Ein lyrischer Gesang: Wind und Wasser
GESANG DER GEISTER ÜBER DEN WASSERN
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.
Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.
Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmutig
Stufenweise
Zum Abgrund.
Im flachen Bette
Schleicht er das Wiesental hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.
Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
Johann Wolfgang von Goethe.
Eigentlich neigte ich dazu, ein anderes Foto zu diesem Gedicht Goethes zu wählen; dann sagte ich mir, dass ein Bild auch ohne beeindruckende visuelle Ergänzungen - gleichsam als stiller Begleiter des bedeutenden Wortes - eine gute Wahl ist.
Dieser Ort an der Wörnitz - man sieht hinter den Bäumen links das Kloster Heilig Kreuz - ist insbesondere bei Hochwasser immer wieder ein beliebter Platz für Spaziergänger, nicht sensationell, aber irgendwie beeindruckend.-
Das Gedicht Goethes erzählt in einer einfachen, gleichnishaften Sprache: manchem mag diese Art zu naiv, zu arkadisch, vielleicht erscheinen. Die gewählte Form der lyrischen Artikulation ist definitiv in jener Einfachheit und elementaren Ausdruckskraft gehalten, die man "klassisch" nennen könnte.
Insbesondere derjenige, der selber schon einen Text - ob lyrisch oder episch - gestaltet hat und dabei eine einfache, aber ausdrucksvolle Weise suchte, wird ermessen können, wieviel eine solche durch und durch harmonisch-elementare Ausdrucksform bedeutet.
Ich persönlich schätze dieses Gedicht, da es innerhalb dieser Stilistik eines der formvollendetsten Beispiele ist, obgleich das Gedicht immer Gefahr läuft durch die Gleichnisebene ins Akzidentielle und Zufällige abzugleiten.
Wasser - Element des Lebens! Ja, soweit es Wasser ist, bewegt es sich immerfort und wunderschönen zyklischen Strömen, die viel umfassen können - auch die Bewegungen innerhalb des menschlichen Organismus.