Buchvorstellung
„Zeitreise“ verbindet Familiengeschichte mit Sozialgeschichte
500 Jahre niedersächsische Geschichte auf rund 450 Buchseiten. Dem in gut eineinhalb Seiten für die NLF-Rundmail gerecht zu werden, ist nicht einfach. Hans-Jürgen Brandt (geb. 1946) ist Jurist und Politologe, war Richter und in der Entwicklungszusammenarbeit und Friedensforschung tätig.
Das ist auch an diesem Buch zu erkennen, an den Reflektionen seiner Motive (S. 9f.) seiner Methoden (S. 14f.) und der Quellen (S. 16f.) und an den zahlreichen Belegen und Erläuterungen in fast 2000 Fußnoten.
Die Zeitreise durch 13 Generationen Familiengeschichte (1) beginnt mit einer Bauernfamilie um 1500 in der Lüneburger Heide, ist bis 1800 auf eine dürre Quellenlage angewiesen (2), die seither stetig dichter wird, und neben Bauern auch Soldaten, Gastwirte, Handwerker und Unternehmer in den Regionen um Celle, Braunschweig, Bad Gandersheim und Hameln enthält. Dabei konnte auf größeren Vorarbeiten von Carl Brandt (1867 – 1953) aufgebaut werden.
Brandt nimmt die Perspektive der Alltagsgeschichte ein, bindet übergeordnete Entwicklungen, Ereignisse und Strukturen ein. Zwar ist es nicht eines „von wenigen, die ‚Geschichte von unten’ erzählen“ (3) – glücklicherweise , aber Brandt legt eine gelungene und für Niedersachsen seltene, epochenübergreifende Arbeit vor. Das Buch zeigt, dass man durchaus „Fleisch“ an das dürre Gerippe genalogischer Daten bringen kann. Familienkundler können inzwischen profitieren von Angeboten wie dem sechsten Fachtag für Ortschronisten und Heimatforscher in Sachsen (5) oder den in Niedersachsen von Prof. Carl-Heinz Hauptmeyer und Dr. Karl H. Schneider angestoßenen regionalhistorischen Ansätzen.
Thies Brand, Vollhofbesitzer in Altenhagen/Celle (S. 36) ist der früheste bekannte Brand, vermutlich, da Kirchenbucheinträge nicht vorhanden sind, um 1490 geboren. Nach sechs Generationen von Bauern dominierten Soldaten und Gastwirte in den nächsten drei Generationen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts in Eversen, Sülze und in Celle.
Nach schwerer wirtschaftlicher Not der Brandts ergriff Friedrich Brandt in Braunschweig den Beruf des Malers und ließ sich in Bad Gandersheim nieder. Dort konnte er in die Wagenfabrik Bock einheiraten, in der er zuvor schon eine leitende Stellung erreicht hatte. Vier Generationen Brandt waren in Bad Gandersheim und Hameln als Malermeister und Unternehmer tätig.
Hans-Jürgen Brandt erörtert in angemessener Weise die Lebensumstände der Brandt-Vorfahren, erwägt die Motive und Gründe für Entscheidungen und Ereignisse in ihrem Leben. Manche Kleinigkeiten sind nicht zu belegen, scheinen aber gut möglich zu sein und lassen das Buch flüssiger lesen – etwa eine „peinlich genaue Buchführung“, „er kleidete sich gerne elegant“ (S. 216, 217).
In der Retrospektive (S. 348 ff.) führt Brandt eine Familienanalyse über alle 13 Generationen Lebensalter, Heiratsmuster, Geburtenraten und Kindersterblichkeit, Paarbeziehungen, Beziehungen zu den Kindern, Familienidentität (soweit das Wissen über die ersten neun Generationen dafür ausreicht). Auch das Thema Wesensmerkmale, Krankheiten und Traumata (S. 371ff.) diskutiert Brandt angemessen vorsichtig.
Mein Fazit: Brandts „Zeitreise“ ist eine beeindruckende Arbeit. Sie kann und sollte andere Familienforschende anregen, auch bei kleineren Arbeiten Familien-, Sozial- und Regionalgeschichte zu verbinden. Und sie ermutigt, den Nutzen anderer wissenschaftlicher Ansätze z.B. aus der Soziologie auszuloten.
Hans-Jürgen Brandt, Zeitreise. Durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln, Hamburg 2022
Anmerkungen
(1) Über 200 Jahre und fünf Generationen Aymard in und um Angoulême und ihr Umfeld siehe http://pr-weigang.de/geschichte-n-der-kleinen-leute/
(2) Emmanuel LaDurie hat 1975 gezeigt, wie man in der Tiefe schürfen kann: Emmanuel LaDurie, Montaillou. Ville occitan de 1294 à 1324, Paris 1975, Deutsch: Montaillou. Ein Dorf vor dem Inuisitor, Frankfurt 1980, kritisch neu bewertet von Michaela Hohkamp, in: Werkstattgeschichte, Heft 84 (2021), S. 151-155
So die Verlagswerbung auf facebook, 25.11.2022
(3) Angestoßen durch Sven Lindquist, Grabe wo Du stehst,1978, https://kritisch-lesen.de/rezension/stehen-wo-man-grabt, bildeten sich bundesweit viele Geschichtswerkstätten und eine Bundesgeschichtswerkstatt, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichtswerkstatt und https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/interviews?nav_id=7770.
(4) https://www.slk-miltitz.de/heimatforschung.html
Bürgerreporter:in:Stefan Weigang aus Garbsen |
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