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Tag der Deutsche Einheit- Feierstunde

Ganz nah dran und lesbar.....

Rede der Präsidentin des Bundesrats,
Ministerpräsidentin Hannelore Kraft,
anlässlich
des Festaktes
zum Tag der Deutschen Einheit
am 3. Oktober 2011
in Bonn
- Es gilt das gesprochene Wort -

Willkommen in Nordrhein-Westfalen am Festtag der Demokratie Anrede,
ich begrüße Sie herzlich in Nordrhein-Westfalen.
Wir sind stolz darauf, dass wir den Tag der Deutschen Einheit gemein­sam in unserem Land feiern, an einem besonders geschichtsträchtigen Ort: in der Bundesstadt Bonn. Hier, am Rhein, lebten bereits vor 2000 Jahren Menschen in einer befestigten Römerstadt. Hier erblickte Ludwig van Beethoven das Licht der Welt. Hier in Bonn nahm die zweite Demokratie auf deutschem Boden ihren Anfang: 50 Jahre lang ist die Bundesrepublik von Bonn aus regiert worden und auch deshalb ist Bonn bis heute Sitz zahlreicher Ministerien und Institutionen des Bundes.
Ich begrüße und danke Herrn Oberbürgermeister Nimptsch sehr herzlich dafür, dass wir in dieser besonderen Stadt zu Gast sein dürfen. Wir fühlen uns sehr wohl hier in der Bundesstadt. Die Bonnerinnen und Bonner sind exzellente Gastgeber, mit viel Humor, Offenheit und Gelas­senheit – eine ganz besondere Mischung, die typisch für Bonn, aber auch für die anderen Regionen in Nordrhein-Westfalen ist.
Den Tag der Deutschen Einheit haben wir bereits 1995 in Nordrhein-Westfalen gefeiert. Der damalige Bundesratspräsident und Ministerprä­sident unseres Landes, Johannes Rau, hat vor 16 Jahren in Düsseldorf sehr bewegend an die wechselhafte deutsche Geschichte erinnert, die auch viele schreckliche Tage hatte. Der 3. Oktober aber sei ein „glück­licher Tag“, denn er zeige, so Johannes Rau, „dass auch uns Deutschen Geschichte gelingen kann“.
Besser lässt es sich nicht ausdrücken. Der 3. Oktober war ein Sieg der Demokratie über die Diktatur, eben „gelingende Geschichte“. Wir werden nicht vergessen, dass die demokratische Bürgerrechtsbe­wegung in der damaligen DDR die Verhältnisse dort ins Wanken gebracht hatte. Der Freiheitswille der Menschen hatte gesiegt und die Mauer der Unfreiheit buchstäblich niedergerissen.
Der 3. Oktober ist darum der Tag, um uns die Freude in Erinnerung zu rufen, die damals ein ganzes Volk erfasst hatte: Freude und Triumph über das überfällige Ende einer unmenschlichen Grenze, über das Ende einer beklemmenden Diktatur, über die Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Erinnerung kann und darf 21 Jahre später nicht zu einer Routine werden. Wir müssen sie lebendig halten. Diese Verpflichtung zur Erin­nerung haben gerade wir, die wir die Einheit Deutschlands persönlich sehr direkt erleben durften, gegenüber der Generation, die jetzt in die Verantwortung hineinwächst. Für die Generation unserer Kinder und Enkelkinder sind deutsche Teilung und Mauer inzwischen nur noch eines der letzten Ka­pitel im Geschichtsbuch. Immer mehr junge Menschen und Jugendliche können mit den Kategorien „West“ und „Ost“ nicht mehr viel anfangen. Gott sei Dank! Für sie ist das geeinte Deutschland längst normal. Das zeigt, dass Deutschland wirklich zusammengewachsen ist. Das „Projekt Einheit“ ist besser und schneller vorangekommen als von vielen erwartet. Und doch bleibt die Verpflichtung, an die Überwin­dung der Teilung zu erinnern und an die Menschen, die sie erkämpft haben. Ebenso bleibt die Verpflichtung, die Erinnerung und das Anden­ken an die zahlreichen Opfer wach zu halten, die den Versuch, aus der DDR zu fliehen, mit ihrem Leben bezahlt haben.
Der 3. Oktober bleibt darum ein Tag großer nationaler – und darüber hinaus sogar europäischer Bedeutung. Denn ohne die Solidarität Euro­pas wäre damals die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Und ohne ein vereintes Deutschland wäre auch der europäische Einigungs­prozess der letzten zwei Jahrzehnte nicht möglich gewesen. Der 3. Oktober hält das Bewusstsein dafür wach, dass vor 21 Jahren etwas möglich geworden ist, das für Jahrzehnte als ausgeschlossen galt:
• eine friedliche Wiedervereinigung,
• eine Wiedervereinigung im großen Einvernehmen mit unseren Nachbarn,
• eine Wiedervereinigung in Freiheit und Demokratie,
• eine Wiedervereinigung nicht in einem Niemandsland zwischen verfeindeten Blöcken, sondern im Kreis freiheitlicher Demokratien.
Und wir dürfen nie vergessen, dass diese Freiheit in Frieden nicht selbstverständlich ist, sondern wir uns auch in Zukunft immer wieder für sie stark machen, sie gegen Angriffe verteidigen müssen.
Als Wiege der westdeutschen Demokratie ist Bonn ein idealer Ort, um den Tag der Deutschen Einheit zu feiern. Es gibt noch einen Grund, heute gerade in Bonn zu sein: In dieser Stadt lässt sich an jeder Stra­ßenecke ablesen, wie sehr die deutsche Einheit unser Land verändert hat und wie tatkräftig dieser Wandel angepackt wurde. Das zeigte sich bereits kurz nach dem 20. Juni 1991, vor gut 20 Jahren, nachdem der Bundestag den Umzug von Parlament und Teilen der Bundesregierung nach Berlin beschlossen hatte. In Bonn wurde mit Unterstützung von vielen Seiten sehr rasch damit begonnen, die alte Hauptstadt zu einer internationalen Stadt und zu einem attraktiven Wirtschafts- und Wissen­schaftsstandort zu entwickeln. Das ist hervorragend gelungen. Weil Veränderungen nicht einfach erduldet, sondern mit großem Mut und Kraft gestaltet wurden.
Das ist übrigens typisch für unser Land. Wir in Nordrhein-Westfalen ha­ben seit 65 Jahren Erfahrung mit tiefgreifenden Veränderungen. In die­sem Land haben die Menschen große wirtschaftliche, soziale und ge­sellschaftliche Umbrüche bewältigt. Dieser Wandel wurde nicht von oben verordnet und von oben herab dirigiert, sondern mit den Menschen und von den Menschen gestaltet. So ist dieses Land über die Jahre zu­sammengewachsen, ein Land der Vielfalt, mit sehr liebens- und lebenswerten Regionen. Aber vereint in dem Glauben und der Gewissheit gemeinsam große Herausforderungen bewältigen zu können und in der Entschlossenheit niemals aufzugeben: für eine bessere Zukunft.
Ich möchte zwei Herausforderungen ansprechen, bei denen wir diese Entschlossenheit heute wieder brauchen: Das ist erstens: die Herausforderung der europäischen Einheit. Und Zweitens: Unser demokratisches Gemeinwesen weiter zu stärken.
Herausforderung Europa Wir erleben aktuell, wie überaus mühsam und kompliziert es ist, in Ab­stimmung mit unseren europäischen Partnern unsere gemeinsame Währung, den Euro, zu stabilisieren. Wir erleben, dass es immer noch nicht gelungen ist, Auswüchse auf den Finanzmärkten zu verhindern und diesen Märkten stabile Leitplanken zu geben. Solche Erfahrungen lassen die Versuchung aufleben, sich in die vermeintliche nationale Idylle zurückzuziehen und zu sagen: Lasst es uns doch lieber alleine versuchen. Es wäre ein historischer Fehler, dieser Versu­chung nachzugeben! Denn es gibt diese Idylle schlicht nicht, die vorge­gaukelte Wärme der guten alten Zeit, in der nationale Alleingänge mög­lich schienen. Die Gewichte in der Welt verschieben sich.
Neue starke Akteure haben die Weltbühne betreten, Indien, China und Brasilien beispielsweise. Darum wird selbst ein ganzer Kontinent wie Europa zunehmend Mühe haben, sich in der Welt Gehör zu verschaffen und wirtschaftlich zu reüssieren. Ein Land alleine kann das erst recht nicht, auch nicht ein starkes Land wie Deutschland. Wir können unsere Interessen in einer globalisierten Welt darum gar nicht wirksamer vertreten als im Schulterschluss mit unseren europäischen Freunden.
Die Antwort auf die aktuelle Krise ist daher nicht weniger, sondern mehr Europa! Wir müssen gemeinsam handeln und die Demokratie in Europa stärken. Wir müssen den Menschen ein Europa bieten, das für Gerechtigkeit, sozialen Ausgleich und faire Chancen steht. Doch dies kommt nicht von selbst und aus sich heraus, sondern dafür müssen wir gestalten und entscheiden wollen. Europa ist eine fortwährende Aufgabe.
Herausforderung Demokratie und Bürgerbeteiligung Genauso bleibt es eine kontinuierliche Herausforderung, unser demokratisches Gemeinwesen gesellschaftlichen Veränderungen und neuen Entwicklungen anzupassen.
Wir müssen Acht geben, dass un­sere Gesellschaft nicht auseinanderdriftet in einen kleineren Teil, der noch Anteil an Politik nimmt, und vielleicht auch mitgestalten will, und in eine wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, die mit Politik nichts mehr anfangen können oder wollen.
Hannah Arendt hat einmal gesagt: „Was den Menschen zu einem politi­schen Wesen macht, ist seine Fähigkeit zu handeln; sie befähigt ihn, sich mit seinesgleichen zusammenzutun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hätten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: etwas Neues zu beginnen.“ Wenn wir unser Gemein­wesen und unsere Demokratie lebendig und stark erhalten wollen, müs­sen wir in diesem Sinne unsere Bürgerinnen und Bürger stärker ermuti­gen, politisch mündige Menschen zu sein – und sein zu wollen. Sonst verlieren wir die Kraft, „Neues zu beginnen“.
Ja, wir brauchen dazu Mut, einen zweifachen Mut: Den Mut der Politik, sich den Bürgerinnen und Bürgern intensiver zuzuwenden. Eine stärkere Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in politische Entscheidungen ist ein Prozess, der nicht ohne Anstrengungen und auch nicht ohne Fehl- oder Rückschläge verlaufen kann. Zu den wohl schwierigsten Aufgaben in diesem Prozess gehört es, darauf zu achten, dass wir nicht nur Partikularinteressen zum Durchbruch verhelfen, unre­alistische Erwartungen schüren oder uns gar in Blockadesituationen manövrieren.
Dazu müssen wir neue Wege der Beteiligung und der Kommunikation in Richtung Demo­kratie 2.0 nutzen. Denn mit den neuen Medien, Internet und sozialen Netzwerken öffnen sich auch neue Türen des direkten Austauschs, der offenen Debatte und der vertieften Information.
Erfolgreich kann dieser Prozess nur gelingen, wenn dazu auch die Bereitschaft, der Mut der Bürgerinnen und Bürger tritt, sich auf diesen Dialog einzulassen. Was sich zum Teil als Wut auf „die da oben“ artikuliert, muss in einen konstrukti­ven Austausch gewandelt werden. Mut statt Wut! So werden aus Be­troffenen Beteiligte.
Gute Bürgerbeteiligung muss viele Voraussetzungen erfüllen. Deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass wir gesellschaftliche Schief­lagen nicht noch steigern, dass sich Beteiligungsangebote und -mög­lichkeiten nicht nur an diejenigen richten, die ohnehin ihre Anliegen und Interessen zu artikulieren und einzubringen wissen. Eines der ganz wichtigen Anliegen ist schließlich, dass junge Menschen schon früh mit­gestalten können: in Familie, in der Schule, an der Hochschule, in ihrem unmittelbaren Le­bensumfeld, in der Gemeinde, aber auch auf Landes- und Bundes­ebene.
Um nicht falsch verstanden zu werden, möchte ich betonen: Es darf keine Abkehr vom Prinzip der repräsentativen Demokratie geben. Ge­wählte Volksvertretungen, demokratisch legitimierte Gremien der Ent­scheidungssuche und Entscheidungsfindung haben sich nicht nur in Deutschland bewährt. Wir sollten mit neuen Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger die Partizipation stärken, bewährte politi­sche Verfahren ergänzen, aber wir können diese nicht er­setzen. Mit repräsentativer Demokratie hat Deutschland und hat Europa 60 Jahre Frieden und Wohlstand erlebt. Das gilt es zu bewahren. Gleichzeitig müssen wir auch nach Wegen suchen, um unsere parlamentarische Demokratie zu vitalisieren.
Wir dürfen im „Po­litischen Betrieb“ nicht um uns selbst kreisen, nicht in Selbstbeschäfti­gung versinken. Wir müssen darauf achten, dass mehr von unserem Handeln tatsächlich bei den Menschen ankommt. Für sie ist es am Ende nicht entscheidend, welche politische Ebene zuständig ist, sie wollen, dass wir spürbar vorankommen. Darum müssen wir als Politiker das Denken in Schubladen überwinden. Die Frage ist nicht, ob die EU, der Bund, die Länder oder die Gemeinden den Schwarzen Peter oder den Trumpf in der Hand halten, sondern die Frage ist, wie wir gemeinsam dafür sorgen, dass Probleme gelöst werden. Beispielsweise müssen wir gemeinsam sicherstellen, dass wir in Deutschland kein Kind mehr zurücklassen. Dass alle, gleich welcher Herkunft, faire Chancen haben.
Das erfordert ein Denken und Handeln, das langfristig angelegt ist, weit über eine Legislaturperiode hinaus. Wir müssen bei politischen Entscheidungen deren Wirkung über eine Spanne von Jahrzehnten im Auge haben und dürfen nicht in einem Zuständigkeitsgerangel stecken bleiben. Es erfordert ein Handeln, das sich nicht allein nach der eigenen, schnellen politischen Rendite orientiert, sondern sich darauf ausrichtet, was wir heute tun müssen, damit es unseren Kindern und Kindeskindern besser geht. Das erfordert eine grundsätzliche Orientierung und eben keine Ausrichtung an der jüngsten politischen Meinungs­umfrage.

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