Reformationstag oder Halloween?
"Bei einer Halloween-Party in Hamburg-Mümmelmannsberg randalierten 200 Jugendliche. 16 Streifenwagen und 90 Beamte waren im Einsatz; drei Polizisten wurden verletzt."
Folgendes Ereignis schaffte es nicht in die Schlagzeilen:
Sie saß im Wohnzimmer, kaute nachdenklich an einem Keks aus der Konfektschale, in der außerdem noch Smarties, Haribos und Kinderschokolade lagen.
Ihr Mann war wegen einer fieberhaften Erkältung nach der Tagesschau ins Bett gegangen.
Sie dachte über die Predigt nach, die sie nachmittags in der Kirche gehört hatte,
in der auch zum Ausdruck kam, dass sich in den letzen Jahren die Priorität verschoben hat.
Als sie um 18:00 Uhr zurück gekommen war, hörte sie auch schon den Gesang einer ersten Kindergruppe. Sie hat nichts gegen diesen Brauch, der, wie so vieles, aus Amerika herübergeschwappt war, denn auch ihre Enkelkinder gingen von Haus zu Haus. Aber ihr gefiel der Kommerz nicht!
Selbst auf ihrem Kalender eines Supermarktes steht hinter dem 31. Oktober
Halloween/Reformationstag. Neben Kostümen und Masken bot er schon vor Wochen Berge von Hokkaidos an.
Hinter vielen Masken verbirgt sich ein hohler Kopf!
Bis acht Uhr hatte es dreimal geklingelt, und sie hatte jedes Mal mit der Schale in der Hand, die Tür geöffnet. Die meisten Kinder waren bescheiden gewesen und hatten nur zaghaft zugegriffen. Bis auf die dritte Gruppe, aus fünf Horror-Gestalten. Aus dem aufgerissenen Schlund einer hohläugigen Totenmaske ertönte die verstellte, tiefe Stimme eines 'Zombies': "Geh`weg mit den süßen Scheiß! Davon haben wir genug! Hast du kein Geld?!"
Diese Dreistigkeit verschlug ihr nicht nur den Atem, sondern ließ sie auch die Tür zuschlagen.
Um neun Uhr wollte sie sich eine Dokumentation über Martin Luther ansehen und hoffte, dass niemand mehr kam.
Letztes Jahr waren sie am 1. November sehr bestürzt gewesen, da sie am Vortag nach neun Uhr nicht mehr geöffnet hatten und ihre gerade vor drei Wochen gekaufte mahagonifarbene Kunststofftür weiß besprayt worden war. Unter dem oberen runden Fenster stand: GEIZ IST UNGEIL!
Die Sendung hatte gerade begonnen, da klingelte es doch noch mal. Sie nahm die Schale vom Tisch und ging zur Tür. Sie hörte Kinder singen:
"Ich bin der Clown mit dem schrecklichen Gesicht. Hier wie ein Blitz ..."
Sie öffnete die Tür. "...und verschwinde ohne Spur mit Witz."
Der Gesang brach abrupt ab. Sie traute ihren Augen nicht: Ein großer Junge mit einer Clown-Maske stand vor ihr. Er hatte einen Stoffbeutel in der Hand und mit der anderen das darin befindliche Gerät ausgeschaltet.
"Was soll der Zirkus?!" herrschte sie ihn an.
"Du solltest mich jetzt ganz schnell reinlassen!" antwortete nicht ein Junge, sondern ein mittelgroßer Mann. "Sonst geht es dir schlecht! Ich hab noch mehr
unangenehme Werkzeuge hier!", drohte er. Seine Hand steckte noch im Beutel, der sich seitwärts ausbeulte, als wäre es der Lauf einer Waffe.
Ängstlich ließ sie ihn herein und blieb auf dem Flur stehen. "Was wollen Sie von mir?" fragte sie forsch, obwohl ihre Hand mit der Schale zitterte.
Er lachte höhnisch. "Bestimmt nicht dein Kinderkram! Los, Oma, hol Bargeld und Schmuck! - Du bis doch hoffentlich allein?!"
"Ja, ich bin alleine!", antworte sie. Diesmal lauter, es war fast ein Schreien.
"Nicht so laut, Alte! Ich bin nicht schwerhörig! Und nun zisch ab!"
Sie nahm allen Mut zusammen und sagte: "Sie können doch noch mit ins Wohnzimmer kommen! Sie sind bestimmt durchgefroren. Ich könnte Ihnen eine Tasse Kaffee oder einen Grog aufgießen!"
"Auf diesen Trick falle ich nicht rein. Hol die Kohle und versuch nicht, Hilfe zu holen, sonst knallt es!"
Sie ließ sich auch jetzt nicht einschüchtern und antwortete: "Ja, sofort! Ich möchte nur noch wissen, wer mein Geld haben will! Haben Sie keine Arbeit oder sind Sie obdachlos? Und wie sind Sie überhaupt auf diese Wahnsinnsidee gekommen?!"
"Wenn dir das leichter fällt: Ich bin ein arbeitsloser Clown. Der Wanderzirkus ist pleite gegangen, weil fanatische Tierschützer unsere Tiere frei gelassen oder vergiftet haben! - Das kannst du glauben oder nicht; das ist mir egal! Und nun los!" Er gab ihr einen kleinen Schubs. "Lüfte dein Kopfkissen oder such unter deiner Wäsche; das sind doch die Geldverstecke der alten Leute. Ich warte aber nicht ..." Im selben Augenblick traf ihn ein wuchtiger Schlag in die Kniekehlen. Sie knickten ein, und er ging jammernd zu Boden. Sein Kopf schlug auf dem Parkett auf.
Ihr Mann hatte sich barfuß, mit einem ausrangierten Baseballschläger ihres Sohnes bewaffnet, aus dem Schlafzimmer angeschlichen.
Sie ging kurz ins Wohnzimmer, während er sich über den Verletzten beugte.
Es war ein grotesker Anblick: Die weiße Latexmaske mit der großen roten Kugelnase, dem aufgerissenen Mund mit den fletschenden Zähnen und der Mann stöhnend und sich wieder aufrichten wollend.
"Sie bleiben liegen!" kommandierte er und hob drohend den Schläger.
"Lassen Sie mich aufstehen!" bettelte er. "Ich nehm auch meine Maske ab!"
"Die hätte ich Ihnen schon abreißen können! Aber ich will Sie nicht sehen, will Sie gar nicht erkennen!" Und an seine Frau gewandt, die auf den Flur zurück gekommen war: "Alles erledigt? Hast du dem arbeitslosen kriminellen Clown unser Vermögen eingepackt? Und auch die rote Schleife nicht vergessen?!"
Sie lächelte nur schwach über seinen Galgenhumor und sagte zu dem raffinierten "Halloweener": "Sie wissen doch, was die Zahlen 110 bedeuten?!"
"Bitte, lassen Sie mich gehen! Ich hab Frau und Kind!"
"Umso schlimmer!" antwortete sie. "Sie sollten sich schämen!"
Von fern hörten sie die Sirene eines Polizeiwagens. Sie forderte ihn auf:
"Kommen Sie hoch!"
Er griff nach seinem Beutel, den er fallen gelassen hatte und kam unsicher auf die Füße. Ihr Mann stellte sich hinter ihn, den Schläger noch immer in der Hand.
Sie brachte ihn zur Tür, öffnete sie und sagte: "Wir geben Ihnen eine Chance!
Hauen Sie so schnell wie möglich ab!"
Er antwortete nicht und versuchte zu laufen. Es war aber mehr ein schnelles Humpeln. Sie rief ihm noch hinterher: "Weil heute Reformationstag ist, noch ein Tipp: Werfen Sie die Maske weg!"
Bürgerreporter:in:Martin Ripp aus Hamburg |
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