Rathaus Gera: Dr. Viola Hahn als Oberbürgermeisterin vereidigt - Antrittsrede
In einer außerordentlichen Sitzung des Geraer Stadtrates wurde am Abend des 5. Juli 2012 Dr. Viola Hahn als erste Oberbürgermeisterin der Ostthüringer Stadt ins Amt eingeführt. Gegen 18.45 Uhr schwor sie den Amtseid, den ihr das älteste, anwesende Mitglied des Gremiums Iris Gerhardt abnahm. Noch am Abend wurde die Antrittsrede nach ihrem Motto im Wahlkampf "Gera.Gemeinsam.Gestalten." veröffentlicht. (nachstehend der Wortlaut)
"Antrittsrede Frau Dr. Viola Hahn
'Wenn Sie in der Politik etwas gesagt haben wollen, wenden Sie sich an einen Mann. Wenn Sie etwas getan haben wollen, wenden Sie sich an eine Frau.'
Sehr geehrte Landtagspräsidentin Frau Diezel,
Sehr geehrte Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament, dem Deutschen Bundestag und dem Thüringer Landtag,
sehr geehrte Präsidentin des Thüringer Landkreistages, Frau LR Schweinsburg,
Sehr geehrte Landräte und Bürgermeister,
Sehr geehrte Vertreter der Kirchen, der Presse, der Wirtschaft, Behörden, Verbände und Vereine,
meine Damen und Herren Stadträte, liebe Bürgerinnen und Bürger, liebe Gäste,
für mich ist die heutige Vereidigung zur Oberbürgermeisterin der Stadt Gera Anlass zu Freude und Stolz und ich fühle mich durch ihr zahlreiches Erscheinen geehrt. Mein besonderer Dank gilt allen, die mit viel Mühe diese Feierstunde vorbereitet haben sowie der Musikschule für die musikalische Umrahmung.
Ich wäre heute sicher nicht hier, wenn mich nicht so viele Menschen so sehr unterstützt hätten, wie sie es getan haben. Auch diesen möchte heute ich nochmals ganz herzlich danken.
Als erstes meiner Familie, meinem Mann, unserem Sohn mit Familie und meinen Eltern. Ohne ihr Verständnis und ihre Hilfe wäre meine gesamte berufliche Entwicklung kaum denkbar gewesen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der 775-jährigen Stadtgeschichte haben sich die Wählerinnen und Wähler erstmals entschieden, die Geschicke unserer Stadt in die Hände einer Oberbürgermeisterin zu legen.
Das eindrucksvolle Votum, das ich in beiden Wahlgängen erhalten habe, betrachte ich als großen Vertrauensvorschuss. Dafür bedanke ich mich.
Die Bürger wollen, dass nicht mehr nur geredet wird, sondern dass wir gemeinsam handeln – und haben deshalb eine Frau gewählt, um das eingangs von mir vorgetragene Zitat aufzugreifen. Es stammt übrigens von Margaret Thatcher, der früheren britischen Premierministerin.
Zieht mit mir jetzt eine „Eiserne Lady“ ins Rathaus ein?
Ja und Nein. Ja, weil ich mit harter Arbeit, Zielstrebigkeit und Konsequenz meinen Beitrag leisten werde, um unsere Stadt wieder voranzubringen. Nein, weil ich nicht mit „eiserner Hand“ regiere, sondern die Menschen mitnehmen werde. Bei unseren Bürgerinnen und Bürgern gibt es eine große Sehnsucht, ernst genommen zu werden mit ihren Sorgen, aber auch mit ihren klugen Ideen und Anregungen.
„GERA. GEMEINSAM. GESTALTEN.“ Das war im OB-Wahlkampf die Erfolgsformel, das ist die Zukunftsformel für unsere Stadt. Mit Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit werden wir neue Kräfte mobilisieren.
Meine Damen und Herren Stadträte,
Sie engagieren sich seit 2009, viele von Ihnen noch viel länger, als gewählte Volksvertreter für das Wohl der Stadt und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dafür zolle ich Ihnen meinen Dank und meine Anerkennung. Sie sind meine wichtigsten Partner. In konstruktiver und vertrauensvoller Zusammenarbeit auf Augenhöhe möchte ich gemeinsam mit Ihnen die Stadtentwicklung vorantreiben. Wie Sie wissen, haben CDU, Wählervereinigung „Arbeit für Gera“ und FDP mich als parteilose OB-Kandidatin unterstützt, weil wir gemeinsam der Überzeugung sind, dass unsere Stadt einen Neuanfang dringend braucht. Diese erfolgreiche Allianz besteht auch über den Wahltag hinaus.
Ich lade im gleichen Atemzug aber auch die Parteien, die meinen Amtsvorgänger unterstützt hatten, zu einer sachlichen und fairen Zusammenarbeit ein.
Jede gute Anregung, aber auch jede konstruktive und vorwärtsweisende Kritik ist willkommen. Unsere Stadt kann es sich nicht leisten, kluge Ideen aus partei- taktischen Gründen oder Ideologiegehabe auszusitzen oder abzulehnen. In mir werden Sie alle jederzeit eine aufgeschlossene Partnerin finden.
Neue Impulse möchte ich in der Zusammenarbeit mit unseren benachbarten Städten, Gemeinden und Landkreisen setzen. Wenn es uns gelingt, unsere Stärken zu bündeln, werden wir unsere Region noch attraktiver machen.
Einen neuen Stil wird es mit mir im Umgang mit unseren Partnern im Freistaat geben. Mit Ehrlichkeit will ich in Ministerien und im Landesverwaltungsamt Vertrauen, das zu unserer Stadt in den letzten Jahren verlorengegangen ist, zurückgewinnen.
Ich bitte unsere Geraer Landtagsabgeordneten, mich dabei zu unterstützen. Kommunalpolitisch werden wir zunächst unsere Hausaufgaben in Gera erledigen müssen, bevor wir mit Wünschen und Forderungen an das Land herantreten. Das betrifft insbesondere die Konsolidierung der städtischen Finanzen.
Meine Damen und Herren,
für ein gut funktionierendes Gemeinwesen ist eine leistungsstarke und effiziente kommunale Verwaltung von großer Bedeutung. Ich setze auf das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dieses kann sich am besten entfalten in einer Atmosphäre des Vertrauens und der Verantwortung. Natürlich sind Gesetze, Stadtratsbeschlüsse und Dienstanweisungen ohne Wenn und Aber einzuhalten.
Aber überall dort, wo es Ermessensspielräume gibt, sollten wir diese für die Bürger, für die Wirtschaft, für Soziales, Kultur und Sport ausschöpfen.
Die entscheidende Frage lautet stets: Nützt es unserer Stadt?
Denn, meine Damen und Herren, unsere Arbeit heißt: Dienst an der Stadt – und ist damit eine dienende Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger.
Meine Damen und Herren,
die Achtung vor den Bürgerinnen und Bürgern als Souverän unseres Gemeinwesens gebietet es, dass wir sie nicht nur am Wahltag wertschätzen.
Ich stehe für wahrhaftige Bürgerbeteiligung.
Ich werde nach der Sommerpause zu Beginn jeder Stadtratssitzung eine Bürgerfragestunde einberufen, damit jede Bürgerin und jeder Bürger unserer Stadt die Möglichkeit hat, sich öffentlich an den Stadtrat, die Oberbürgermeisterin und die Verwaltung zu wenden. Wir werden auf diesem Wege sicher mit vielen grundsätzlichen, aber auch alltäglichen Fragen des Lebens konfrontiert, deren Beantwortung uns Denkanstöße für unser politisches und Verwaltungshandeln gibt.
Beim Ausbau der Bürgerbeteiligung setze ich auf junge Ideen und auf Lebenserfahrung.
Ich werde ein Kinder- und Jugendparlament einberufen und möchte damit die jungen Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der Zukunft unserer Stadt aktiv einbeziehen.
Die Rechte des Seniorenbeirates werde ich stärken. Er soll künftig auch ein Antragsrecht in den Fachausschüssen des Stadtrates erhalten – und ein Büro im Rathaus bekommen.
Mehr Verantwortung möchte ich den Ortschaftsräten und den Ortsteilbürgermeistern übertragen. Sie kennen am besten die Bedingungen vor Ort.
Ich möchte die Vielfalt von städtischem und dörflichem Leben unter dem Dach unserer Stadt Gera stärken. Keine Ortschaft soll einen Anlass bekommen, sich mit dem Gedanken zu tragen, einen „Ausreiseantrag“ aus unserer Stadt zu stellen, wie das in den letzten Jahren bereits mehrfach geschehen ist.
Meine Damen und Herren,
in meinem 100-Tage-Programm steht an oberster Stelle der Kassensturz, bei dem alle Haushalte der Stadt, einschließlich der Eigenbetriebe bzw. der Unternehmen mit städtischer Beteiligung, durchleuchtet werden. Dieser Kassensturz erfolgt nicht zum Selbstzweck. Er ist die Grundlage für einen ehrlichen Neuanfang, für den Haushaltplan 2013 und für die mittelfristige Finanzplanung.
Auf zwei große Stellschrauben möchte ich bereits jetzt aufmerksam machen, sie sind unmittelbar miteinander verzahnt:
Die Stärkung der Wirtschaft und die Entlastung bei den Sozialausgaben.
Es ist ein falscher politischer Ansatz, dass sich die Stadt vom Gewinn der ortsansässigen Unternehmen einfach mal so ein größeres, und zwar überdurchschnittlich größeres Stück vom Kuchen abschneidet. Richtig ist es doch, den Unternehmen die Möglichkeiten zu geben, dass sie sich entfalten können, dadurch ihren Gewinn mehren, so dass die Summe, die die Stadt als Gewerbesteuer einbehält, wächst, ohne dass der Steuersatz in astronomische Höhen geschraubt wird.
Wenn die Unternehmen wachsen, brauchen sie in vielen Fällen neue Arbeitskräfte – und die bringen der Stadt über die Lohn- und Einkommenssteueranteile wieder neue Einnahmen.
Und wenn Menschen, die bisher Sozialleistungen von der Stadt bezogen haben, mit ihrer Hände Arbeit zu Lohn und Brot kommen, so entlastet dies das Sozialbudget und damit den größten Haushaltposten unserer Stadt.
Wirtschaftsförderung, meine Damen und Herren, ist Chefsache für mich als Oberbürgermeisterin. Und mehr noch: Ich erwarte von jeder Mitarbeiterin und von jedem Mitarbeiter in der Stadtverwaltung und in den städtischen Unternehmen, dass sie sich als Wirtschaftsförderer verstehen.
Sie, meine Damen und Herren des Stadtrates, bitte ich bei Ihren Entscheidungen zu bedenken, ob und wie sich diese auf Wirtschafts- und Familienfreundlichkeit auswirken.
Sehr geehrte Damen und Herren,
zwei Jahre gemeinsamer Arbeit in diesem Stadtrat liegen vor uns. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns, dass wir die dringendsten Probleme unserer Stadt nicht auf die lange Bank schieben. An vorderster Stelle steht, endlich an allen Geraer Schulen zeitgemäße Lern- und Lehrbedingungen zu schaffen. Der Stadtrat hatte beschlossen, dass dieses Ziel in diesem Jahr 2012 erreicht sein sollte.
Die Realität sieht leider anders aus. 3000 Schülerinnen und Schüler lernen immer noch unter unzureichenden Bedingungen.
Das muss sich ändern, das sind wir unseren Kindern und Jugendlichen schuldig.
Gemeinsam stehen wir in der Pflicht, das in praktischer Schulpolitik umzusetzen.
Ich möchte in den ersten 100 Tagen meiner Amtszeit weiter kommen und gemeinsam mit Ihnen ein neues Schulbauprogramm und damit im Zusammenhang den Schulnetzplan beraten.
Ich weiß um die konstruktiven Diskussionen im Bildungs- und Sportausschuss, freue mich über die konzeptionelle Vorarbeit, die fraktionsübergreifend geleistet wurde und die sicher auf noch breiterer Basis fortgeführt wird.
Mit dem integrierten Stadtentwicklungskonzept werden die Weichen gestellt für die Zukunft unserer Stadt. Sie im Stadtrat haben diesen Prozess bereits vor drei Jahren angestoßen, der leider erst im vergangenen Jahr in Gang gekommen ist. Das Stadtentwicklungskonzept als gesellschaftlicher Konsens ist Leitfaden für die Entscheidungsfindung des Stadtrates und für die Tätigkeit der Stadtverwaltung. Auf dieser Basis wird in der Folge ein Stadtmarketingkonzept erarbeitet, um die Stärken unserer Stadt bekannt zu machen.
Meine Damen und Herren,
vor uns liegen vielfältige Herausforderungen, ich denke beispielsweise an die Behebung des Ärztenotstandes in Lusan, an die Sicherung der Zukunft unseres Theaters, an ein Konzept zur Wiederbelebung unserer traditionellen Einkaufsstraßen und an ein Konzept zur Nutzung der ehemaligen Landeszentralbank. Sie werden verstehen, dass ich an dieser Stelle allein aus Zeitgründen nicht alle Themen erörtern kann; Sie dürfen versichert sein, dass ich die vielfältigen Herausforderungen im Auge habe.
Auf ein Thema, das mich besonders bedrückt, möchte ich an dieser Stelle noch näher eingehen. Es ist der traurige Umstand, dass Gera die Stadt mit der höchsten Kinderarmut in Thüringen ist. In Jena betrug die Armutsquote bei den unter Dreijährigen 18 Prozent, in Gera ist mit einem Anteil von über 38 Prozent mehr als jedes dritte Kind betroffen. Dieses Gefälle ist mehr als erschreckend, aber leider nicht überraschend. Es zeigt sehr deutlich, dass eine verfehlte Wirtschaftspolitik Auswirkungen auf alle Bereiche der Stadt hat. Um langfristig tragfähige Konzepte gegen Kinderarmut zu entwickeln, werde ich jährlich eine Armutskonferenz in Gera durchführen. Im Ergebnis soll ein konkreter Maßnahmenplan vom Stadtrat beschlossen werden, über dessen Umsetzung ich halbjährlich im Jugendhilfeausschuss berichte.
Meine Damen und Herren,
Gera ist eine weltoffene Stadt. Das bekräftige ich aus aktuellem Anlass.
Wir werden am Sonnabend friedlich Gesicht zeigen, dass Rechtsextremismus in unserer Stadt keinen Platz hat. Ich bin dankbar, dass unsere Landesregierung uns dabei unterstützt. Der Stadtrat hat den Organisatoren des rechtsextremen Propagandafestivals den Veranstaltungsort „Spielwiese“ und damit ein Symbol entzogen.
Das war ein wichtiges Signal – leben doch Extremisten in ihrer eigenen Welt, die von Symbolen geprägt ist. Als Oberbürgermeisterin werde ich gemeinsam mit Bundes- und Landespolitik, mit dem Stadtrat, mit den Kirchen, der Wirtschaft, den Vereinen und Verbänden eine Strategie erarbeiten mit wirkungsvollen Maßnahmen Rechtsextremismus entgegen zu treten.
Meine Damen und Herren Stadträte, liebe Bürgerinnen und Bürger,
in unserer Hand liegt es, dass unsere Stadt mit positiven Schlagzeilen aufhorchen lässt. Wir wollen, dass Menschen gern zu uns nach Gera kommen, dass die Wirtschaft investiert. Wir wollen, dass Gera weiter an Attraktivität und Lebensqualität für die Einwohner gewinnt.
Ich habe 2010 den Europäischen Kulturdialog ins Leben gerufen, der mittlerweile weit über Thüringen hinaus einen guten Ruf genießt. Diese Kontakte zu Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werde ich selbstverständlich in meine Arbeit als Oberbürgermeisterin einbringen – zum Nutzen unserer Stadt.
Ich möchte Gera führen wie eine gute Familie. Eine Familie muss zuerst organisieren, wie die grundlegenden Bedürfnisse geregelt werden: also Nahrung, Wohnung, Kleidung. Dann melden alle Familienmitglieder ihre Wünsche an – und gemeinsam muss man schauen, ob und wie sich diese Wünsche erfüllen lassen.
Als gewähltes Stadtoberhaupt fühle ich mich in der Pflicht, die Prioritäten, auf die wir uns gemeinsam verständigen, im Auge zu behalten, die Familie Stadt Gera zusammenzuführen und zusammenzuhalten.
Ich freue mich auf eine erfolgreiche gemeinsame Arbeit zum Wohle unserer Bürgerinnen und Bürger. Gemeinsam werden wir unser Gera gestalten."