Wenn Wörter Feinde werden

Altenburg. Schätzungsweise 200000 Menschen in Thüringen können nicht richtig lesen oder schreiben. Sie werden funktionale Analphabeten genannt, weil für sie das Ausfüllen eines Formulars oder das Lesen eines Zeitungsartikels nicht selbstverständlich ist. Wie viele Menschen im Altenburger Land davon betroffen sind, ist unbekannt. Fakt ist, dass sieben von ihnen einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule in Altenburg und Schmölln besuchen.
Eine von ihnen ist Rita Biedermann (Name geändert). Seit vierzehn Monaten drückt sie einmal wöchentlich die Schulbank, um das nachzuholen, was sie ihr Leben lang eingeschränkt hat. „Ich hatte schon in der Schule Probleme mit dem Schreiben“, erzählt die Mittfünfzigerin. „Damals wurde man einfach nicht gefördert.“ Zwar erlernte die Altenburgerin einen Beruf, musste diesen aber aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Danach fand sie nie wieder eine Anstellung. „Wer nimmt denn eine mit so einem Handicap, es fängt doch schon beim Bewerbung schreiben an“, erzählt Biedermann. Auch in ganz alltäglichen Situationen ist sie eingeschränkt, beispielsweise wenn es darum geht, einen Antrag auszufüllen. „Ich kann ja lesen, was da steht, aber das Schreiben fällt mir so schwer. Ich merke auch nicht, wenn sich Fehler einschleichen.“ An manchen Tagen erfindet sie Ausreden, behauptet etwa, sie hätte ihre Brille vergessen. An anderen Tagen hingegen ist sie mutig genug, ihre Schwäche zuzugeben.
Mittlerweile lernt Biedermann jede Woche und versucht, sich ihrem Problem zu stellen. Eine Bekannte hatte sie vergangenes Jahr auf die Alpha Initiative Thüringen aufmerksam gemacht. „Von allein hätte ich mich sicher nicht getraut.“ Heute ist sie froh, den Schritt gewagt zu haben. „Ich muss niemandem in meinem Umfeld etwas beweisen, aber mir selbst, mir selbst möchte ich es zeigen.“
Dass Rita Biedermann eines Tages richtig schreiben kann, dafür sorgt Lehrerin Kerstin Hellfritzsch. Seit die Initiative vom Thüringer Kultusministerium vor knapp zwei Jahren ins Leben gerufen wurde, unterrichtet sie wöchentlich drei Stunden im Alphabetisierungskurs. „Die Menschen, die in den Kurs kommen, wollen das wirklich. Sie sind es leid, vor allem beruflich ausgegrenzt zu sein“, so Hellfritzsch. Neben dem reinen Unterrichten ist ihr vor allem eine Aufgabe wichtig: Mut machen. „Erwachsenen fällt es deutlich schwerer zu lernen als Kindern, aber ich versuche, sie anzuspornen, damit sie am Ball bleiben.“
Als Lehrmaterial steht ihr ein einziges Buch zur Verfügung. Dieses müssen die Schüler für 20 Euro kaufen – mehr müssen sie für den Kurs nicht bezahlen. Neben der Arbeit mit dem Lehrbuch versucht Hellfritzsch, praktische Übungen in den Unterricht zu integrieren. So sollen die Schüler beispielsweise das Fernsehprogramm lesen, Einkaufszettel schreiben oder gewisse Orte auf einer großen Deutschland-Karte ausfindig machen.
Die sieben Personen, die die Kurse in Altenburg und Schmölln besuchen, sind vermutlich nur ein kleiner Teil der Betroffenen. Deshalb hofft Hellfritzsch, dass mehr Menschen den Entschluss fassen, noch einmal die Schulbank zu drücken. Schließlich gewinne dadurch jeder erheblich an Lebensqualität.
Interessenten melden sich bei der Volkshochschule Altenburger Land, Hospitalplatz 6, Ansprechpartner: André Philip, 03447 499096.

Bürgerreporter:in:

Monique Pucher aus Altenburg

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