Momo - Ein faszinierendes Märchen über das Menschsein und das Geheimnis der Zeit
Märchenspiel auf der Freilichtbühne am Mangoldfelsen nach dem Roman von Michael Ende
Text: Ulrike Schweihofer
Regie: Martina Gerstmeier / Co-Regie: Angelika Dietenhauser
Musik: Michael Zinsmeister
Die Kinder- und Jugendgruppe des Theaters Donauwörth
Es ist m e h r und auch a n d e r s als das, was wir gewöhnlich unter einem Märchen verstehen: Zunächst ist es eine Geschichte, die erzählt und gespielt wird durch das Ensemble (Kinder- und Jugendgruppe) des Theaters Donauwörth unter der Regie von Martina Gerstmeier (mit Angelika Dietenhauser) auf der Freilichtbühne am Mangoldfelsen. Es ist ein Bühnenspiel, das gerade in dieser Inszenierung ebenso sehr einem Märchen wie einem impressionistischen Drama, einem Bühnenstück, das die traditionelle Form einer naiv-realistischen Darstellung verlassen hat, u m nicht nur äußere Handlung, sondern auch Seelenwelten darzustellen. Darin berührt dieses Bühnenstück nach Michael Endes Roman wiederum das Märchen.
Denn es geht nicht um Ereignisse oder Handlungen in erster Linie, was bald, aber ganz allmählich erst dem Zuschauer bewusst wird. Äußeres Geschehen der Geschichte und i n n e r e Realität tauchen gleichermaßen auf der Bühne. Auf kunstvolle, ja verspielt künsterlische Weise, als wäre es das natürlichste der Welt, dass innere, geistig-seelische Wirklichkeit und äußere Handlungswirklichkeit zusammengehören und ebenso dargestellt werden, gelingt es dieser Inszenierung, inneres Erleben wie äußere Handlung und Geschehen durch Bilder und Dialoge darzustellen. Illuminiert durch die eindrucksvolle, in allen Szenen überaus einfühlsame Musik von Michael Zinsmeister, führt uns Momo, ein kleines Mädchen (fantasie- und ausdrucksvoll gespielt durch Anette Schiz), in eine vertraut anmutende Welt ein: Kinder in einem Dorf, anfänglich eine bezaubernde Idylle, die miteinander spielen, zusammen Abenteuer erleben, die Umgebung der Erwachsenen leicht im Hintergrund.
Momo, die selbst in der Ruine eines Amphitheaters lebt, dezent-zierlich, die gerne Besucher in ihrem Zuhause empfängt und ihnen zuhören kann, scheint unmittelbar und intuitiv einen Blick dafür zu haben, was wesentlich ist: Sie wird in ihrer Art geliebt, von ihren Freunden und den Dorfbewohnern.
Aber da tauchen eines Tages geheimnisvolle Fremde auf, die Agenten einer "Zeit-Sparkasse", die listig alle zu umgarnen versuchen, "Zeit zu sparen", etwa den Friseur Fusi (ausdrucksvoll und gekonnt gespielt von Frederik Egger, auch in seinem Solo-Gesangspart überzeugend): Wie groß denn sein Zeitguthaben sei? Milliarden Sekunden (bei einer kalkulierten Lebenszeit von 70 Jahren)! Und wieviel Zeit er denn da täglich sparen könne? Gespräche mit Kunden? Vergeudete Zeit! Besuche bei einer an den Rollstuhl gefesselten Frau? Wozu denn? Hm!
Viele und immer mehr im Dorf lassen sich von den vier Grauen betören und überlisten (präsentiert durch Carina Wagner, Clarissa Lo Guasto, Andrea Walden und Julia Schwab). Rational, sprich: rein pragmatisch-zweckdienlich sollen sich alle ihre Zeit einteilen, ausgerichtet auf ihren beruflichen Erfolg, alles "Überflüssige" meidend, diese tausend kleinen, freundlichen Gespräche, Gesten und Begegnungen, denn diese seien "Zeitverschwendung".
Michael Endes Klassiker wurde behutsam für eine Bühnendarstellung angepasst, nach einem Text von Ulrike Schweihofer, wobei die Erzählerin (Britta Lang) das Publikum einen stimmungsvolles, in die szenische Darstellung harmonisch sich einfügendes Vademecum bietet, eine Erzählerin, die gekonnt durch die Handlung führt.
Es ist klar, die vier Agenten der Zeitsparkasse müssen in Momo einen zu bezwingenden Kontrahenten sehen: Sie, die intuitiv sieht und erlebt, was wirklich im Leben wesentlich und wertvoll ist, die keinen Sinn für eine rein utilitaristische Ausrichtung des Lebens, orientiert an dem, was die Grauen als "nützlich" ansehen, aufweist.
So wird ein Agent zu Momo geschickt, er soll Momo auch überlisten und bezirzen wie die anderen. Aber Momo widersteht - und mehr noch: Sie entlockt, da sie von Menschlichkeit und Zuneigung, von menschlicher Wärme und Nähe spricht - etwas, das dem Agenten fremd sein muss - dessen Geheimnis: Die Agenten stehlen den Menschen ihre Zeit!
Nachdem auch Beppo, der Straßenkehrer (Bastian Lang), von dem Komplott der Agenten erfahren hat (er belauschte deren Gerichtsverhandlung über den unvorsichtigen Agenten, der mit "Zeitentzug" bestraft wird), organisieren die Kinder nach einem kleinen Kriegsrat in der Ruine eine Demonstration gegen die immer zahlreicher werdenden Agenten, ein amüsantes Intermezzo, das an dieser Peripetie des Stücks, auflockert und mit reichlich Applaus durch das Publikum belohnt wird.
Gigis Rolle, Momos bester Freund (Frank Litzl), intensiviert und konkretisiert das zentrale Thema, ein wesentlicher Part, der gewissermaßen noch eine anschaulichere Innenansicht der Problematik bietet: Gigi, der immer mit den anderen Freunden Momo besucht hat, träumt von einer großartigen Karriere als Star und Sänger, vom Berühmtsein, von "Erfolg". Was ist Erfolg? Es gehört zu den Stärken des Stücks, dass zentrale Aspekte des menschlichen Lebens, eben auch und insbesondere beruflicher Erfolg, nicht abstrakt, sondern unmittelbar konkret und authentisch hinterfragt und durchleuchtet werden.
Wie Gigi anfangs ganz einfach mit einem Motorroller daherbraust, so taucht er bald, nachdem er Karriere gemacht hat, umgeben von Showgirls in einem teuren Cabriolet auf, umschwärmt wie eben ein Star, berühmt und von seinen Fans angehimmelt. Aber etwas befremdet ihn: Er ist nicht glücklich mit dem, was sein "Erfolg" aus ihm und seinen Leben gemacht hat, er vermisst etwas ... .
Und die anderen Kinder? Alle kommen sie noch einmal zu Momo und berichten, wie es ihnen j e t z t ergeht, wie eigentlich alle, insbesondere die Eltern zu Hause, keine Zeit mehr haben, wie üppiges Taschengeld als Alibi für entzogene Zuwendung verwendet wird, wie gemeinsam erlebte Zeit in der Familie zu einer Rarität geworden ist.
Wo ist diese Zeit hin, die allen so wertvoll war und ist? Wohin die glücklichen Stunden, die gemeinsam erlebte Freude, die Lust am Kindsein? Am Spiel? Wie kommt das? Ist das eine Epidemie? Eine ansteckende Krankheit, die die Fremden in das Dorf gebracht haben? Das ursprünglich so freundliche, heitere und von allen mitgetragene Zusammenleben aller, scheint wie ausgetrocknet, wie eine sprudelnde Quelle, die versiegt ist und kein Wasser mehr den Menschen spendet.
Alle wirken wie Zombies, wie hektisch agierende Roboter, die ihren Zielen, egozentrisch von den Anderen abgewandt, nachjagen ... .
Als Momo ganz traurig schon und von allen verlassen sich wähnt und ratlos, da taucht Kassiopeia auf (Jessica Becker). Sie tröstet Momo und führt sie zu Meister Horas (Johannes Koch) Domizil. Die Agenten, die Momo und Kassiopeia belauscht haben, folgen, aber bleiben wie erstarrt vor dem Domizil des Meisters stehen. Ob Momo vom Meister Hora das Rätsel der Zeit erfährt? Ob er ihr helfen kann? Und ob die Agenten am Schluss siegen oder vertrieben werden?
Alles darf auf keinen Fall hier verraten werden - außer dass noch eine Fülle abenteuerlicher Facetten auf die Zuschauer warten, um gesehen und miterlebt zu werden. Und auch das darf hier gesagt werden, dass auch in diesem Jahr wieder - nach den fantastischen Erfolgen von "Alice im Wunderland" oder den "Drei Rätseln des Feuerfalken" alle im Ensemble zu einem faszinierenden Märchen nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene gekommen sind, durch ihr authentisches Spielen, durch eine ebenso kurzweilige wie auch in vielen Aspekten tiefsinnigen Geschichte, die aktueller und wesentlicher erscheinen kann denn je, zielt sie doch auf die Mitte des Menschseins und das große Rätsel der Zeit, das in ihrer ganzen Ambivalenz und Bedeutung beleuchtet und aufgegriffen wird, gerade in dieser Art, wie es diese Bühnenfassung des Klassikers von Michael Ende in schönster Weise gestattet ... .
Vielen Dank für Eure Anmerkungen! Ja, seit ich Momo gesehen habe und jetzt erst vor kurzem wieder mich in die Rezeptionsgeschichte der Arbeiten Michael Endes vertiefte, beschäftigt mich dieses große Rätsel der Zeit auch wieder selbst. Und eben auch die Ideen Michael Endes.
Es ist wirklich so: "Zeit" ist ein abstrakter Ausdruck unserer energetischen Gegenwart im Raum-Zeit-Kontinuum, eigentlich ein wirkliches Rätsel, denn unsere ganze Realität scheint in einem Augenblick zu beruhen, der Gegenwart, dem Jetzt und Hier, während alles Vergangene sich unserem Zugriff entzogen scheint.
Und auch wenn wir planen, Wünsche und Träume hegen für die Zukunft - wir können es allein in der Gegenwart bewirken.
Wie ein kleines Schiff auf den Wogen der Zeit bewegt sich jedes Ich durch den Strom des Lebens. Wir erleben und nehmen wahr, wir begegnen Menschen, und wenn wir bedenken, was unsere persönlich größte Bedeutung davon hat - dann sind es eben diese Menschen - nicht alle, aber doch viele auf verschiedene Weise - die uns motivieren und anspornen können, vielleicht gerade an dieser Menschlichkeit zu arbeiten.
Dann und nur dann, wenn wir wirklich mit Liebe (ein vielbenütztes Wort, aber vielleicht im Deutschen das einzig treffende, im Englischen könnte hier "appreciation" stehen), Sympathie und Wohlwollen gestalten und wenn wir spüren, dass unser kreatives Arbeiten miteinander und füreinander im Grunde das Bedeutsame ist, dann ist es ein Hauch des Schönen und Ewigen, der uns "anweht" ... .
Das menschliche Dasein wächst durch kreatives, soziales Leben. Durch Kunst können wir einander auf einer schönen und bedeutsamen Ebene begegnen, denn unser innerstes Wesen können wir selten durch Alltagsworte adäquat ausdrücken.
Gerade hier freue ich mich, mich zu erinnern, wie dieser Enthusiasmus des künstlerisch-schönen Schaffens bei den Kindern und Jugendlichen bis zu ihren beiden Regisseurinnen motivierte und wehte ... .
Den philosophiegeschichtlichen Kontext möchte ich jetzt hier noch nicht ansprechen; vielleicht kommen ja noch Kommentare, die auf das zielen, was dieses ausdrucksvolle Märchenspiel tatsächlich im positiven Sinn bedeuten kann.
Noch eine kleine Assoziation: Im Englischen sagt man "to spend money und to spend time (weekend, holiday usw.).
Geld ist keineswegs zu profan, als dass es nicht tatsächlich auch im Märchen (wie im menschlichen Leben) eine bedeutsame Rolle spielte ... .