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Müllerhände bemalen Hausbaum und Wände

Die Wettmarer Bockwindmühle als Träger heimlicher Botschaften

Wenn wir in der Region Hannover durchs Land fahren, sehen wir - neben der aufdringlichen Konsumwerbung - an den Giebeln der Fachwerkhäusern kunstvolle historische Inschriften oder z.B. an Backsteingiebeln jüngerer Häuser das Baujahr, das in besonderer Weise hervorgehoben ist. Wir sehen Zeichen, die uns, den Betrachtern, etwas mitteilen sollen, das den Eigentümern als Botschaft wichtig war.
Auch die Bockwindmühle in Wettmar enthält eine Reihe von Botschaften: Außen an einer der Kreuzschwellen befindet sich das Emblem der „Mühlenvereinigung Niedersachsen-Bremen“, Zeichen der Verbandszugehörigkeit, und ein Stück Balkenausschnitt mit der Jahreszahl 1861, dem Jahr einer Restaurierung im 19. Jahrhundert. Im Innern der Mühle befindet sich am „Hammer“, dem Haupttragebalken, eine Inschrift, die von der Restaurierung 1798 berichtet, darunter eine weitere aus dem Jahr 1947 von dem damaligen Eigentümer, dem Bäcker Delfs aus Hannover, und eine ganz neue Schrift „Fuhrberger Zimmerei“ an der Treppe zum Steinboden, ein Hinweis auf die Firmenspende bei der Restaurierung 2010.
Diese Zeichen sind auffällig gestaltet, sie fallen ins Auge, wenn man sich kurz umsieht. Ein paar andere sind unauffällig und offenbar ohne den demonstrativen Hinweis-Charakter, nur demjenigen erkennbar, der immer ein und aus geht, Wartungen vornimmt oder aus anderen Gründen genauer in die Ecken schaut: Es handelt sich um mehrere Strichzeichnungen einer Bockwindmühle und ein paar verstreute Buchstabengruppen. Der Ort der Zeichnungen: das älteste Bauteil der Mühle, der Hausbaum, der zentrale senkrechte Träger einer Bockwindmühle, eine Eiche von 60 cm Durchmesser, gefällt 1584, als der Baum schon ca. zweihundert Jahre alt war.
Eine dieser Darstellungen innerhalb der Mühle besteht aus einer groben Strichzeichnung auf dem harten, runden, nicht völlig geglätteten Eichenstamm, in den mit großem Kraftaufwand knieend Linien geritzt wurden.
Im Bild erkennen wir von der windzugewandten Mühlenseite aus gesehen die charakteristischen Merkmale einer Bockwindmühle im Stil einer Kinderzeichnung. Dazu das Bockgerüst mit dem Hausbaum, den Umriss des Mühlenhauses mit den vier sich kreuzenden Ruten („Flügelbalken“), die Flügel und die Segelgatter (Flügelfläche) ohne Segel.
Vom Zeichner aus gesehen wird hinter der Mühle die Treppe zum Mehlboden sichtbar, es ist der Außenaufgang zum ersten Geschoss. Er konnte nur unvollkommen zweidimensional zeichnen. Er wusste z.B. nicht, wie man den Treppenaufgang zur Mühle räumlich hätte zeichnen müssen, deshalb sieht die Treppe wie eine Leiter aus, die hinter der Mühle schräg in den freien Raum ragt. Die Mühlenflügel befinden sich hier in einer Stellung, die laut „Mühlensprache“ in den vergangenen Zeiten weithin signalisieren sollte: Die Mühle befindet sich in „Arbeitsruhe“, große Pause.
Wenn wir allerdings diese Zeichnung mit der Darstellung einer Bockwindmühle aus dem französischen Ort Brain-sur-Longuenée vergleichen, die einer Karte von 1750 entnommen ist, dann fällt sofort eine überraschende Ähnlichkeit auf! Aber das ist Zufall und nur der Beweis, dass ungeschulte Zeichner Mühlen oder ähnliche Gebäude häufig so „primitiv“ in zweidimensionaler Weise darstellten, obwohl in der Kunst von der Antike her über die Renaissance (15. und 16. Jahrhundert) die räumliche Darstellung von Gegenständen, also in drei Dimensionen, gang und gäbe war.
Wir wissen, unser Zeichner war kein Künstler, „nur“ ein Handwerker und Müller und nicht wie der Dichter Hans Sachs aus Nürnberg (1494 – 1576) „Ein Schuh- / macher und Poet dazu“.
Die philosophische Frage eines bewussten Zeichners: „Wie sehe ich die Dinge, wie sehe ich die Welt?“ und „Wie stelle ich sie dar?“ stellten sich für diesen zeichnenden Müller nicht.Sie waren ihm und seinem Leben völlig unbekannt und für ihn unwichtig! Sie waren auch kein Anlass, etwas in einen Hausbaum zu ritzen.
Was konnten aber dann die Gründe sein, die zur Anfertigung dieser Zeichnung führten?
Die Zeichnung ist bis hierher jedoch noch nicht vollständig beschrieben, denn der Zeichner fügte der Darstellung noch etwas Besonderes hinzu: Die Außenansicht der Mühle wird vervollständigt durch eine Person, die sich innerhalb des gezeichneten Mühlengebäudes befindet. Wir sehen einen einfachen, nicht immer klar zu bestimmenden Körperumriss. Das offene Gesicht ist dem Betrachter zugewandt, als möchte es ihm etwas mitteilen. Wir sehen darüber hinaus noch ein leiterartiges Gebilde ebenfalls innerhalb der Mühle, vielleicht die Treppe, die zum Steinboden hinauf führt und vielleicht von der gezeichneten Person bestiegen werden soll: Wir sehen zwei Striche als „Arme“? Ein gestrecktes Bein, das zum Aufstieg bereit ist?
Der Zeichner stellt nicht die Frage: „Wie sehe ich mich in meiner dargestellten Welt?“, aber er beantwortet sie ungefragt: Ich bin die einzige und bedeutendste Person in der Mühle - ausgedrückt durch die Figurengröße - es gibt nichts außerhalb der Mühle und die Mühle ist meine Welt.
Wer könnte so etwas gemeint und „gezeichnet“, d.h. in Eichenholz geritzt haben und wann?
Die Antwort muss spekulativ sein, da wir keine historischen Anhaltspunkte haben, sollte aber auf dem Hintergrund der Einzelheiten des Bildes und anderer uns bekannter Fakten plausibel sein:
a. Wir sehen, der Zeichner war ein Fachmann / Müller, er kannte das Aussehen und die technischen Merkmale einer Bockwindmühle, z.B. die Segelgatterflügel. Er stellte die äußere Mühlensituation so dar, wie sie ihm erschien.
b. Er übte nicht nur seinen Beruf aus, sondern dachte auch über sich und seine eigene Rolle nach. Deshalb zeichnete er diese Situation. Er wollte vielleicht etwas von sich hinterlassen und vielleicht durch den fragenden Gesichtsausdruck der Figur in dem Betrachter Fragen hervorrufen. Etwa: Wer ist das? Was war das für ein Mann? Was tut er da?

Wer könnte nun der Autor sein?
Auch diese Antworten können nicht konkret beantwortet werden. Es gibt keine Namen, die zu den verstreuten Buchstabenkürzeln auf dem Hausbaum passen, eine detaillierte Äußerung seinerseits ist ebenfalls nicht überliefert, damit gibt es keine Hinweise auf die Entstehungszeit, denn das Aussehen der Bockwindmühlen und ihre Technik änderte sich in den letzten 700 Jahren prinzipiell nicht!
Man könnte nun vermuten, dass ein Mühlenbesitzer bzw. – pächter diese Zeichnung angefertigt haben könnte, aber dem widersprechen die oben genannten, schnell erkennbaren Zeichen in der Mühle. Ein Pächter oder Erbenszinspächter musste sich nicht mit einer Strichzeichnung in Kniehöhe am Hausbaum für die Nachwelt überliefern. Wenn er das gewollt hätte, dann hätte er eine solche Botschaft für jedermann sichtbar anbringen lassen, wie bei der Renovierung 1798.
Wie also könnten wir diese schlichte Zeichnung von heute aus und von uns aus deuten? Zunächst ist wichtig: Sie ist KEIN Beispiel für das alte Sprichwort „Narrenhände bzw. Müllerhände beschmieren Tisch bzw. Hausbaum und Wände.“
Sondern die These lautet:
Die soziale Lage der mittelalterlichen „Mühlknechte“ oder die der kapitalistischen „Mühlenarbeiter“ im 19. und 20. Jahrhundert an war nicht „rosig“. In den Mühlen wurde gearbeitet, wenn das Wasser für die Wassermühlen von der Natur und den Wasserrechten her zur Verfügung stand und bei den Windmühlen, wenn der Wind ausreichend wehte. Es gab keine geregelten Wochen- / Arbeitszeiten, keine Urlaubszeiten. Es gab aber schlechte, enge Unterkünfte, harte Arbeit, niedrige Löhne und gesundheitlichen Raubbau durch die schweren Säcke mit einem Gewicht von 100 -125 kg und die ständige Mehlstaubbelastung.
Hier – also an der Bockwindmühle Wettmar - zeichnete sich ein Mühlenarbeiter selbst, der sich als realistischen Arbeitsmittelpunkt in der Mühle sah. Er war der Spezialist aller anfallenden Arbeiten. Er fand aber nirgends eine Würdigung seiner Person und seiner existenziellen Anstrengungen durch eine Inschrift oder ähnliches, so dass er selbst auf sich aufmerksam machen muss, wenn es sonst keiner tut. Er ist das arbeitende Zentrum der Mühle und des Mühlenwesens - ein anderer aber, der Nutznießer fehlt, der hier nicht dargestellte Mühlherr.
In der Zeichnung finden wir keinen Aufruf zur Veränderung der gesellschaftlichen (Mühlen-)Realität, aber eine realistische Darstellung im Mühlenwesen über Herr und Knecht: Es wird sichtbar, dass der gezeichnete „Knecht“ in der Mühle eigentlich als der utopische „Herr“ im Mühlenwesen gesehen wird, es gibt keine bedeutendere Person außer ihm. Ist es also doch eine alte, versteckte sozialrebellische Darstellung von Herr und Knecht in einer so schönen restaurierten und funktionsfähigen Bockwindmühle in Wettmar?

  • Kartenausschnitt des frz. Ortes Brain-sur-Longuenée
  • Foto: Poussaint Jean, Wikimedia Commons
  • hochgeladen von Reinhard Tegtmeier-Blanck
  • Bild 5 / 9

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5 Kommentare

"Exzellenter Mühlen-Beitrag", sagt Bernd Sperlich

Danke, Kollegen. Glück zu, Reinhard

wunderbarer, recherchieter Beitrag.

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