Die Offenbarung
Es war schon eine Weile her, bevor ich mich entschloss, zum Arzt zu gehen. Nein, es war nicht freiwillig, sondern ich wurde bedrängt von Menschen, die mich lieb haben. Es entwickelte sich eine Art Familien Verschwörung, angetrieben von meiner lieben Frau, die freilich nur das Beste für mich wollte. Wie konnte ich mich ihrer ausgeklügelten Strategie entziehen? Es war aussichtslos für mich und ohne die geringste Chance. Eine Geschichte begann, die einige Überraschungen in sich barg.
Ich heiße Wolfgang und bin seit 49 Jahren mit meiner Elfe verheiratet, deren Ausstrahlung normalerweise nur in Liebesromanen beschrieben ist. Nun, vor einem halben Jahr fühlte ich die ersten Anzeichen einer Kraftminderung im rechten Arm. Es wird sich schon geben, dachte ich überzeugt. Der Arm war in seiner Bewegung eigeschränkt, drohte sich manchmal zu verkrampfen, ohne dass ich Einfluss nehmen konnte. Dann hing er förmlich als Fremdkörper seelenlos an mir und es machte Mühe, ihm mit Vorsatz seine wichtige Arbeits- Funktion zurück zu geben. Um keinen anderen Menschen in diese geheimen Schicksal- Rituale ein zu weihen, wurde ich zum Schauspieler par Exzellence. Bemerkte ich Blicke auf das Dilemma, straffte sich mein Körper und er signalisierte jugendliche Frische. Unbeholfen lächelte ich dabei, um Schwächen keine Chance zu geben. Aber es dauerte nicht lange, so wurden meine Signale enttarnt. Es war der gemeinsame Urlaub mit unserer Tochter und ihrem Mann auf Mallorca im April. Ein schönes Hotel, wundervolle Zimmer, ein traumhafter Strand und Sonne, die die kalten Tage in Deutschland so angenehm vergessen ließen und unsere Seelen zu Höhenflügen animierte. Die Frage meiner Tochter riss mich aus meinen paradiesischen Gedanken. „Papa, was ist mit Deinem rechten Arm? Du hältst ihn so komisch? Hast Du Schmerzen?“ „Ich beobachte das schon lange“ ergänzte meine Frau, „Du hältst den Arm wie einen Fremdkörper. Beim Schneiden mit dem Messer wirkt Deine Aktion kraftlos!“ Wie Donnerschläge trafen mich diese Worte. Die Wahrheit war ohne mein Zutun zur Freiheit gelangt. Leugnen half nun nicht mehr. Kleinlaut sprach ich von einer vorübergehenden Schwäche, die sich schon bald auflösen würde. Ich deutete auf Phantom- Erscheinungen hin, die einfach altersbedingt auftreten. Doch je mehr ich versuchte, Erklärungsmodelle wortreich zu entwerfen, merkte ich, dass mein verzweifeltes Bemühen, nicht als wahr eingestuft wurde. Stattdessen schwirrten Worte wie übergangener Infarkt, Gehirnschlag, Lähmung…durch den Raum und trafen mich wie Messerstiche. Zugleich erfuhr ich, dass auch mein Sohn schon über meine krankheitsbedingten Phänomene eingeweiht worden war. Meine so ausgeklügelte Verteidigungs- Bastion war erobert worden. Nun war Schadensbegrenzung angesagt. Kleinlaut ließ ich mich notgedrungen dazu überreden, in Deutschland sofort einen Arzt zu konsultieren. Ich musste es versprechen, so war ich in der Pflicht. Zu Hause angekommen, konnte es meine Frau kaum erwarten, beim Hausarzt einen Termin für einen Gesundheitscheck und eine gezielte Blutuntersuchung auszumachen. Damit ich auch im letzten Moment nicht kneifen konnte, erklärte sie, mich auf jeden Fall zu begleiten und die gleichen Untersuchungen auch bei ihr durchführen zu lassen. Nach der Blutabnahme war eine Woche später der Gesundheitsscheck terminiert, wo auch die Ergebnisse der Blutuntersuchung erklärt werden sollten. Als ich ins Sprechzimmer gerufen wurde, zeigte mein Blutdruck Höchstwerte, als hätte ich gerade einen Marathonlauf absolviert. Während ich krampfhaft nach einer Strategie beim Arztgespräch suchte, meine körperlichen Beschwerden auf ein Minimum zu reduzieren, überraschte mich der Doktor, indem er ausführlich ein genaues Krankheitsbild meiner Beschwerden aufzeigte. Er war schließlich von meiner Frau in sämtliche Details eingeweiht worden, nachdem sie ihre Darstellungen einer dramaturgischen Aufarbeitung unterzogen hatte. Ich kam mir hilflos vor, als wäre ich beim Schreiben einer Prüfungsarbeit durch Täuschen erwischt worden. Mein Gesicht war mit einer zarten Röte überzogen und ich beschloss, so wenig wie möglich zu sagen. Als alle Untersuchungen abgeschlossen waren, gab mir der Arzt Überweisungen für den Radiologen eine MRT zu erstellen und für den Neurologen die Nervenbahnen zu messen. Das radiologische Untersuchung Zentrum war nach den modernsten Designe- Vorgaben gestaltet. Der Empfangs Bereich glich der Rezeption eines feudalen Urlaubshotels, und wurde von 3 sehr attraktiven Damen geleitet. Nachdem eine einer Stewardess ähnlich sehende Mitarbeiterin mit einer coolen Sonnenbrille in grün mein Überweisungsformular kurz überflogen hatte, schickte sie mich mit einem koketten Augenaufschlag in den 1. Stock, wo ich bereits erwartet wurde. Ich nahm zwischen 10 Personen in einem offen gestalteten Wartezimmer Platz. Den meisten Anwesenden war die Ängstlichkeit ins Gesicht geschrieben. Um meine aufkeimende Unruhe zu verbergen, nahm ich mir die Zeitschrift „Der Spiegel“ vor, rückte meine Brille zurecht und blätterte angestrengt, als ob ich einen Lotto- Gewinn suchen würde. Immer wieder durchkreisten schwere Gedankengänge mein Gehirn, die ich einfach mit simplen Erklärungsmodellen verscheuchen wollte. Ich stellte mir wie ein Kind den Untersuchungs- Vorgang vor. Mein Arm, so suggerierte mir mein Gehirn, würde in eine offene Untersuchungs- Röhre gesteckt, und schon nach kurzer Zeit wäre er im Computer vermessen und dreidimensional dargestellt. Bald hätte ich den Aufruf meines Namens aus dem Lautsprecher überhört. Eine Tür öffnete sich und eine ernst wirkende Dame mit einer dunkelumrahmten Brille empfing mich. Sie bat mich in einer Umkleidekabine alle mit Metall behafteten Dinge und die Schuhe ab zu legen. Danach betrat ich den Raum, wo sich eine überdimensional große Röhre mit einer Bahre befand, die in dem Apparat versenkt werden konnte. Die Dame sagte: „Nun, da wollen wir mal bei Ihnen Spezial Schädel- und Gehirnaufnahmen machen“. Mein Atem stockte, bevor ich energisch antwortete: „Sie haben die falschen Patienten- Unterlagen. Bei mir soll nur der rechte Arm geröntgt werden“! Ich nannte meinen Namen und das Geburtsjahr. Der Abgleich fiel trotzdem negativ für mich aus. Ich fragte schüchtern nach der Toilette, die sie mir freundlich zeigte und vor der Tür verharrte, um ein mögliches Entfernen zu verhindern. Nach dieser Aktion musste ich mich auf die Bahre legen, mein Kopf wurde arretiert und als wäre es noch nicht genug, wurde ein Helm aus Gittern über mein Gesicht gezogen. Ich sah bestimmt wie der Torwart einer Eishockey Mannschaft aus. Außerdem wurden Kopfhörer über beide Ohren angebracht, um den ratternden Lärm, den die Maschine in Kürze produzierte, zu vermindern. Mein einziger Lichtblick war ein schmaler Sehschlitz in Augenhöhe. Nachdem die technische Assistentin mir Kontrastmittel in eine Vene spritzte, gab sie mir einen kleinen Ballon als Ausschalter nur für den Notfall. Dann fuhr sie mich in den Bauch der Maschine. Ich hatte das Gefühl, so musste in der Pathologie eine Gefrierkammer für Leichen aussehen. Ich war froh, dass ich nicht mit einem Blutdruck- Messgerät verbunden war; denn ich war mir sicher, olympiaverdächtige Werte zu erzielen. Ich schloss die Augen, stellte mir den letzten Urlaub mit Meer und Strand vor. Die Hinweis, mich während der Untersuchung nicht einen Millimeter zu bewegen, erzeugte eine innere Anspannung, der ich kaum gewachsen war. 20 Minuten kamen mir wie eine Ewigkeit vor .Nach dem erlösenden Abschalten des Gerätes erlebte ich eine paradiesische Stille, die ich mit allen Sinnen genoss. Langsam wurde ich in das pulsierende Leben zurück gefahren. „Die Fachärztin wird das Ergebnis in Kürze mit Ihnen besprechen“ erklärte mir die technische Assistentin kühl. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter, und ich glaubte zu frösteln. Nun saß ich wieder im Wartezimmer. Neue Patienten waren hinzugekommen. Viele waren intensiv mit ihren Krankenakten beschäftigt und zeigten keine Schwächen. Mein Name wurde aufgerufen, eine junge und sehr attraktive Fachärztin bat mich in den Besprechungsraum. Ich hatte das Gefühl, dass meine Beine ihren Dienst versagten und ich mich in einem schwerelosen Zustand befand. Mein Aussehen musste auf die Ärztin besorgniserregend gewirkt haben, jedenfalls nahm sie meine Hand und sagte freundlich:"Es ist alles OK, und nun erkläre ich ihnen mit Hilfe der fantastischen Aufnahmen, warum ich keine Symptome für ein mögliches Krankheitsbild gefunden habe.“ Eine Welle des Glücks umflutete mich. Die junge Frau im weißen Kittel nahm für mich die Gestalt eines Engels an, den ich gerne aus Dankbarkeit umarmt hätte.
Copyright: Werner Jung, Bad Ems 2018, Buchprojekt- Veröffentlichungen auch in Auszügen nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors
Liebe Gabriele,
herzlichen Dank für Deinen gefühlvollen und wertvollen Kommentar. Auch Du hast vor 30 Jahren Welten der Angst bei der MRT Untersuchung durchlebt. Heute sind die Geräte eleganter und moderner gestaltet, aber das hilflose Ausgeliefert- Sein für den Patienten ist geblieben. Das außerordentliche Lob zu meinem Schreibstil macht mich glücklich, denn gerade Deine Kompetenz der Beurteilung ist für mich sehr wertvoll, da Du selbst über eine schriftstellerische Begabung verfügst, die Worte in Poesie umwandelt und dem Leser Vergnügen bereitet. Danke vielmals!
Werner