Am warmen Ofen - Kindheitserinnerungen an die Winterzeit in den fünfziger Jahren
Wenn ich etwas fröstelnd von draußen reinkomme, mich mit dem Rücken und den Handflächen an unseren warmen Kachelofen lehne. Wenn ich dann den Blick durch die schön geschmückte Weihnachtsstube wandern lasse, nicht oft, aber doch manchmal auch in den verschneiten Garten, dann schweifen meine Gedanken ab an längst vergangene Tage, in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als ich noch ein Kind war. Ich muss an den großen Ofen in der Gaststube meiner Großeltern denken, in dem ein wärmendes Feuer bullerte. Wie beliebt war doch dieser Ofen in der Winterzeit bei allen. Bei uns Kindern, bei meiner Großmutter, die oft daneben saß und strickte und bei den Gästen, die immer wieder kamen und an kalten Wintertagen seine Nähe suchten. Er war zu dieser Jahreszeit der Mittelpunkt unseres Hauses.
Dieses Haus stand auf Gut Radau in der Nähe von Bad Harzburg, nur unweit der Harzberge oben am Hang des Radautales. Darunter in der Senke lag das Gut mit seinen vielen Wirtschaftsgebäuden. Dem Herrenhaus der Familie Jordan, den Schaf-, Kuh-, Schweine- und Pferdeställen. Der Schmiede, der Stellmacherei und den Gebäuden, in denen die Geräte für die Ackerbestellung untergebracht waren, die Pflüge, die Eggen und all die anderen.
Meine Großeltern führten dort einen Kolonialwarenladen. In dem gab es fast alles zu kaufen, was die Menschen auf einem Gut zum alltäglichen Leben so benötigten. Sie alle kamen bei uns zum Einkaufen, und am Monatsende auch zum Anschreiben. Auch die von der Mühle, die ein gutes Stück entfernt lag. Bis zum Beginn der sechziger Jahre war die alte Wassermühle noch in Betrieb.
Dorthin hatte es im Zweiten Weltkrieg meine Großeltern väterlicherseits aus Hannover verschlagen. Dort waren sie in Sicherheit, während die Stadt von den Bombergeschwadern der Alliierten in Schutt und Asche gelegt wurde. Auch sie kauften bei meinen anderen Großeltern auf dem Gut ein, und so fanden meine Eltern später zusammen.
Doch nicht nur die Leute vom Gut kamen. Auch die aus den benachbarten Dörfern, aus Schlewecke, aus Bettingerode und aus Westerode. Meine Großeltern betrieben zusätzlich eine kleine Gastwirtschaft. Die war im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel. Im Winter jedoch kamen nur wenige Gäste. Dafür aber mehrmals in der Woche die Wegewärter, die für die Instandhaltung der Straßen und Wege zuständig waren. Vor dem Haus klopften sie sich den Schnee von den Schultern und den Stiefeln, bevor sie durchgefroren eintraten. Sie setzten sich in der Gaststube an die beiden Tische am großen Ofen. Sie rieben sich die roten Hände, packten ihre Wurstbrote aus und bestellten sich einen Grog dazu. Der wärmte gut durch und erweckte wieder die Lebensgeister. Später zündeten sie sich ihre Pfeifen an. Ein angenehmer Geruch strich durch den Raum. Nicht selten saß ich in ihrer Nähe und lauschte ihren spannenden Gesprächen von der winterlichen, tief verschneiten Welt. Oft kamen sie von der Bundesstraße 4, die direkt vor unserem Haus entlangführte. Diese Straße, die Bad Harzburg mit Braunschweig verband, war nicht mehr als eine schmale Apfelbaumchaussee, auf der nur ab und zu ein Auto vorbeikam. Hinter der Mühle verlief sie über eine Anhöhe durch die freie Feldmark. Dort fegte an manche Tagen der Wind den Schnee waagerecht durch die Luft, und dort mussten die Wegewärter die Schneezäune aufstellen, damit die Straße nicht zugeweht wurde. Hatten sie sich genügend aufgewärmt, dann verschwanden sie wieder in der winterlichen Schneewüste.
Ein anderer Gast, der ebenfalls ab und zu kam, war nicht so gern gesehen. Es war ein Landstreicher, der hin und wieder wie aus dem Nichts auftauchte und danach wieder ins Nichts verschwand. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern wie er hieß, wie wir ihn ansprachen oder ob er überhaupt einen Namen hatte. Aber er war nett und wir Kinder mochten ihn gern, hatte er doch immer ein gutes Wort für uns übrig. Er trug ein dünnes Drahtgestell auf seiner Nase. Darin befanden sich dicke Brillengläser, die seine Augen winzig klein erscheinen ließen. Die Erwachsenen hatten sich an ihn gewöhnt. Man schickte ihn nicht fort, so dass er oft lange auf seinem Platz saß. Im Sommer an einem der weißen Holztische vor dem Haus unter den Zweigen des Apfelbaumes. Er bestellte sich dann ein Bier, stierte und sinnierte vor sich hin. Lange saß er so da, oft bewegungslos, als wenn er ein Denkmal wäre. Wir wagten es dann nicht, ihn anzusprechen. Was mochte in ihm vorgehen, so fragte ich mich? Dachte er über die Zusammenhänge dieser Welt nach, oder eben an gar nichts und ließ sich einfach nur die wärmenden Sonnenstrahlen auf den Rücken scheinen. Und was in seinen Gehirn vor sich ging, erfuhren wir nie. Aber wir wollten auch nicht in ihn dringen. Dumm war er jedenfalls nicht, das hatten wir Kinder wohl gemerkt, erzählte er uns doch ab und zu etwas über die Sterne am Himmel, die Weite des Universums und auch darüber, wie die Harzberge entstanden sein sollten. Von anderen Gästen erfuhren wir, dass er manchmal oben in Harzburg mit einer Blindenbinde am Arm und einer Sonnenbrille auf der Nase am Berliner Platz saß, dort einen Hut aufgestellt hatte und bettelte, obwohl er doch eigentlich sehen konnte, wenn vermutlich auch nicht besonders gut. Sein Verdienst musste nicht schlecht sein, denn manchmal gab er uns Kindern für 10 Pfennige sogar ein Eis aus. Das mochten die Erwachsenen nicht, aber er ließ sich davon nicht abbringen. Im Winter saß er manchmal auf der Bank neben dem bullernden Ofen. Neben ihm lag unsere graugetigerte Katze, die sich eng zusammengerollt hatte. Sie verschlief fast den ganzen Tag. Ab und zu riss sie das Maul auf, wie es weiter wohl kaum möglich war, gähnte herzhaft und ließ sich von dem Landstreicher unter dem Kinn kraulen, was sie anscheinend in einen wohligen Zustand versetzte. Irgendwann kam unser Landstreicher jedoch nicht mehr. Wir wussten, dass er in der Strohdieme schlief, die auch im Winter am Feldweg nach Bettingerode stehengeblieben war. Deswegen waren wir sehr traurig, als wir eines Tages in der Harzburger Zeitung lasen, dass ein Mensch beim Brand einer Strohdieme irgendwo am Harzrand ums Leben gekommen war. Wir hofften und beteten, dass es nicht unser Landstreicher war. Aber niemand konnte es in Erfahrung bringen.
Ein anderes Mal war es der Pferde-Koch, der an dieser Stelle neben dem Ofen saß. In sich zusammengesunken, wie ein Häufchen Elend. Die Tränen rannen ihm über die roten, wettergegerbten Wangen, und das kam so: Auf Gut Radau gab es noch drei schwere Ackergäule. Einen friedvollen Braunen, der Meta hieß und auf dem wir Kinder zu unserer großen Freude manchmal reiten durften. Einen riesigen nervösen Fuchs und einen ebenso großen Schimmel. Prächtige Tiere. Alle anderen der 30 Pferdeställe waren inzwischen verwaist, hatte doch der Fortschritt Einzug gehalten, und die Feldarbeit wurde fast nur noch von Treckern erledigt. In den Sommerferien konkurrierten diese mit den Hähnen, weckten sie mich doch wie diese schon in der Frühe, wenn sie dröhnend und schwarze Rauchwolken ausstoßend vor unserem Haus den Berg heraufkamen, um in Feld und Flur zu fahren. Nun war es jedoch Winter, und der Pferde-Koch war mit dem großen Leiterwagen mehrmals im Radauer Wald gewesen, um Holz zu holen. Kurz vor dem heimischen Stall, gleich neben dem großen, immer dampfenden Misthaufen, war der Schimmel jedoch zusammengebrochen. Nichts konnte ihn mehr dazu bewegen wieder aufzustehen, und noch am selben Tag verstarb er. Vermutlich an Erschöpfung, so meinten es zumindest einige vom Gut. Ob das nun wirklich für den Tod des Schimmels verantwortlich war, das wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Ich war jedenfalls von diesem Vorfall ebenso erschüttert, war ich doch so oft im Stall gewesen und hatte den Schimmel wegen seiner Größe und Stärke bewundert. Oder ich stand dabei, wie der Pferde-Koch ihm und den Fuchs das schwere Geschirr anlegte und die beiden vor den Leiterwagen spannte. Doch nun lag er dort unten im Schnee, und nun stiegen auch mir die Tränen in die Augen.
Ein Stück hinter unserem Garten befand sich der Schulberg. Der trug seinen Namen nicht zu Unrecht, denn sämtliche Kinder des Gutes mussten ihn erklimmen, um auf seiner Höhe den Schäferstieg zu erreichen, einen langen Feldweg, der nach Bettingerode zur Klippschule führte. Ihn mussten die radauer Kinder fast bei jedem Wetter gehen. Bei Regen, bei Sturm oder bei beißender Kälte. Es gab jedoch eine Wetterlage, da war das nicht möglich. Wenn der Wind den Schnee über die freie Feldflächen blies und der Weg so hoch zugeweht war, dass man durch den Tiefschnee unmöglich hindurch stapfen konnte. Dann jubelten die radauer Kinder. Nur für sie gab es dann, zum Neid der Bettingeröder, Schulfrei. Natürlich holten sie dann, da freiwilliges Lernen nicht unbedingt ihr Ding war, was sich bei den meisten Jungs auch in den Schulnoten und den Versetzungen niederschlug, ihre Schlitten aus den Schuppen und bevölkerten damit den Hang des Schulberges, der doch eigentlich ihr Schulweg hätte sein sollen. Man musste eben manchmal Prioritäten setzen. Und dafür hatten die Jungs eben andere Qualitäten. Sie konnten mit Pferden und anderem Vieh umgehen, konnten Trecker fahren und ordentlich mit anpacken, waren den Bettingerödern auf diesen Gebieten weit voraus.
Wenn die Schneeverhältnisse gut waren, dann ging die Rodelpartie nicht nur bis zum Teich hinunter, sondern sogar bis vor das große grüne Tor des Schafstalles. Und das war eine beachtliche Strecke. Oder auf dem Teich wurde das Eis freigeschoben. Die Jungs spielten Eishockey und die Mädchen drehten ihre Pirouetten. Einmal erlebte ich es, wie der große Rudi ins Eis einbrach. Dabei hatte ich selber ihn vorher noch gewarnt, dass an dieser Stelle tiefe Risse im Eis seien. Die Worte von einem kleinen Pöks interessierten ihn jedoch nicht. So war es dann geschehen. In Windeseile hatten jedoch die anderen Jungs von der nahen Stellmacherei eine Leiter heran geholt und zogen ihn damit aus dem eisigen Wasser. Da seine Eltern nicht zu Hause waren und dort nicht eingeheizt war, setzte er sich an unseren warmen Ofen. Ich sehe ihn noch genau vor mir, wie er bibbernd mit klappernden Zähnen, die Knie bis ans Kinn hochgezogen und von einer Wolldecke umschlungen, zusammengekauert auf der Bank hockte.
Hatten wir Kinder bei Einbruch der Dämmerung genug vom Rodeln oder vom Schlittern auf dem Teich, dann setzten auch wir uns, nachdem wir unsere Schuhe zum Trocknen mit Zeitungspapier ausgestopft und auf das Ofenblech gestellt hatten, an einen der beiden Tische am Ofen. Wir spielten „Stadt, Land, Fluss“, oder wir knackten Walnüsse. Danach öffneten wir die schwere gusseiserne Ofenklappe und warfen die Nussschalen hinein. In der Gluthitze dieses züngelnden Infernos zersprangen sie und knallten dabei laut. Manchmal gaben uns Gäste auch einige Groschen, und wir durften Platten in der Musikbox drücken. Meine Lieblingstitel waren der gepfiffene "River-Quai-Marsch" und "Der Lachende Vagabund", gesungen von Fred Bertelmann. Aber auch Loitas "Deine Heimat ist das Meer" gefiel mir gut. Diese Lieder konnte ich immer wieder hören.
Abends krochen wir Geschwister oben in unserer Schlafkammer unter die dicken Federbetten. Nur im ersten Moment war es darin eiskalt. Schon nach kurzer Zeit, das Deckbett hoch über den Kopf gezogen, so dass ich kaum noch Luft bekam, wurde es wohlig warm. Die Eisblumen verzierten nicht nur die Fensterscheiben, sondern auch an den Tapeten glitzerte es im Licht des Mondes, der oft durch das Fenster schien.
Am Morgen dauerte es eine Weile, bis unsere Großmutter den Ofen in Gang gebracht hatte. Dann wurde auch ein großer Topf mit Wasser auf den Herd gestellt, das mein Großvater zuvor unten aus dem Garten von der Pumpe geholt hatte. Eine warme Körperwäsche war doch ein angenehmer Luxus. Nach meiner Geburt im Dezember war es aber zu aufwendig, hatte ich erzählen hören, meine Windeln im warmen Wasser zu waschen. Es gab so vieles anderes zu tun. Dann stieg meine Mutter hinunter zum Mühlgraben und spülte sie mit den Händen im eisigen Wasser aus.
Auf dem Hof neben dem Kuhstall und der Schleiferei musste der Mühlgraben einen Höhenunterschied von etwa vier Metern überwinden. Das tat er im freien Fall, so dass ein ständiges Rauschen zu hören war. Im Winter erstarrte er jeoch zu einem Eiswasserfall. Dann plätscherte es nur noch kümmerlich unter den bizarren Eisgebilden. Und auch die nahe Radau belegte sich mit einer dicken Eisschicht. Unter dieser gurgelte, blubberte und gluckste es zur Mühle hin und weiter nach Lukaszoll, einer ehemaligen Zollstation aus früherer Zeit.
Ein Jahrzehnt vor meiner Geburt soll an unserem Ofen auch einige Male ein junger Mann gesessen haben. Er trug denselben Namen wie ich, denn ich bin später nach ihm benannt worden. Es war kein anderer als mein Onkel, der Bruder meines Vaters, der vom Kriegsdienst einige Tage Urlaub hatte und seine Eltern auf der Mühle besuchte, die ja dort Zuflucht gesucht hatten.
Mein Großvater hatte während des Zweiten Weltkrieges bei uns im Keller zwei Männer versteckt. Den polnischen Zwangsarbeiter Kasimir, der wegen Heimwehs flüchten wollte. Doch sie hatten ihn erwischt, aber er war wieder ausgerückt. Sein Rücken war voller tiefer roter Striemen. Außerdem den Franzosen Jean, der von der französischen Armee desertiert war. Natürlich wusste die Familie, wie gefährlich das war. Doch da die Radauer zusammenhielten und auch dicht hielten, konnten sich die beiden irgendwann sogar frei auf dem Gut bewegen, packten auch ordentlich mit an und waren darum sehr beliebt. Der Franzose Jean, der sehr charmant gewesen sein soll, besonders gegenüber meiner Mutter, einige Jahre bevor sie meinen Vater kennenlernte. Sie verliebte sich in ihn. Doch das ist eine andere Geschichte, die nicht hierher gehört.
Der Krieg lag bereits in den letzten Zügen, als mein Onkel im Winter 1944 das letzte Mal in der Gaststube einkehrte. Mein Großvater unterhielt sich gern mit ihm. Er bot ihm schließlich an, ihn bis zum absehbaren Kriegsende ebenfalls zu verstecken. Doch das wollte mein Onkel, der schon ein Auge verloren hatte, keinesfalls. Seine Ehre ließ es einfach nicht zu. Es war im März 1945, als ein einziger englischer Bomber seine Last über Dorsten im Ruhrgebiet noch loswerden wollte. So verlor mein Onkel sein noch so junges Leben. Bei einem Besuch der Kriegsgräber auf dem Dorstener Friedhof sah ich später seinen Grabstein, der auch meinen Namen trug. Das war schon ein seltsames Gefühl für mich.
Auf Gut Radau brauchte während des Krieges niemand zu hungern, auch im Winter nicht. Jeder hatte natürlich seine Schweine, Ziegen, seinen Garten, Konservendosen und Eingemachtes im Keller. Trotzdem bekam man vom Krieg etwas mit, die Geräuschkulisse der Bomberstaffeln. Wenn meine Urgroßmutter abends das Dröhnen der Flugzeuge vernahm, die nach Halberstadt, Halle oder Dresden unterwegs waren, dann sagte sie: „Kinder, lasst uns to Bette gahn, die Flieger kummen." So, oder so ähnlich jedenfalls, kann ich doch kein Platt. Und wenn das unheimliche Donnern der Bombardierung Halberstadts zu hören war und sich der Himmel in dieser östlichen Richtung rot einfärbte, dann sagte mein Großvater: „Das hört ja gar nicht auf.“
Nachdem Hitler, es war 1931, einmal Harzburg besucht hatte, standen alle Radauer an der B 4, auch meine Großmutter und ihre beiden Töchter. Sie wollten ihm, wenn er auf dem Weg nach Braunschweig vorbeikam, undbedingt sehen. Doch zur Enttäuschung aller kam Hitler nicht. Er hatte wohl einen anderen Weg gewählt.
Mein Großvater, der im 1. Weltkrieg als Goslarer Gebirgsjäger in den Dolomiten und auch bei den Isonzoschlachten dabei sein musste und der doch trotzdem ein Pazifist war, war der einzige, der dem Treiben Hitlers skeptisch gegenüberstand. Er hörte im Radio oft „Die Stimme Londons“, obwohl das verboten war, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Und er sagte, dass dieser Hitler, wenn er denn an die Macht käme, nichts Gutes im Schilde führe. Später ahnte er auch als einer der wenigen, dass es zur Katastrophe kommen würde.
Doch das war alles vor meiner Zeit. Ich, der ich zwar auf Gut Radau meine ersten Lebensjahre verbracht hatte, wohnte nun in Hannover, das inzwischen, bis auf einige Kriegsschäden, wieder aufgebaut war. Aber immer kam ich in den Ferien nach Gut Radau. Kein schöneres Ziel hätte es für mich auf dieser Welt geben können. Und mit am schönsten war es um die Weihnachtszeit, wenn der Schnee so manches Mal einen halben Meter hoch lag und sich die Schneeberge an der von den Wegewärtern freigeschobenen Bundesstraße unter den kahlen Ästen der Apfelbäume meterhoch auftürmten. Und nicht weit entfernt sahen wir die weißglänzende Kuppe des Brockens, der alle anderen Harzberge überragte. Der für uns unerreichbar war, weil er doch in der Ostzone lag. Der von den Russen besetzt war und den Heinrich Heine mit seinem hintergründigen Humor einmal den deutschesten aller deutschen Berge genannt hatte.
So sind seitdem die Jahre ins Land gegangen. Noch viel mehr könnte unser alter Ofen berichten, wenn er denn nur erzählen könnte. Er hat viel Freud, aber auch so manches Leid erlebt. Natürlich die vielen Weihnachtsfeiern in der stimmungsvollen Gaststube. Silvesterfeiern, die Hochzeit meiner Tante. Aber auch Trauerfeiern. Die des kleinen Michael, dem Sohn einer befreundeten Nachbarsfamilie, der im Mühlengraben ertrunken war, und auch die meines Großvaters, der viel zu früh gestorben ist.
Heute haben wir es bequemer als damals. Immer ist unsere weihnachtliche Wohnung gut geheizt. Warmwasser steht uns jederzeit zur Verfügung, und auch ein zugiges Plumpsklo ist lange Vergangenheit. Doch trotzdem möchte ich diese Jahre meiner Kinderzeit nicht missen, als das Alltagsleben noch viel schwieriger war, vielleicht aber sogar auch schöner. Oder ist es so, dass wir aus der zeitlichen Ferne alles verklärt sehen, was man in den frühen Kinderjahren, da für einen eigentlich alles neu war, diese besonderen Tage der Winter- und Weihnachtszeit wesentlich intensiver wahrgenommen hat? Und vielleicht ist das in jeder Generation so, egal ob sie früher gelebt hat, in der heutigen Zeit oder ob sie in der Zukunft leben wird. Den Zauber dieser besonderen Tage, der uns aus Sicht späterer Lebensjahre fast wie eine Märchenwelt erscheint, wird es vielleicht immer geben.
Bürgerreporter:in:Kurt Wolter aus Hannover-Bemerode-Kirchrode-Wülferode |
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