Wahl-Raum- Spar- Kasten?- Die Piraten und das positive Chaos....
Auf dem Parteitag in Münster haben die Piraten Joachim Paul zum Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen gewählt. Die politischen Inhalte spielten keine Rolle.
Als endlich die Stimmen ausgezählt werden, fallen einigen schon die Augen zu. Bereits mehr als acht Stunden dauert die Suche der Piraten nach ihrem Spitzenkandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Den gesamten Tag über haben die Neu-Politiker ihr Lieblingsgetränk, die stark koffeinhaltige Limonade Club Mate, in sich hineingeschüttet. Am Ende hilft vielen selbst das nicht mehr, um den basisdemokratischen Marathon auf dem Landesparteitag in Münster durchzustehen. Rund zwei Wochen nach dem Bruch der rot-grünen Minderheitsregierung haben die Piraten in die Halle Münsterland zur Wahl des Spitzenkandidaten und Aufstellung der Landesliste geladen. Schneller als alle anderen Parteien. Niemand soll ihnen vorwerfen, sie seien schwerfällig und unorganisiert.
Zwei Stunden diskutieren sie allein über das Wahlverfahren, sechs Stunden stellen sich Bewerber für die Spitzenkandidatur vor. Jeder Kandidat darf vor dem Plenum Fragen beantworten, eine echte Vorauswahl gibt es nicht. Einer der Bewerber ist nicht einmal Parteimitglied und damit formal nicht wählbar, aber das fällt erst nach seiner Rede auf. Während in der FDP die drei starken Männer Daniel Bahr, Gerhard Papke und Christian Lindner die Spitzenkandidatur unter sich auskungelten, dauert die Kür des obersten Piraten einen ganzen Tag. Am Ende bekommt der 54-jährige Medienpädagoge Joachim Paul knapp mehr als 50 Prozent Zustimmung. Für die weiteren Listenplätze gibt es eine zweite Wahlrunde. "Damit werden wir aber heute
nicht mehr fertig", sagt der Wahlleiter.
"Das ist der ganz normale Wahnsinn eines Piratenparteitags", sagt Christoph Lauer. Er sitzt für die Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus und will seinen Kollegen an Rhein und Ruhr beim Wahlkampf helfen. Zusammen mit der politischen Geschäftsführerin Marina Weisband hatte er am Morgen auf die Mitglieder eingeredet. "Überprüft nochmal, ob ihr wirklich kandidieren wollt, ob ihr euch das psychisch und physisch zutraut", sagt Weisband. Doch die Worte der erfahrenen Piratin verhallen.
Knapp 200 Kandidaten drängen auf die Landesliste, allein 56 bewerben sich für Platz eins, vom Handwerker bis zum Rechtsanwalt. Einige sind erst kurz vor dem Parteitag Mitglied geworden. Es lockt eine schnelle Landtagskarriere, denn in den Umfragen liegen die Piraten zwischen fünf und sechs Prozent. "Man kann viel erzählen, die Leute müssen das selbst ausprobieren", sagt der Berliner Pirat Lauer und klingt dabei fast resigniert. Im Reifeprozess der jungen Partei ist die Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland der endgültige Schritt zum Erwachsenwerden.
Doch die NRW-Piraten sind nicht einfach chaotisch oder unerfahren – sie wollen es genau so haben. "Wenn wir könnten, würden wir noch die ganze Nacht hier in der Halle sitzen", sagt Richard Kratzer aus Aachen. "Diese Basisdemokratie ist der Grund, warum ich bei den Piraten und nicht in einer anderen Partei bin." Falls die Piraten in den Landtag einziehen, wollen sie auch dort nach dem Prinzip "Alle bestimmen über alles" weitermachen.
Wie das in der alltagspolitischen Praxis funktionieren kann, ist noch unklar. Ein Vorschlag: Alle vier Wochen könnte eine Art Internetparteitag über die wichtigen Sachthemen abstimmen. "Die basisdemokratische Struktur ist unser Markenkern. Das dürfen wir nicht aufgeben", sagt Daniel Schwerd, Vorsitzender des Kölner Kreisverbandes. Zum basisdemokratischen Bekenntnis kommt bei den Piraten eine ausgeprägte Allergie gegen Machtstrukturen hinzu. Die bekommt auf dem Parteitag vor allem der Vorsitzende des Landesverbandes Michele Marsching zu spüren. Er hatte sich gute Chancen auf den ersten Listenplatz ausgerechnet, doch schnell wird klar, dass es ein enttäuschender Tag für ihn werden wird.