Der Zweifler sieht die Komplexität der Welt meistens besser - Ein Interview mit Manfred Enderle
Der in Leipheim-Riedheim wohnende Pilzkenner und -forscher Manfred Enderle hat einen bemerkenswert spannenden Roman mit dem Titel "Nachtwanderer" geschrieben. Unser Redakteur Joachim Meyer unterhielt sich mit dem spätberufenen Romanautoren über das literarische Motiv des perfekten Mordes, die Tradition des europäischen Schelmenromans, die Ironisierung kleinbürgerlicher Verhältnisse und die geheimnisvolle Welt der Pilze.
günzburger: Herr Enderle, Sie sind den meisten Lesern als Pilzkenner und -forscher bekannt. Nun sind Sie mit Ihrem Debütroman "Nachtwanderer" unter die Romanautoren gegangen. Können Sie unseren Lesern in knappen, nachvollziehbaren Sätzen schildern, worum es in Ihrem Buch inhaltlich geht?
Manfred Enderle: Es geht um einen von seiner Frau verlassenen Ehemann, der sich an seinem Konkurrenten mit Kampfmitteln aus der Natur rächen möchte. Der Widersacher soll langsam und unbemerkt zermürbt werden. Zum Schluss kommen noch Giftpilze ins Spiel, wie könnte es anders sein. Es geht um den Versuch eines perfekten Mordes...
günzburger: ...ein bekanntes Motiv in der deutschsprachigen Kriminalliteratur. Unwillkürlich stellen sich Assoziationen zu Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman "Der Richter und sein Henker" oder E.T.A. Hoffmanns Kriminalnovelle "Das Fräulein von Scuderi" ein. Inwieweit haben Sie sich an prominenten literarischen Vorbildern orientiert?
Manfred Enderle: Ich bin ein großer Liebhaber der Literatur des 20. Jahrhunderts. Da gibt es zahlreiche herausragende Könner, unter anderem der von Ihnen genannte Friedrich Dürrenmatt, aber auch Hermann Hesse, Thomas Mann, Franz Kafka, Stefan Zweig, Thomas Bernhard oder die von mir geschätzten Zeitgenossen Patrick Süßkind, Bernhard Schlink, Henning Mankell. Die Handlung in meinem Roman ist aber, soviel ich weiß, einmalig und noch nie beschrieben worden.
günzburger: Die Sichtweise der Hauptfigur Thomas Graun ist mit den Adjektiven "kleinbürgerlich" bzw. "spießbürgerlich" zu beschreiben. Neben den kriminalistischen Details geht es Ihnen also auch um eine Milieustudie, oder?
Manfred Enderle: Ja, ich habe bewusst spießbürgerliche Verhältnisse ironisiert. Es ging mir auch um das Milieu, in dem sich die Figuren bewegen, um sie besser verständlich zu machen. Ein Hauptmoment des Titelhelden ist seine hartnäckige Meinung, dass Ehebruch ein Kapitalverbrechen sei, was in unserer heutigen Gesellschaft eher anders gesehen bzw. verniedlicht wird. Graun entschließt sich deshalb zu einer persönlichen Rache, die ja "wilde Gerechtigkeit" ist, denn der Betroffene ist davon überzeugt, dass die vorhandenen Gesetze für das ihm Angetane nicht ausreichen. Im Übrigen ist Graun ein Antiheld, ein Zweifler und Loser. Ich hasse nichts mehr als Strahlemänner, Sieger und Klugscheißer, die meinen, sie wüssten alle Antworten auf alle Fragen. Der Zweifler sieht die Komplexität der Welt meistens besser, ist also intelligenter oder zumindest sensibler.
günzburger: Bei der Lektüre Ihres Romans werden auch Erinnerungen an die Tradition des europäischen Schelmenromans wach. Die Perspektive des Helden ist arg begrenzt, die Hauptfigur bewertet die Dinge, die um ihn herum passieren, nach seinen eigenen, kleinbürgerlichen Kriterien. Thomas Graun hält sich selbst für erfahren und intelligent, stößt aber immer wieder schnell an seine Grenzen und erkennt diese nicht. Wollten Sie mit Ihrem Roman den Typus des engherzigen, kleingeistigen Bürgers entlarven? Sehen Sie Ihren Roman als Instrument der Gesellschaftskritik?
Manfred Enderle: Der Roman ist, wie Sie sagen, literarisch gesehen eher ein Schelmenroman als ein Krimi. Er ist aber auch ein Schlüsselroman, weil zahlreiche Personen und Orte im hiesigen Donautal verschlüsselt darin vorkommen, manche auch offen oder kenntlich. Das war so gewollt, denn es sollte ein lokalkolorierter Heimatroman werden. Mein Text ist aber eher eine Novelle als ein Roman. Da wird heute aber nicht mehr so streng unterschieden. Die Novelle, die Goethe einst definierte, kommt mit wenig Personal aus, hat einen sehr zielgerichteten Verlauf und endet mit einer "unerhörten Begebenheit". Die Hauptbotschaft meines Textes lautet im Übrigen: Verhindert Ehebruch. Er schadet allen!
günzburger: Die von Ihnen gewählte Erzählperspektive schafft für den Erzähler den notwendigen Raum für Distanzierung, ironische Brechungen und wertende Kommentare. Wie wichtig ist Ihnen Ironie als Stilmittel? Ist Ironie ein Sinnträger?
Manfred Enderle: Mein Roman hat einen auktorialen Erzähler, der alles von oben bzw. aus der Distanz sieht. Das ist eine häufig gewählte Erzählperspektive und ermöglicht die von Ihnen genannten Punkte, sie verhindert aber die tiefe Innenschau in die einzelnen Figuren, wie es bei einer Ich-Erzählung möglich wäre. Die Ironie ist ein potentes Stilmittel, da sie durch den Kopf und dann sofort in den Bauch fährt.
günzburger: Die klassische Frage an jeden Romanautor lautet: Inwieweit trägt ihr Roman autobiographische Züge? Thomas Mann verarbeitete in seinen Romanen beispielsweise überwiegend eigene Erlebnisse. Er war kein großer "Geschichtenerfinder". Inwieweit finden sich Teile ihres eigenen Lebens in dem Buch "Nachtwanderer" wieder?
Manfred Enderle: Ich habe gelesen, dass Thomas Mann nach seinen Buddenbrooks ein halbes Jahr lang Streitigkeiten mit seiner Verwandtschaft und Bekanntschaft hatte, weil viele glaubten, sie seien im Roman beschrieben, aber eben nicht zutreffend. Im direkten Umfeld eines Romanschreibers wird immer gemunkelt, dass das Meiste autobiografisch sei. Das stimmt zum Teil, denn man kann nur selbst Erlebtes glaubhaft und stimmig schildern. Beschreibungen aus der reinen Fantasie sind meistens irgendwie schief. De facto sind bei mir auch die Familienverhältnisse anders als im Roman: Ich bin gut verheiratet und habe nicht nur eines, sondern 2 Kinder. Über Ehescheidungen und Trennungen kann man an jeder Straßenecke etwas lernen. Das braucht man nicht unbedingt selbst erlebt haben.
günzburger: Die Welt der Pilze spielt in Ihrem Buch natürlich eine wichtige Rolle. Seit 25 Jahren sind Sie in der Pilzforschung aktiv. Wie kamen Sie auf die Idee, einen Roman zu verfassen?
Manfred Enderle: Ich habe 25 Jahre lange ununterbrochen Pilze untersucht und zig Fachartikel und 3 Pilzbücher geschrieben. Da kam irgendwann der Wunsch, etwas Anderes zu machen. Was lag da näher als ein Roman, der vorwiegend in der Natur und in meinem Milieu spielt. Ich habe aber auch versucht mit witzigen, spannenden und philosophische Elementen zu arbeiten. In Kapitel 15 wird zum Beispiel die deterministische Weltsicht des Thomas Graun dargelegt, die auf die Erkenntnis "Es gibt keinen freien Willen" hinausläuft. Sie ist identisch mit meiner und wird, wie ich mit Genugtuung feststelle, zunehmend von der Hirnforschung bestätigt.
günzburger: War Ihr Ausflug in die Welt des Romans eine einmalige Aktion oder arbeiten Sie bereits am nächsten Werk? Schildern Sie uns die Pläne und Projekte der nächsten Wochen und Monate!
Manfred Enderle: Nachdem mein Roman von den meisten Lesern als spannend, amüsant und originell geschildert wird, habe ich natürlich Mut für einen Fortsetzungsroman bekommen. Der Verlag erwartet auch einen solchen. Ich möchte jedoch parallel dazu ein Buch mit dem Titel "Gedichte aus dem Donautal" machen. Darin sollen 30-40 Dichter aus der hiesigen Gegend zu Wort kommen. Ich suche noch einen Sponsor beziehungsweise Herausgeber.
Interview: Joachim Meyer
Bilder: privat
Bürgerreporter:in:Joachim Meyer aus Reichertshofen |
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