augenblick, bevor Heinz fragte: "Was hältst du von unserer Flüchtlingspolitik?"

"Oh, das ist ein heißes Eisen!" Kurt nahm erst mal einen Schluck Kaffee.
"Nach den Übergriffen ist unsere Bevölkerung zweigeteilt. Zu welcher Gruppe gehörts du denn? Bist du der Gutmensch, der die Willkommenskultur unterstützt oder bist du für bewachte Grenzen?"

"Weder noch!" antwortet Heinz. "Da muss man differenzieren! Übrigens ist
'Gutmensch' das Unwort des letzten Jahres geworden."

Kurt nickte. "Ja, man kann seine Meinung nur noch hinter der vorgehaltenen Hand sagen, sonst wird man gleich in die rechte Ecke gestellt!"

"Was heißt 'man' ? Du auch?"

"Ja, aber nicht bei dir! Wir kennen uns ja schon so lange. Für mich ist die Merkel vollkommen durchgeknallt!"

Heinz widersprach. "Ja, wir kennen uns schon lange, aber nicht so genau! Ich sehe das nämlich anders!"

Kurt stand auf. "Ich hol uns noch einen Kaffee, dann können wir weiter diskutieren."
Er kam mit einem Tablett zurück, auf dem auch zwei Gläser mit Weinbrand standen.
"Wir müssen noch auf das neue Jahr anstoßen. Also Prost Neujahr!"

"Ja, Prosit Neujahr, Kurt!"

"Wie siehst du das denn?" nahm der das Gespräch wieder auf.

Humanität oder Populismus?

"Du hast doch bestimmt auch gesehen, wie Frau Merkel von einem Flüchtlingsmädchen um Asyl für sich und ihre Familie gebeten und von ihr ziemlich kühl mit Allgemeinfloskeln abgespeist wurde. Das hat der Kanzlerin viel Kritik eingebracht. Nun hat sie Menschlichkeit gezeigt und wird von der anderen Seite beschimpft!"

"Ja, und mit Recht! Ich kann nicht aus Populismus ein paar Wochen später einen Flüchtling umarmen und alle einladen!"

"Das war kein Populismus, das war Menschlichkeit! Sie ist doch eine Pastorentochter!"

Kurt lachte. " Das besagt gar nichts! Die Pfaffen haben auch Waffen gesegnet!"

"Dass so viele zu uns wollen, hat sie nicht erwartet. Außerdem hat sie mit Solidarität anderer EU-Länder gerechnet, die nur wenige oder gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen."

"Denn muss sie jetzt den Mut haben, ihren Fehler einzugestehen. Nur mit 'Besen, Besen seids gewesen' ist es nicht getan! 'Wir schaffen das!' nehmen ihr ja nicht mal ihre Parteimitglieder mehr ab!"

"Und was soll deiner Meinung nach getan werden?"

"Ist doch ganz einfach: Den Balkan haben sie doch schon als sicher bezeichnet. Denn sollen sie doch die anderen Länder auch so einstufen. Dann kann man alle abschieben!"

"Das ist doch nicht dein Ernst? Du kannst doch keine Syrier, Iraker oder Afghanen zurückschicken?!"

Kurts Gesichtsausdruck wurde jetzt verbissener und er sprach lauter. "Weshalb sollen wir die aufnehmen, die uns Nicht-Muslime als Ungläubige behandeln und unsere deutschen Frauen wie Freiwild jagen?! Das ist doch ein reiner Glaubenskrieg zwischen Sunniten und Schiiten. Wenn sie keine Toleranz kennen, sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen!"

"Du machst dir das zu einfach!", sagte Heinz. "Es gibt Tausende Syrier und Iraker, die aus politischen Gründen verfolgt werden und um ihr Leben fürchten müssen!"

"Mir ist das egal, woher und aus welchen Gründen sie kommen. Ich will sie nicht haben, weil sie unsere Werte nicht schätzen!" Er machte eine Pause. "Für mich sind das alles Kanaker!"

Heinz stand abrupt auf. "Das reicht! Du bist ja ein Rassist!"

"Besser als ein Gutmensch! Geh ruhig und lös deinen Gutschein ein! Vielleicht treffen wir uns mal wieder."

Heinz gab ihm trotzdem die Hand und sagte im Weggehen: "Ja, auf Wiedersehen, aber hoffentlich nicht so bald!"

Bürgerreporter:in:

Martin Ripp aus Hamburg

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