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Gute Unterhaltung
Chaos in der Buchhandlung

Chaos in der Buchhandlung

„Feierabend, puh, endlich“, sagte Elvira Wälzer und schloss wacker die Ladentür hinter der letzten Kundin ab. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr und wie immer, tausend Sonderwünsche. Von der Straßenkarte über Promi-Kochbücher bis hin zur Weltliteratur war an diesem Tag so alles gefragt, was einen Einband hatte.
Elvira Wälzer ließ ihren Kontroll-Blick durch den Laden schweifen, flüchtiger als sonst. Sie hatte es an diesem Abend sehr eilig - das heiß ersehnte Rendezvous sollte auf keinen Fall auf sie warten müssen. Ihr Rundblick kam an dem großen Tisch in der Mitte des Ladens ins Stocken. Himmel, da lagen noch unzählige Nachschlagewerke auf den Kinderbüchern, die sie in die Regale einzusortieren hatte. ‚Oh Gott, und wie es dort, in den Regalen wieder aussah. In den unteren Reihen schien die Unordnung ja perfekt zu sein. „Nein, keine Zeit zum Aufräumen, ihr Lieben. Ihr bleibt da ganz schön bis morgen früh liegen - und vertragt euch bloß. Und dass mir keine Klagen kommen“. Frau Wälzer unterhielt sich gerne mit ihren geliebten Büchern, dafür war sie bekannt. Nicht bei ihren Kunden, die hätten sich wahrscheinlich mehr als nur gewundert. Aber die Bücher, die wussten, dass sie von der Chefin mehr als geschätzt wurden, wobei auch sie überaus beliebt bei allen Nachschlagewerken war. Besonders bei den Reiseerzählungen und bei den Kinderbüchern. Einmal, es war kurz vor Ladenöffnung und Elvira noch damit beschäftigt die Kasse einzuräumen, erzählte ihr die kleine aber feine und doch so vernachlässigte Eifel-Broschüre eine lustige Geschichte aus ihrer Umgebung. Elvira war begeistert von der Schilderung über das Versehen bzw. Vorgehen eines Reisenden, der da glaubte in der Eifel den Eiffelturm zu finden.
Die Dunkelheit brach jäh herein. Es war Anfang Herbst und die Finsternis löste die Dämmerung immer früher ab. Angestrahlt vom Vollmond ging von der kleinen Buchhandlung ein nicht zu beschreibender Zauber aus. Irgendwie hatte es den Anschein, dass selbst die Bücher die anziehende Kraft des Mondes zu spüren bekommen sollten. Während wie von Geisterhand aufgeschlagen, sich das eine oder andere neugierig selbst durchblätterte, lag ein anderes vollkommen leblos unter einer Schwarte. „Wer drückt denn da auf meinen Seiten und mich dermaßen platt, dass ich kaum Luft bekomme?“, zeterte die Neuauflage eines Kochbuchs aus Großmutters Zeit. „Das kann doch nur der alte Brockhaus sein“. Der ausrangierte Brockhaus dies hörte und sich heftig gegen die Anschuldigungen wehrte. „Da lieg ich nun seit Jahr und Tag unangetastet in der untersten Schublade dieser hässlichen Schrankwand und muss mich von so einer alten Neuauflage der Anbändle bezichtigen lassen. Das ist ja nicht zu fassen“, schimpfte der in die Jahre gekommene Brockhaus. „Ich habe nicht gesagt, dass sie versuchen mit mir anzubändeln“, rechtfertigte sich das Kochbuch“, ich war im Glauben, dass sie es sind, der mich fast erdrückt“.
Im Ständer neben der Kasse lauschten mehrere Jugend-Bücher dem Wort-Gefecht und fanden, dass Aufklärung Not tut. „Also wenn wir uns da mal einmischen dürften, wertes Kochbuch. Wir finden deinen westfälischen Eintopf auf Seite zwanzig wirklich gut, aber jetzt muss auch gut sein. Mit dem Gemeckere natürlich. Wer da auf dir lastet, ist nämlich ein ganzer Stapel Science-Fiction-Romane“. Der alte Brockhaus wurde ganz Ohr und kam noch mal kurz aus Versenkung hervor, um sich bei den Jugend-Büchern für die freundliche Fürsprache zu bedanken. Neugierig seit seiner Herausgabe vor vielen Jahren, schlug er gleich mal unter Science-Fiction nach. Auch nach längerem Suchen konnte er keinen Eintrag finden. „Hm“, brummte er, „muss sich ja doch ´ne Menge geändert haben mit den Jahren. Kein Wunder, wenn kein Mensch mehr schlau aus Wörtern wird, die keinen Sinn ergeben“.
Ein ziemlich öder Kriminalroman, offensichtlich versteckt unter einem ausgedienten Schulatlas, fühlte sich doch erheblich angesprochen. „Meine Buchstaben ergeben auch keinen Sinn“, beurteilte er des Autors Kuriosum, indes er sich ein wenig hervorstahl. „Wenn der Verfasser ausgeklammert hätte der verdrehten Schriftzeichen viel zu viele, wäre dem Manuskript die Verkennung durch Verwechslung zwischen den Sprachwidrigkeiten und der Vermengung durch Fremdworte erspart geblieben und ich ganz bestimmt eine spannende Story, zumindest ein aufregender Krimi. Aber phantasielos und langweilig wie ich bin, wenn auch sprachgewandt, muss ich hier den Rest meines Daseins rumliegen und verlottern“.
Im Buchladen herrschte helle Aufruhr. Plötzlich wollte alles was gebunden und broschiert war seinen Kommentar abgeben. Das Gedichtband trug am laufenden Band Verse ohne Punkt und Komma vor und die Mundorgel kriegte im sangesfreudigen Übereifer ihren Deckel auch nicht mehr zu. ‚Am Brunnen vor dem Tore..‘, sang es tief aus dem Innern heraus, während das Buch der Gedichte, ‚Ach wie sehn´ ich mich nach dir‘, frei nach Goethe einfühlsam zitierte.
„Ihr wisst ja alle nicht was gute Literatur ist“, versuchte sich ein historischer Roman in den Vordergrund zu stellen. „Keiner von euch hier ist in der Lage Literatur von Schrifttum zu unterscheiden“.
„Jetzt reichts. Hören sie auf. Allesamt.“, kam es bestimmend aus dem Schaufenster. Von einer Sekunde zur anderen wurde es mucksmäuschenstill. „Oh, der Ranicki“, flüsterte die hübsch in rosa gefasste Rosamunde-Pilcher-Ausgabe dem schlaftrunkenen Potter Band „Sechs“ zu. „Wie der redet und dabei das „r“ rollt .. da krieg ich immer ganz weiche Lettern“.
„Wissen sie denn nicht“, mahnte Ranicki „dass die meisten Schriftsteller nicht mehr verstehen, als die Vögel von der Ornithologie?“
Das hörte das Naturkundebuch. Doch ziemlich darüber verwundert, dass es neben Hildegard von Bingen stand und nicht wie sonst neben dem Buch über Bären, verstand es die Welt nicht mehr. „Also, auf der letzten Seite wird zwar nur der Spatz in einem Satz erwähnt und verhöhnt, weil er angeblich schlampig sein soll und deshalb nicht fähig sein Nest ordentlich zu bauen“, plapperte das hagere Buch munter drauf los und schlug wie wild mit seiner Hülle. „Aber“, wandte es ein, „es gibt auch noch ein Lexikon, wo der Spatz als Feldsperling den Singvögeln beigeordnet ist“.
„Das aber nur mit einem Wort“, kicherte die total zerfledderte Straßenkarte, auf der man nicht mal mehr den Ort ausfindig machen konnte.
„Also wenn hier einer was von Ordnung versteht, dann sind es die Ordner“, lamentierten die karierten Briefbogen. Über diese Aussage musste selbst das sonst so ernsthafte Poesie-Album lachen, und zwar laut und unter dem Einwand, „hahaha, deshalb fliegt ihr ja auch im ganzen Laden herum“.
Eine gelbe Karteikarte nahm dem Poesiealbum die Anzüglichkeit krumm und zog es vor, sich zurückzuziehen. Verärgert verkroch sie sich in ihren Kasten, wollte sich mit Spott und Hohn einfach nicht belasten. Sie hatte schon genug unter den Lästermäulern zu leiden, die ihre Existenz in dieser hoch technisch entwickelten Zeit kritisierten.
Aufziehende fette Wolken hielten den runden Mond in Schach und im Buchladen wurde es schlagartig stockdüster. Die Kirchturmuhr delegierte zwölf Glockenschläge durch die kleine Gasse, geradewegs zum kleinen Buchladen. Für die Gruselromane das Appell, auch mal aufmüpfig sein zu dürfen. „Ich frage mich, was Kosmetik-Tipps und –Tricks zwischen Graf Dracula und John Sinclair verloren haben“, ermahnte ein ruhmloser Horror-Thriller, der sich damit abgefunden hatte, nur von Elvira Wälzer als schrecklich gruselig empfunden zu werden.
Der kleine Schönheits-Ratgeber fürchtete sich fast zu Tode. „Dass ich hier eingeklemmt zwischen ‚Dracula kehrt zurück‘ und dem ‚Geisterjäger‘ ausharren muss, dafür kann ich nicht“, verteidigte er sich und fand es rücksichtslos, sich ausgerechnet von diesem blöden Buch zu dem noch viel blöderen Film maßregeln zu lassen. Ein Erotikroman, welcher heftig mit einem Arztroman flirtete, machte sich angesichts der schäbigen Hülle des Thrillers über diese lustig. „Gib ihm doch mal ein paar Schönheits-Tipps“, schlug der Erotikroman dem Schönheitsratgeber vor. „Vielleicht findet ja doch noch ein Leser oder eine Leserin Gefallen an ihn und greift zu“. Das war dem Horror-Thriller dann doch zu viel des Gemeinen, was ihn dazu bewegte sich zu den herzerweichenden Liebesromanen zu gesellen, sein trauriges Schicksal zu beweinen.
Die Nacht hatte es nicht eilig vom Morgengrauen erfasst zu werden, aber die Zeit ließ sich nun mal nicht aufhalten. Der neue Tag näherte sich und in der Bücherei erwogen durchweg alle Bücher, Broschüren, Lektüren und so weiter, dass sie Frau Wälzer Erwiderung für ihre Liebenswürdigkeiten schuldig seien. Immerhin war sie es, die jedes von ihnen bis zur letzten Seite durchgelesen hatte, wenn auch das eine oder andere nur durchgeblättert. „Aber angefasst hat sie uns alle“, mussten sogar die Groschenhefte zugeben.
„Neben dem Tod ist die größte Katastrophe das Chaos“, gab Ranicki aus dem Seiten-Fenster zum Besten. Gestützt von Hildegard Knefs Memoiren fand er seinen Standort zwar nicht gerade originell, konnte aber in dieser Position mühelos die Kirchturmuhr wahrnehmen.
„Ihr habt noch genau zwei Stunden bis das Fräulein Wälzer ihren Dienst antritt. Für einen freundschaftlichen Dienst also noch ausreichend Zeit“, spornte das Ranicki-Taschenbuch die übrigen Lesestoffe an. „Das ist ja so typisch“, lispelte das bildhübsche Pilcher-Band, „und wie Recht er hat“.
„In der Tat“, meinten die Jahreskalender, die zwischen Schulheften und Stundenplänen überhaupt noch nicht zu Wort kamen, „wir werden das Chaos beseitigen, ohne ein Wort darüber zu verlieren“.
Die Bücher des Wissens waren begeistert von der Idee, Ordnung im Laden zu schaffen und Fräulein Elvira, wie Ranicki sie nannte, damit eine Freude zu machen. „Wir müssen der armen Elvira wirklich unter die Arme greifen“, fanden auch ein paar Computer-Zeitschriften und gar nicht so toll, was sie den täglichen Besuchern und Kunden zu verdanken hatten – und auch, wie sie unter dem Umgang zu leiden hatten. Herausgerissene Seiten und Eselsohren an allen Ecken, es war einfach nur erschreckend. Freiwillig packten sich die Zeitschriften zu den Technik- und Elektronik-Sonderheften. Die wiederum sortierten sich selbst schön der Reihe nach in die Fächer Zeitungs-Regale ein.
Und dann – punkt sieben Uhr schloss Elvira Wälzer, gewissenhaft wie immer, die Ladentür auf. Dass Elvira in helle Aufruhr geriet, davon kann man ausgehen. Alle Bücher waren eingeräumt und standen genau da, wo sie hingehörten. Die unzähligen Ordner fand sie ordentlich eingeordnet in der Regalwand vor und sämtliche Zeitungen, Hefte und Broschüren lagen ordnungsmäßig auf ihren Plätzen.
Frau Wälzer schien sehr beeindruckt zu sein und traute wohl ihrer Wahrnehmung kaum. Hier konnte doch etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. In so einem aufgeräumten Zustand hatte sie ihren Arbeitsplatz noch nie vorgefunden. Alles lag an Ort und Stelle, übersichtlich eingeräumt an seinem Platz, wie seit langem nicht. Sie schien regelrecht überwältigt zu sein, wie angewurzelt stand sie da und brachte keinen Ton heraus. Bedächtig schritt Elvira durch den Laden, ließ ihren Blick in die Runde schweifen und ihren Gefühlen freien Lauf. Tränen der Rührung rollten über ihre geröteten Wangen und ihr Gemütszustand wirkte auf eine seltsame Art angespannt. Den Ladenschlüssel noch in der rechten Hand, streichelte sie mit der linken die ordentlich gestapelten Kinderbücher auf dem großen Tisch in der Mitte. „Was auch immer hier vor sich geht“, flüsterte sie, „ich weiß, dass ihr eine Seele habt und viele gute Seiten in euch. Von ganzem Herzen danke ich euch für die Buchstütze .. ´tschuldigung, die Aufregung, für eure Unterstützung“.

ENDE

(c) Hildegard Grygierek

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6 Kommentare

Wie schön, wenn man soviel Phantasie hat.

Conny..neeee ... nicht doof .. aber auch auf eine Art ein schöne Geschichte ..

Danke, Romi ..

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