Herbert und das wandernde Mehl
Die Episode, die nun zu lesen ist berichtet von der ersten Tochter meines Onkels.
Gisela
Die Geschichte hat eigentlich zwei unterschiedliche Anfänge.
Der erste Anfang
Gisela wurde im Februar 1951 in Aschersleben geboren. Ende März kamen meine Frau Ilonka und das Baby per PKW zu mir nach Bornstedt. Ilonka hatte in ihrem Heimatort entbunden und kam nun zu mir.
Bis dahin gab es keine Probleme mit dem Kind.
Im April/Mai 51 zeigten sich beim Säugling Verdauungsstörungen und Erbrechen. Der junge Arzt (Kinder – und Frauenarzt) in Eichenbarleben verschrieb anfangs Tee-Arten und Tabletten. Da es nicht besser wurde, das Geburtsgewicht war wesentlich unterschritten, stellte er eine Einweisung ins Kinder - Krankenhaus nach Magdeburg aus.
Magdeburg war gut mit dem Arbeiterbus zu erreichen.
So ging es weiter: 4-6 Wochen im Krankenhaus mit Besserung und 4-6 Wochen zu Hause wieder mit den Symptomen Bauchschmerzen, Erbrechen, Gewichtsabnahme. Und das alles 4-6x, bis ins Jahr 1952. Im Alter von 9 Monaten hatte Gisela eben das Geburtsgewicht wieder erreicht, war ein paar cm gewachsen, hatte aber dünne Arme und Beine und leichten Haarausfall.
Der zweite Anfang
Im Sommer 1951 stellte ich fest, dass mit dem Weizenmehl, das meine Frau Ilonka im Küchenschrank hatte, etwas nicht in Ordnung war. Ich erkannte mit Lupe und Mikroskop, das mir mein Freund Dieter aus Klein-Wanzleben geschenkt hatte, Milben im Mehl fest. Das neu gekaufte Mehl in Bornstedt war auch mit Milben befallen. Ich sah aber zu dieser Zeit noch keinen Zusammenhang zu Giselas Krankheit.
Da ich Volkskorrespondent war, schrieb ich einen Artikel, der in der Magdeburger Volksstimme abgedruckt wurde. Die 5 DM, die mir der Artikel einbrachte, waren es aber überhaupt nicht wert, was mir der Artikel dagegen für Ärger machte.
Im Frühjahr 1952 wechselten wir den Einkauf von Mehl, Nährstoffen, Hülsenfrüchten usw. Wir holten alles aus Magdeburg. Mit dem Bus war das kein Problem. Den Küchenschrank säuberten wir und wuschen ihn mit heißer Desinfektionslösung. Das machten wir am 2. Tag noch einmal. Nach der Ernte 1951 wurden die Brotmarken abgeschafft. Es gab Brot, Brötchen und alles was mit Getreide zusammenhing ohne Marken, nur noch Ware-Geld, war für viele eine Umstellung.
Ende 51 oder Anfang 52 (weiß ich nicht mehr so genau) bekam ich per Einschreiben eine Einladung vom Rat des Kreises Haldensleben zwecks Klärung eines Konfliktfalles (Sachverhaltes). Ich fuhr hin. In dem Raum, der auf der Einladung stand, waren ca. 20 Personen anwesend. Ich hatte keine Ahnung, was sich hier abspielte. Der Redner vom Kreis, der alles leitete, trug die Tagesordnungspunkte vor:
1. Fall: ein Ärzteehepaar wegen Behandlungsfehler mit Todesfolge
2. Fall: ein Kaufmann aus Haldensleben wegen Hortung von Lebensmitteln (aus Vorkriegszeit), die er nach der Währungsreform Stück für Stück verkauft hatte
3. Fall: Herbert, der durch einen Zeitungsartikel die VEB Mühlenwerke Haldensleben verunglimpft hatte.
Auf Grund des Artikels, der im ganzen Bezirk Magdeburg gelesen wurde, ging der Mehlabsatz über 20% zurück, mehr als 500 t sollen es gewesen sein. Ich und die anderen wurden regelrecht in der Luft zerrissen. Etwa 4 Stunden dauerte das Ganze, mein Fall eine Stunde.
Der Fall des Ärztepaares wurde an die Ärztekammer überwiesen, der des Kaufmannes an das Amtsgericht Haldensleben. Der Kaufmann bekam 5 Jahre Freiheitsentzug und wurde enteignet. Nach der Renovierung seines Ladens zog die HO dort ein.
Mein Fall wurde dem Berufsschul-Direktor und dem Berufsschul-Inspektor des Kreises übergeben. Die Anwesenden der Volksstimme wollte nichts von Pressefreiheit wissen. Der Berufsschul-Direktor sagte zu, den Fall so zu regeln, dass alle zufrieden sein würden. Ich ahnte schon, wie das ablaufen sollte. Ungefähr vier Wochen später wurde eine Disziplinarkommission angesetzt. Etwa zehn fremde Leute waren anwesend, außerdem der Berufsschul-Direktor, der Berufsschul-Inspektor, einige Berufsschullehrer, und fast hätte ich es vergessen, ein Vertreter des FDGBs (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund), als mein so genannter Verteidiger. Aber davon merkte ich eigentlich nichts.
Das Ganze verlief diesmal sehr sachlich. Ich durfte als erster darlegen, was ich mit meinem Artikel wollte.
Inzwischen waren in Bornstedt und Tundersleben mehrere Klein- Kinder erkrankt. Es gab sogar 4 Todesfälle, da die Eltern nicht rechtzeitig zu einem Arzt gegangen waren. Die Leute aus Tundersleben kauften ebenfalls in Bornstedt ein. Bornstedt hatte zwei Bäcker, einen Kaufmannsladen, zwei Gasthäuser, eines mit einem Lebensmittelgeschäft, einen Konsum für Lebensmittel und Industriewaren. Ein Lebensmittelgeschäft wurde später ein HO-Laden für alles.
Die erkrankten und gestorbene Kinder stammten aus Umsiedler-Familien und Zugereisten, wie auch Ilonka und ich. Die Einheimischen, vor allem die Bauern hatten keine Krankheitsfälle. Man führte die Krankheits- und Todesfälle auf die ärmlichen Verhältnisse zurück, die in den Familien herrschen sollten!
Soweit meine Darlegungen vor der Disziplinar-Kommission.
Das Ergebnis war für mich nicht erfreulich.
Ich sollte mit sofortiger Wirkung entlassen werden. Aber das ging nicht so schnell, denn als Kriegs-Schwerbeschädigter hatte ich Kündigungsschutz. Und da musste einer vom Kreis unterschreiben, der zufällig mein neuer Hauswirt war, seit Anfang 1951 wohnte ich in Bahnhofsnähe. Mein Hauswirt sagte privat zu mir, er würde nicht unterschreiben, das Ganze wäre kein Kündigungsgrund. Dieser Beamte war auch kriegsbeschädigt, ein Bein amputiert, das zweite war fast steif. Aber er musste im Jahr einmal in Urlaub gehen, deshalb saß ein Vertreter auf seinem Platz. So ein wichtiger Posten durfte nicht unbesetzt sein. Und so kam es nach einem Jahr hin und her, dass er meine Entlassung unterschrieb, mit Wirkung von 6 Monaten Kündigungsfrist, Entlassungstermin 31. Juli 1952.
Als nächster Grund für meine Entlassung kam noch hinzu, dass ich beim Klassenfeind Fahrrad-Bereifung gekauft hatte, was ich nicht leugnete.
Mir war Tundersleben als Unterrichtsort abgenommen worden, aber ich durfte auf den Dörfern ringsum die berufslosen jungen Burschen unterrichten.
Ich hatte mich zwischenzeitlich um Versetzung bemüht, denn von meinen Lehrgangskollegen Halle/Aschersleben waren einige Direktor geworden und suchten neue Mitarbeiter, also Berufsschullehrer. Aber daraus wurde nicht, denn meine Kaderakte war „versaut“.
So war ich vom 1.8.1952 bis 30.9.1953 ohne Arbeit. Am 1.10.1953 ging ich zum Hochschulstudium nach Neugattersleben-Bernburg.
In Neugattersleben traf ich einen ehemaligen Fachschullehrer der Fachschule für Landwirtschaft Haldensleben. Der hatte das Theater 1951/52, das mich betraf aus nächster Nähe miterlebt.
In der DDR war es üblich, wenn jemand den Betrieb/Schule wechselte, wurde die Kaderakte immer weitergereicht. Wer einmal einen schwarzen Fleck in der Akte hatte, der wurde ihn nicht mehr los.
Dr. W., so hieß der Fachschullehrer, war jetzt Pro-Direktor in Neugattersleben. Wir kannten uns übrigens schon von 1946 an, als ich in Kitzenburg war. Dort lief ein Vorbereitungskurs für Fachschullehrer. Die Lehrgangsteilnehmer unterrichteten uns, die Ackerbau-Schüler.
Halb dienstlich, halb privat sagte Dr. W. zu mir:“ Wir bauen dir eine neue Kaderakte auf“. Mit „wir“ meinte er sich und mich. Er forderte 1953/54 meine Kaderakte von der Berufsschule Haldensleben an. Was nun mit der Akte genau geschah, weiß ich nicht. Jedenfalls hatte ich zum Abschluss (1955) eine saubere Kaderakte.
So kam ich als Agro- Dozent in der Volkshochschule Oschersleben unter. Ich allein auf weiter Flur, vier Meisterlehrgänge, die ich nur zum Teil unterrichtete, und ca. 20 Leute, die Vorträge bzw. Kurzlehrgänge (2-12 Stunden) anboten. Alles lief über meinen Schreibtisch, Arbeit mehr als genug. Ich baute mein Image zu meinem Vorteil aus, so dass mein Name etwas galt.
Aber nun wieder zu dem Mehlproblem in Bornstedt und Umgebung.
Es starben insgesamt 8 Kleinkinder, etwa 20 waren schwer erkrankt. Da es nicht nur einen Arzt gab, war der Krankheitsverlauf der Kleinkinder auch sehr verschieden.
Anfang 1955 schrieb mir Ilonka, dass ein junger Arzt in unserer Wohnung war, der mich in der Angelegenheit der Kleinkinder-Krankheit sprechen wollte. Es kam zu einem Treffen, als ich ein Wochenende zu Hause war, denn er hatte von meinem Fall gehört. Er selbst stellte nämlich auch Milben fest. Wir trafen uns zweimal, im Januar und im März 1955.
Er hatte inzwischen folgendes ergründet: Die Milben-Quelle lag in einem Bäckerladen. Zufällig in einem Laden, in den ein Umsiedler eingeheiratet hatte. Dort war es üblich (während des Krieges und danach), dass man 1 kg Weizenmehl abgab und postwendend 20 Brötchen erhielt Das Mehl, das die Leute abgaben, stammte aus eigener Ernte oder vom Ährenlesen oder vom Schwarzmarkt. Bei etwa 10 dieser Leute hatte der Arzt in der Wohnung ungeeignete, unsaubere Lagerhaltung von Mehl festgestellt. Das neu gemahlene Mehl wurde zu dem alten Mehl gekippt. So kam altes Mehl mit Milben und neues Mehl ohne Milben zusammen. Wenn einmal Milben da sind, breiten sie sich auch aus.
1956 wurde eine große Aktion unter Leitung der Kreishygiene- Kommission durchgeführt. Alle Milben-Quellen wurden erfasst, das Mehl u. a. beschlagnahmt. Die Leute erhielten Gutscheine zum Kauf von sauberem Mehl.
Auch unser Küchenschrank wurde begutachtet, aber er war inzwischen sauber.
Der junge Arzt bekam als Auszeichnung den Aktivisten-Orden, was bei Ärzten selten ist. Er hatte auch einen großen zweiseitigen Artikel in einer Ärzte-Zeitung veröffentlicht. Den zeigte er mir.
Über meine „Sünden“ war inzwischen Gras gewachsen. Rehabilitiert wurde ich zwar nicht, aber meine saubere Kaderakte wanderte mit mir über Gröningen nach Oranienburg, wo ich 30 Jahre, bis zu Rente, arbeitete.
In Bornstedt und Umgebung starben danach aus diesem Grund keine Kleinkinder mehr.
Das Ganze hatte mich zwar viel Ärger gekostet, finanzielle Einbußen hatte ich allerdings nur zeitweise.
Meine Einkünfte 1952-1955
1. KJ-Rente, 72 DM
2. Vertreter für Blumenschnitt, Obstbäume u. a. auf Provisionsbasis 10%, im Jahr 1-400 DM; 1955 war ich bei der Wasserwirtschaft als Student, die suchten Gehölze zur Landschaftsgestaltung. Über meine Generalvertreter aus Magdeburg gelang es uns für über 120 000 DM Gehölze zu besorgen, dafür bekam ich aber nicht 10% sondern nur 3%, das waren ca. 4000 DM auf einen Hieb. Der Aufwand für mich betrug etwa 5 Stunden, also 800 DM für eine Stunde Arbeit, das kann sich sehen lassen. Zu dieser Zeit verdiente ein Arbeiter 200-400 DM.
3. Zeitungsartikel Bauernkalender und Kurzgeschichten besonders für den Bauern-Verlag. Die Volksstimme hatte ich links liegengelassen.
4. Stipendium als Student
180.- DM Grundstipendium
40.- DM Leistungszulage
70,- DM für Ilonka (2 Kinder)
30,- DM erstes Kind
40,- DM zweites Kind
360,- DM je Monat
Als Berufsschullehrer nach der 1. Lehrerprüfung hätte ich mit Zulagen (Kinder) etwas über 300 DM bekommen. Also bin ich finanziell nicht nach unten gefallen sondern nach oben.
Was passierte noch in Bornstedt/Tundersleben?
1969 war ich auf einer FDGB-Urlaubsfahrt einen halben Tag in Bornstedt. Der Bauer war schon 5 Jahre tot, ist mit 60 auf dem Acker gestorben, Stunden ohne Arzt und das mit Herzinfarkt, niemand hatte ihn gefunden. Seine Frau lebte noch. Sein Sohn, mein ehemaliger Berufsschüler, hatte 7 Kinder, zwei Mädchen und fünf 5 Jungen. Die schliefen in meiner damaligen Wohnung.
1991/92 erfuhr ich durch einen Brief, dass die Mutter der sieben Kinder mit 42 Jahren an Krebs gestorben war. Irgendwo liegt der Brief noch herum.
Was wurde aus der von mir gegründeten Betriebsberufsschule?
Das Herrenhaus wurde Schulgebäude, Klassenräume und Fachkabinette.
Als Internat (180 Plätze) wurde ein 4- oder 5-stöckiger Klotz auf die Börde gesetzt.
180 Schüler in der BBS, 180 Lehrlinge in den Betrieben (LPG und VEG) auf dem Acker (50% Schule, 50% Arbeit)
Für die Lehrer entstanden 4 Einfamilienhäuser mit 2 großen und 2 kleinen Zimmern, mit Garten und Garage/Stall.
Der Direktor zog ins Dachgeschoss des Herrenhauses, 2 ledige Lehrer wohnten auch im Herrenhaus.
Die Kirchenräume im Keller reichten aus, um 200 Personen zu verpflegen.
Wenn ich den Artikel nicht geschrieben hätte, wäre ich wahrscheinlich in Tundersleben hängen geblieben.
Bürgerreporter:in:Gisela Ewe aus Aschersleben |
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