Eine Watzmann-Überschreitung (Fotos: Kurt und Markus Wolter)
Nach einer Zugspitzbesteigung durch das Höllental oder über den Jubiläumsgrat ist eine Watzmann-Überschreitung bei Berchtesgaden landschaftlich vielleicht die eindrucksvollste Bergtour, die die deutschen Alpen zu bieten haben. Allerdings trifft das nur dann zu, wenn man über das Watzmann-Haus nicht nur bis zum Hocheck hinaufsteigt, sondern wenn man alle drei Gipfel überschreitet und auf der anderen Seite wieder absteigt. Drei Gipfel sind es nämlich, die der Grat in 2650 bis 2700 Metern Höhe miteinander verbindet. Nach dem Hocheck (2651 m) folgt die Mittelspitze, die mit 2713 Metern die höchste Erhebung darstellt. Daran schließt sich nach einem längeren Gratstück die Südspitze an, die einen Meter niedriger ist. Nach links fällt dabei die 1800 Meter tiefe Ostwand zum Königsee ab, die höchste Felswand der gesamten Ostalpen.
Die Tour ist nicht schwierig. Klettertechnisch muss dabei höchstens eine 1+ geklettert werden. Dazu ist der Grat, für den man etwa drei Stunden benötigt, ausreichend mit Drahtseilen versichert. Ein einfaches Klettersteigset und ein Helm reichen zur Sicherung aus. Heikel könnte das Gelände nur bei einem Schlechtwettereinbruch werden. Deswegen ist ein Schönwettertag für diese Bergtour unerlässlich. Lebensgefährlich kann der Grat bei Gewittern sein, können doch die Drahtseile zu Blitzableitern werden. Die Tour ist also für einen Bergsteiger mit etwas alpiner Erfahrung relativ einfach, ist aber nichts destotrotz landschaftlich sehr reizvoll. Für einen Wanderer allerdings, der schwierigeres Gelände nicht gewohnt ist, kann sie sehr spannend und aufregend werden. Auch der lange Abstieg vom Südgipfel. Schwindelfreiheit und Trittsicherheit sind also schon erforderlich.
Wer eine gute Kondition hat, kann die Tour an einem Tag durchführen. Etwa 12 bis 14 Stunden muss man dafür einplanen. Genussvoller ist es allerdings, wenn man sich mehr Zeit lässt und die Tour auf zwei Tage aufteilt. Viele Aspiranten, die den Berg überschreiten wollen, übernachten im Watzmann-Haus. Wir wollen jedoch oben am ersten Gipfel, dem Hocheck, biwakieren, gibt das doch dem ganzen Unternehmen noch mehr den Hauch eines Abenteuers. Mehr jedenfalls, als wenn man auf einer komfortablen Hütte übernachtet. Zwar steht am Hocheck eine Biwakschachtel für Notübernachtungen, die auch für Übernachtungen genutzt werden könnte. Doch sie ist eben für Notfälle gedacht, und natürlich ist es immer eindrucksvoller, unter freiem Himmel zu biwakieren.
Am Nachmittag eines Augusttages im Sommer 2011 starten wir die Tour an der Wimbachbrücke bei ordentlichem Wetter, wohlwissend, dass es am nächsten Tag richtig gut werden soll. Und das ist für diesen Sommer schon ungewöhnlich, ist doch das Wetter seit Sommerbeginn unbeständig und war bisher für diese Tour nicht besonders geeignet. Doch mit dieser Schönwetter-Perspektive sind wir, nachdem wir einige Tage zuvor am Hintergrat des Ortlers im Schneetreiben bei minus acht Grad in 3450 Meter Höhe biwakiert haben, natürlich mit allerbester Laune unterwegs.
Zunächst gleicht der Aufstieg einer Wanderung durch den Fichten-Lärchenwald einer Mittelgebirgstour. Erst kurz unterhalb des Watzmann-Hauses in 1900 Metern Höhe wird die Landschaft alpin. Über der Baumgrenze noch Wiesen, auf denen braune Kühe ihr Gras zupfen, dann sogar ein kleiner Steilaufschwung, der im Zickzack überwunden wird. An der Hütte ist an diesem Tag so einiger Trubel. Sämtliche 46 Betten und 164 Matratzenlager sollen belegt sein. Wie viele von diesen Hüttengästen werden wohl am nächsten Morgen den Grat angehen? Es könnte voll werden. Doch dann werden wir schon längst auf dem Abstieg sein.
Kurz hinter der Hütte hört der Trubel auf. Zunächst ein schmaler Pfad durch Wiesengelände, dann auf einen langgezogenen Felsrücken hinauf, dem man folgt. Das felsige Gelände ist zwar schon etwas wild, allerdings einfach zu steigen. Selten muss man die Hände zum Klettern benutzen. Erst weit oben, wenn man dem Hocheck nahe kommt, wird es zumindest etwas anspruchsvoller. Manchmal verliert man die Pfadspur. Aber das macht nichts, kann man doch fast überall steigen. Und irgendwann findet man die rotweißen Markierungen wieder und befindet sich auf dem richtigen Weg.
Nach gut 700 Höhenmetern vom Watzmann-Haus aus, wird das Hocheck erreicht. Neben dem kleinen Gipfelkreuz mit der vergoldeten Jesusstatue kann man sich ein wohlverdientes Picknick gönnen und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Fast 2000 Meter tiefer liegt Berchtesgaden, umgeben von bewaldeten Bergrücken. Zwischendurch geht der Blick auf das flachere Voralpenland.
Mit uns sind auch einige Andere heraufgekommen. Sechs Personen an der Zahl. Sie alle wollen in der Biwakschachtel übernachten. Das wird schon sehr eng werden, und die Luft wird darin dann auch nicht die Beste sein. Wir rollen unsere Matratzen und Schlafsäcke neben der Hütte aus und bereiten dort unser gemütliches Nachtlager vor. Doch zunächst wird ausgiebig der Sonnenuntergang über einem brodelnden Wolkenmeer, aus dem nur die höchsten Gipfel emporragen, bestaunt. Immer wieder sind wir beeindruckt von solch wilden und romantischen Szenerien, und nie können wir genug davon bekommen. Immer ist es irgendwie anders. Jede Wetterlage hat ihre eigenen Stimmungen, ihre eigenen Reize.
In der Nacht sind es sogar einige Grade über Null. Die Wolken haben sich verzogen. Die Sterne funkeln von einem makellosen Himmel wie auf schwarzem Samt. Das breite Band der Milchstraße ist ganz deutlich zu erkennen. Die Sternenbilder werden identifiziert. Das Sommerdreieck mit Deneb im Schwan, Atair im Adler und Wega in der Leier. Cassiopeia, das schiefe Himmels-W, die Plejaden, der Große Wagen, dessen beide hintere Sterne auf den Polarstern deuten, sodass die Nordrichtung anvisiert werden kann. Ab und zu huscht eine Sternschnuppe vorbei. Perseidenzeit. Die Erde zieht ihre Bahn durch den Schweif des Kometen Swift Tuttle. Es ist schwer, bei so viel Großartigkeit wieder in den Schlaf zu finden.
Und der hört dann auch schon wieder früh auf, glüht doch der gesamte Osthimmel, und auch den Sonnenaufgang will man nicht verpassen. Also aus dem Schlafsack gekrochen, die Kamera raus und Serien von Fotos geschossen.
Nach dem Frühstück mit Schüttelbrot, Gamswurst und Käse aus den Dolomiten, sind wir dann schon bald auf den Beinen. Etwa drei Stunden Gratkletterei liegen vor uns. Und damit allerschönste Natur. Zur Linken stürzen die Felsen 1800 Meter tief in die Ostwand ab, in der sich so viele Dramen abgespielt haben. Über 100 Bergsteiger sind dabei ums Leben gekommen. Tief unten der Königsee ist nicht zu sehen. Er versteckt sich noch unter einer watteartigen Nebelschicht. Zur Rechten geht es 1600 Meter tief ins Wimbachtal hinunter.
Die leichte Kletterei macht Spaß. Man muss nicht immer konzentriert steigen wie am Jubiläumsgrat an der Zugspitze. Trotzdem bleibt man stehen, wenn man immer wieder in die Ferne schaut. Einmal geht es über glatte, diagonale Platten. In jedem Fernsehbericht über den Watzmann werden diese gezeigt. Sichern muss man sich an den Drahtseilen dabei nur, wie bei der ganzen Grattour, wenn man nicht so geübt ist oder das Wetter ungünstig ist.
Nach einer Stunde ist die Mittelspitze erreicht, und damit der höchste Punkt des Watzmanns. 2713 Meter über dem Meeresspiegel. Das ist für deutsche Verhältnisse schon ganz ordentlich. Nur die Gipfel des Wettersteingebirges sind höher. Natürlich wird von dem kleinen Gipfelkreuz auch von hier in alle Richtungen geschaut. Nach Süden hin der Alpenhauptkamm mit den Hohen Tauern. Auszumachen sind natürlich der Großglockner, das Große Wiesbachhorn und weiter nach Westen hin der Großvenediger.
Weiter geht’s auf dem Grat entlang. Keinerlei Schwierigkeiten, aber landschaftlich immer eindrucksvoll. Keine Frage, bei diesen idealen Verhältnissen eine Genusstour.
Nach eineinhalb Stunden vom Mittelgipfel aus erreichen wir den Südgipfel. 2712 Meter hoch, und natürlich wieder das obligatorische Gipfelfoto vor dem Kreuz. Zurückblickend liegt der Großteil des Grates im Blickfeld. Bis auf drei kleine Punkte in der Ferne ist er völlig menschenleer. So mögen wir es am liebsten, wenn wir das Gefühl haben, in weiter Landschaft allein unterwegs zu sein. Freiheit und Abenteuer liegen in der Luft, fernab vom gewöhnlichen Alltagseinerlei. Der normalen Welt völlig entrückt zu sein. Dieses Gefühl ist es, was uns immer wieder in die Berge ziehen lässt, was das Leben so lebenswert macht.
Dann kann der lange Abstieg beginnen. Zunächst durch wildes Felsgelände. Manchmal ausgesetzt, so dass es tief hinuntergeht. Am linken Rand einer breiten Rinne entlang. Weiter unten steile Schotterhänge, über die man hinunterlaufen kann. Danach die ersten Wiesen, und dann wieder Fels. An manchen Passagen ist der Weg von Unwettern fortgespült. Der Untergrund ist rutschig. Doch an langen Eisenketten kann man sich festhalten. Die Schlucht des Schönfeldgrabens wird dabei links umgangen.
Nach 1200 Metern Abstiegskletterei erreicht man das Wimbachgrieß. Ein breites Tal von wilden Felsszenerien umgeben, zieht sich im Rechtsbogen sanft nach unten. Es ist auf etwa 200 bis 300 Metern Breite plan wie eine Tischplatte und von Schotter bedeckt. Irgendwo im Untergrund muss sich der Wimbach mit seinem kristallklaren Wasser seinen Weg suchen. Dabei wird es so gut gefiltert, dass es ohne jede weitere Reinigung ins Trinkwassernetz eingespeist werden kann.
Bald tauchen die ersten Bäume auf: Fichten, Lärchen und vereinzelt Bergahrhorne. Und bald werden sie zum Wald, den man auch sehnlichst herbeiwünscht, brennt doch die Sonne erbarmungslos.
Im Gasthaus Wimbachschloss wird noch mal eingekehrt. Ein Radler bietet die richtige Erfrischung an einem solch heißen Tag. Alle Bänke und Tische sind vollbesetzt. Die Hütte scheint ein beliebtes Ausflugziel zu sein. Danach die letzten Kilometer durch schönen Wald, und wer möchte, durch die ebenfalls eindrucksvolle Wimbachklamm. Dann ist an der Wimbachbrücke der Ausganspunkt erreicht.
Es war eine großartige Tour. Wandern, leichtes Klettern und eindrucksvolle Bergszenerien trugen dazu bei. Wenn dann auch noch das Wetter mitspielt, werden solche Erlebnisse unvergesslich. Natürlich werden wir diese Tour wiederholen, irgendwann einmal. Dann werden wir einen anderen Abstieg wählen, nämlich den über den Königsee. Immer gibt es irgendwo Neues zu entdecken, und das macht eine Bergtour besonders reizvoll.
Siehe auch: Unterwegs an der Zugspitze
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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