Ulm – für die „Kreative Klasse“ nicht attraktiv

Ulm will gerne "Spitze im Süden" (Werbeslogan) sein, ist aber zu verliebt in seine „Hoch“-Kultur. Schräge Vögel fehlen. Wenn Ulm Kultur(-Haupt-)Stadt werden will, müsste es mal Fünfe grade sein lassen; Ulm (und die Region) müsste sich mal weniger um die Hochkultur kümmern und mehr Chancen offen lassen für schräge Vögel, für Subkultur, für die Boheme – so könnte man zusammenfassen, was Professor Dr. Björn Bloching herausgefunden hat.

Bloching ist Partner von Roland Berger Strategy Consultants und Leiter des Hamburger Bü-ros der Unternehmensberatung, welche zusammen mit der Frankfurter Allgemeinen Sonn-tagszeitung (F.A.S.) zehn deutsche Städte untersucht hat, die exemplarisch für kreative Regi-onen stehen. Ein persönlicher Hintergrund hatte Bloching bewogen, zusätzlich Ulm als elfte Stadt in diesen Vergleich mit einzubeziehen.

„Technologie“, „Talent“ und „Toleranz“ sind die Merkmale, die eine Stadt für die Kreativen attraktiv sein lassen. Nur wo alle drei Bedingungen gegeben sind, gedeiht ein innovatives ur-banes Umfeld, Voraussetzung für mehr Wohlstand der Bürger.

Ulm will Spitze im Süden sein, liebäugelt mit der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas, ist aber offenbar nicht attraktiv genug für die „Kreative Klasse“. Die Boheme ist in Ulm und um Ulm und um Ulm herum nur marginal vertreten. Eher werden die bildungsbürgerlichen Säulen der Kultur gehegt und gepflegt, werden Festivals protegiert und Multifunktionshallen für notwendig erachtet.

Falsch! Sagt Bloching. Wenn Ulm auf Dauer konkurrenzfähig sein will, muss es seine selte-nen schrägen Vögel füttern und neue anlocken, muss hegen und pflegen, was man „Boheme“ schimpft. Deren Existenz und Wirken in einer Stadt ist wesentlich für das Klima, welches die Menschen reizt, die der amerikanische Urbanist Richard Florida in seine „kreative Klasse“ einordnet. Zu ihr gehören die Angehörigen der neuen Dienstleistungsindustrie, also Rechts-anwälte, Investmentbanker, Ingenieure, Wirtschaftsprüfer und Werber, aber auch Musiker, Wissenschaftler und Modeschöpfer. Als kreativ gelten ebenfalls alle IT-Spezialisten, Web2.0-Designer, Architekten und Chefärzte.

„Die Kreativen mögen die Citys, weil sie dort mehr Optionen haben, als sie je realisieren könnten. Nicht zuletzt dieses Chancenpotential ist einer der stärksten Magnete einer Stadt: Lass uns heute Abend äthiopisch essen gehen, obwohl wir, wenn wir wollten, zugleich auch zum Japaner, Türken oder Schnitzelwirt hätten gehen können“, schreibt Rainer Hank von der F.A.S.

Hank interpretiert die Ergebnisse der Studie weiter: „Diese Gruppe der Privilegierten, die sich ihre Lieblingsstadt aussuchen kann… Diese gut ausgebildete, gut verdienende und wähleri-sche Klasse der Avantgarde liebt die Städte. Ihr Anteil an der urbanen Bevölkerung wächst stetig und liegt heute Schätzungen zufolge bei 25 bis 30 Prozent. Um das Jahr 1950 waren es gerade einmal 15 Prozent. Indikator für die Zunahme des Kreativenanteils sind nicht zuletzt die weltweit steigenden Immobilienpreise in den Städten. Die Kreativen mögen die Citys, weil sie dort mehr Optionen haben, als sie je realisieren könnten. Nicht zuletzt dieses Chan-cenpotential ist einer der stärksten Magnete einer Stadt.

Drei Typen der Kreativen hat Richard Florida identifiziert: die technologisch Kreativen oder die Innovativen, die ökonomisch Kreativen oder die Entrepreneure und die künstlerisch oder kulturell Kreativen, die Künstler. Alle drei Gruppen brauchen einander und lieben es, dass sie Nachbarn in derselben Stadt sind. Kein Wunder, dass die Kreativen bei der Wahl ihres Ar-beitsortes sich nicht nur von der Attraktivität des Arbeitsmarktes leiten lassen. Mindestens ebenso wichtig ist für sie die Vielfalt des kulturellen Angebots, das Anregungsumfeld aus Bildung und Wissenschaft und ein Toleranzklima, welches stolz darauf ist, Vielfalt und Ver-schiedenheit der Lebensformen als Ausweis der Großherzigkeit zu respektieren und zu goutie-ren.“
Weiter oben war bereits vom Dreigestirn der neuen Urbanität die Rede: Technologie, Talent und Toleranz, deren Zusammenspiel die Attraktivität einer Stadt bestimmt, aber auch deren Produktivität und Wohlstand. Was ist mit Toleranz gemeint? Rainer Hank beruft sich auf Ri-chard Florida, nach dessen Auffassung die Toleranz einer Stadt abzulesen ist:

- an der Kraft, mit der sie Ausländer integriert,
- wie sie künstlerische Avantgarde pflegt und
- ob alternative Lebensformen (Schwule und Lesben; Singles) sich dort besonders wohl fühlen.

Hank: „Man hört den amerikanischen Sound dieses Toleranzbegriffs, weshalb die F.A.S. zu-sammen mit Roland Berger dieses Kriterium den deutschen Verhältnissen angepasst hat. Wichtig war uns die Anzahl der Einbürgerungen in Deutschland wohnender Ausländer (Integ-ration und Assimilation), das Wahlverhalten (Neigung zu Extremismus) und die Lebhaftigkeit der künstlerischen Szene. Für die Standortentscheidung der kreativen Klasse ist es offenbar wichtiger, dass ihre Stadt eine gute Subkultur und Off-Szene hat (Clubs, Kleinkunst, Jazz und Tanz), als dass es dort international renommierte Opern- und Konzerthäuser gibt (was meist der städtischen Administration besonders am Herzen liegt).“

Was Ulm angeht, so hat Professor Bloching festgestellt dass es erhebliche Defizite gibt. Ulm sei technologisch sehr gut aufgestellt, belegt im Städtevergleich sogar Platz drei. Sehr kultu-rell sei es aber nicht. Da müsse man etwas tun. Er rät, das freie Spiel der Kreativität wieder zuzulassen. Die "kreative Klasse" wolle keinen retortenmäßigen Masterplan. Beim Parameter "Toleranz" liegt Ulm noch zwei Punkte hinter Stuttgart. In puncto kreativer, subkultureller "Bohème"-Szene sei in Ulm so gut wie Fehlanzeige und da teilt sich die Donaustadt sogar mit Mannheim den letzten Platz. Eine wertschöpfende Kreativszene, die Geld verdient, sei in Ulm so gut wie nicht vorhanden. Für Bloching "ein Alarmsignal" mit Blick auf eine "europäische Kulturhauptstadt".

Roland Mayer von der Neu-Ulmer Zeitung hat Bloching so verstanden: Wenn man eine Stadt sympathisch machen wolle, dann müsse man an der Toleranz arbeiten und nicht an einer Marketing-Strategie. In diesem Zusammenhang gelte ‚Bohème’ als Image-Faktor. Zur Hoch-kultur sei eine pulsierende, subkulturelle Szene wichtig.

In seinem Bericht über den Bloching-Auftritt schreibt der Kulturredakteur Mayer unter ande-rem: „Björn Bloching gibt den Ulmern auf dem Marsch zu einer Kulturhauptstadt mehrere Regeln mit auf den Weg: Sich ein klares Bild schaffen, wie wettbewerbsfähig Ulm ist; die Ta-lentgruppen verstehen und einbinden; die Anstrengung auf die genannten Gruppen
konzentrieren und analysieren, warum es in Ulm so einen extrem kleinen Bohème-Teil gibt;
das Atmosphärische einer Stadt ausloten; das Lebensgefühl der Menschen erreichen.
‚Schaffen Sie greifbare Ergebnisse und lassen Sie Fünfe mal gerade sein.’“

Wer sich für die Studie interessiert – hier klicken: rangliste.faz.net/staedte/article.php?txtid=studie

Bürgerreporter:in:

Heinz Koch aus Günzburg

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