Kurzgeschichte
"Die Elbhexe"
Die kalte Elbe strömte träge vor der Stadt Wittenberg. Der Winter hatte die Landschaft fest im Griff, und die junge Frau, deren Hände blau vor Kälte waren, kniete am Ufer und wusch ihre zerschlissene Kleidung. Es war eine harte Zeit, besonders für jemanden wie sie.
Man nannte sie die “Elbhexe”. In den engen Gassen von Wittenberg flüsterten die Menschen über sie. Sie war eine Außenseiterin, eine Geächtete. Man mied ihren Blick, als wäre sie ansteckend. Doch niemand kannte ihre wahre Geschichte.
Ihr Name war Anna. Sie war jung, vielleicht gerade einmal zwanzig Jahre alt. Ihre Eltern waren vor Jahren gestorben, und sie hatte keine Verwandten mehr. Verzweifelt hatte sie versucht, in der Stadt Arbeit zu finden, aber niemand wollte eine Frau einstellen, die als Hure verschrien war.
Die kalte Elbe war ihr einziger Zufluchtsort. Hier konnte sie ihre Kleidung waschen und ihre Gedanken ordnen. Sie träumte von einer besseren Zukunft, von einem Leben ohne Vorurteile und Ablehnung. Doch der Winter war gnadenlos, und die Kälte fraß an ihren Kräften.
Weihnachten näherte sich, und Anna spürte, dass es ihr letztes sein würde. Sie hatte keine Familie, keine Freunde. Niemand würde nach ihr suchen, niemand würde ihren toten Körper in der Elbe vermissen.
Und so ließ sie sich treiben. Die Sterne funkelten über ihr, als sie sich langsam vom Ufer entfernte. Die Stadt Wittenberg lag hinter ihr, und die Dunkelheit umfing sie. Anna schloss die Augen und wartete auf das Ende.
Die Elbe nahm sie auf, trug sie fort. Und während die Welt sich weiterdrehte, verschwand Anna in der Kälte des Wassers. Ihr Name würde vergessen sein, ihre Geschichte verblasst. Aber vielleicht, irgendwo da draußen, würde jemand an sie denken und sich fragen, wer die junge Frau war, die in der Elbe ihre letzte Ruhe fand.
So endete das Leben der Elbhexe, einsam und vergessen, im eisigen Fluss vor Wittenberg. Weihnachten 1510.
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