Wie eine Insel der Menschlichkeit. (Eine Erinnerung an meine "Russenzeit")

1. Januar 1945
ehem. Pommern, 17179 Gnoien

Gerade erst 10 Jahre alt geworden, war ich zusammen mit meiner Mutter im Januar 1945 in Pommern (der Ort hieß Dölitz) in die Hände der Roten Armee gefallen. Die deutsche Bevölkerung wurde, da um den Ort erbitterte Kämpfe zwischen der deutschen Wehrmacht und den Russen geführt wurden, von diesen quasi hinausgeworfen. Ein paar Habseligkeiten auf einem klapprigen Handwagen, mussten wir den umkämpften Frontabschnitt gen Westen verlassen. Erschöpft von dem anstrengenden Fussmarsch, hatten wir gen Abend die von russischen Truppen mit ihren Panzern stark in Anspruch genommene, total verdreckte Straße verlassen. In unserem Versteck in einer Feldscheune quälte uns alle bald großer Durst. Was wir an Trinkbarem bei uns hatten, war schnell aufgebraucht. Hunger hatten wir keinen, denn ein paar Brotreste und rohe Kartoffelstückchen reichten. Größer als der Hunger wurde dann tatsächlich der unerträgliche, quälende Durst. Im Schutze der Dunkelheit schlichen mein drei Jahre älterer Cousin Ulrich und ich uns mit allergrößter Vorsicht zu einer „Kartoffelmiete“ in einigen Metern Entfernung und schöpften ganz behutsam das trübe Wasser ab, das sich durch den Regen der letzten Stunden in den die Miete umgebenden Rinnen angesammelt hatte. Meine Mutter übernahm es dann, uns von dieser sicher nicht keimfreien, aber kostbaren Flüssigkeit teelöffelweise winzige Schlucke einzuflössen. Fürs erste war unsere Not dadurch ein wenig gelindert. Aber länger als fast vier Tage konnten wir es dann allerdings nicht mehr in unserem Versteck aushalten. Hunger und Durst steigerten sich enorm, waren stärker als unsere Furcht vor den Russen, vor denen wir uns versteckt halten wollten, und wir mußten schließlich aufgeben.

So verließen wir schließlich notgedrungen unser Versteck, stapften durch den tiefen Morast des aufgeweichten Feldweges auf die Landstrasse zu und setzten mit großer Beklommenheit und Ungewissheit unseren Weg wieder fort.

Wir hatten die anbrechende Dunkelheit für unseren neuerlichen Aufbruch gewählt und gelangten schon nach wenigen Kilometern an den Rand einer Stadt, die - wie wir später feststellten - Bernstein hieß. Alles um uns herum wirkte irgendwie unheimlich und gespenstisch. Wir folgten ziellos dem Straßenverlauf und fanden uns plötzlich, es war Nacht geworden, auf dem kleinen Marktplatz des Ortes wieder. Wohin wollten wir eigentlich? Wohin sollten wir, wohin konnten wir, wohin durften wir? Der gesamte Platz war zugeparkt von russischen Militärfahrzeugen. Die Mannschaften waren abgestiegen und beschäftigten sich im Schein vieler kleiner Lagerfeuer. Von irgendwoher klang eine Mundharmonika herüber. Alles machte eigentlich einen durchaus friedvollen Eindruck, und man hatte nicht das Empfinden, dass die Soldaten sich etwa in Alarmbereitschaft befinden würden. Offenbar war die Front mittlerweile so weit entfernt, dass sie direkte Angriffe der deutschen Verteidiger nicht befürchten mussten.

Wir standen verloren am Rande des Marktplatzes, als ich ein paar Schritte von mir entfernt einen alten, bärtigen Russen entdeckte, der dabei war, von einem unförmigen Brotklumpen zu essen. Und ich hatte Hunger, großen Hunger! Ich überwand meine Scheu und ging auf ihn zu. „Klebba! Klebba, bitte!“ flehte ich ihn an. (Das russische Wort für „Brot“ hatte ich in den wenigen Tagen schon aufgeschnappt.) Unsere Blicke trafen sich, und mein Herz klopfte irre, denn wie konnte ich wissen, wie er reagieren würde... Der alte Mann in der verdreckten, braunen Uniform und der Pelzmütze auf dem zerzausten Kopf hielt inne, als würde er überlegen, ob Mitleid mit einem kleinen deutschen Jungen wohl erlaubt sei oder von seinen Vorgesetzten geduldet würde. Und dann ging ein Lächeln über sein Gesicht, das von einem schlohweißen, langen Bart bedeckt war. Er nahm seinen Brotklumpen, brach ein dickes Stück davon ab...und hob es gen Himmel! Ich sah verwirrt, wie ihm dicke Tränen in seinen Bart kullerten und hörte, wie er in einer mir unverständlichen Sprache mit erhobenem Kopf irgendwelche Worte murmelte, die wie ein Gebet klangen. Dann reichte er mir das gebrochene Brot, legte eine Hand auf meinen Kopf und schob mich, als wollte er diese Augenblicke herzlicher und mitfühlender Nähe zu einem Feinde schleunigst beenden, abrupt beiseite und verschwand in der Menge...

Diese Begegnung mit einem russischen Soldaten, der so ganz anders als die bisher erlebten war, hat mich nachhaltig beeindruckt, hat mich sehr gerührt. Da stand, wie auf einer Insel der Nächstenliebe inmitten aller Feindseligkeiten, aller Grausamkeiten, umgeben von Kriegsgetümmel und Hass, ein Mensch, ein barmherziger Mensch! Ich bin mir sicher: Er hat wirklich gebetet, als er „das Brot brach“ und es mir reichte. Nie werde ich ihn vergessen! Dieser Mann hat - das will ich an dieser Stelle gern einmal sagen - ganz wesentlich dazu beigetragen, dass es mir im Laufe von über sechzig Jahren gelungen ist, all die schrecklichen und unmenschlichen Geschehnisse „meiner Russenzeit“ zwar nicht zu vergessen, wohl aber, sie im milden Lichte besseren Verstehens zu betrachten. Denn eines steht ja unwiderlegbar fest: Den 2. Weltkrieg hat Hitler angezettelt. Die ersten Greueltaten und unbarmherzigen Zerstörungen dieses Krieges sind von deutschen Truppen begangen worden! Die Sowjetunion schlug zurück. Die Russen jagten die deutschen Feinde aus ihrem Land, sie nahmen Rache...

Bürgerreporter:in:

Klaus Perrey aus Hannover-Bothfeld

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