Überlebende erinnert an ihre Zeit im Lager Bergen-Belsen
Francine Christophe lacht. Lustig ist das Thema nicht; aber die Französin sieht hier eine Form der Verteidigung. Als junges Mädchen war sie im Austauschlager des Konzentrationslagers Bergen-Belsen mit ihrer Mutter Marcelle inhaftiert gewesen.
„Ce n’est pas facile d’être juif“, „Es ist nicht einfach, Jude zu sein“, sagt Francine Christophe, deren Buch mit ihren Erinnerungen an eine Zeit in Gefängnissen und Lagern nun auch in deutscher Sprache vorliegt. „Sie kann gar nicht normal sein, weil sie deportiert war“, wird ihr Ehemann, Jean-Jacques Lorch, der der Buchvorstellung nicht beiwohnt, zitiert.
Als die Buchautorin Anfang Mai 1944 als Achtjährige mit ihrer Mutter ins KZ Bergen-Belsen kam, hatte sie bereits zwei Jahre Internierungszeit hinter sich.
75000 Juden wurden seinerzeit aus Frankreich deportiert, von denen nur 2568 überlebten und zurückkehrten, erklärt Janine Doerry, die im Rahmen ihres Promotionsprojektes eine kurze Übersicht über das Verfolgungsschicksal gab. Eine davon war Francine Christophe, die glücklicherweise nicht nach Auschwitz, sondern in das Austauschlager des Lagers Bergen-Belsen gelangt war.
Verhaftet wurden Mutter und Tochter in Frankreich beim Versuch, die Demarkationslinie zu überqueren, um in den nicht besetzten Teil des Landes zu gelangen. Zusammen mit etwas über 240 Frauen und Kindern verfrachtete man beide schließlich nach Bergen-Belsen. Dadurch, dass sich der Vater in Kriegsgefangenschaft befunden hatte, genossen sie im Austauschlager einen besonderen Status und durften auf eine Rückkehr hoffen. „Zu einem Austausch kam es aber nicht“, so Doerry.
Gut erinnert sich die Zeitzeugin Francine Christophe an ihre Ankunft im Lager. Eine breite Hauptlagerstraße, Baracken, Leute, die hersahen, Holländer, Griechen und Deutsche, die auf sie zu rannten. Schlafen musste sie in dreistöckigen Hochbetten. Eine Holländerin brachte ihr ein wenig Deutsch bei, was im Lager als vorteilhaft gesehen wurde. „Comment peut-on manger ça?“, fragte sie damals mit Blick auf das teilweise sandige Essen. „Wie kann man so was nur essen?“ Das Essen blieb ihr lange in Erinnerung, vor allem auch der sparsame Umgang damit. Der Ausspruch „Brot ist heilig“ spielt noch heute eine große Rolle im Leben der sympathischen Französin. „Esst euren Teller leer“, will sie gelegentlich zu Gästen gesagt haben. Noch heute erwische sie sich dabei, wie sie auch die letzten Krümel vom Tisch picke.
Während der Deportation erlaubte sie sich einen Ausflug in die Phantasie, sie träumte von einem Restaurantbesuch und den damit verbundenen Gaumenfreuden. In Erinnerung sind ihr auch die weit entfernt von der Baracke befindlichen Toiletten geblieben, zu denen man bei Durchfall möglichst schnell laufen musste. Das sei ein riesiger Holztisch mit vielen Löchern gewesen, erklärt sie.
In der Baracke gegenüber befanden sich russische Kriegsgefangene, von denen es hieß, sie würden vollständig ausgehungert, erinnert sie sich. Christophe selbst sieht sich heute als „une petite fille priviligée“, als „ein kleines privilegiertes Mädchen“. Aufgrund ihres Status hatte sie die Zeit im Lager überleben können. Sie war naiv, wie sie selbst sagt, nicht zu glauben, dass am Ende der Tod stehen könnte.
Die Befreiung kam nach Kriegsende bei Tröbitz, unweit von Torgau. Francine Christophe erinnert sich, dass der mit ihr und ihrer Mutter fahrende Evakuierungszug manche Umwege gefahren sei und sie ihre Mutter zwischenzeitlich aus den Augen verloren habe. Ihr Vater machte den Aufenthaltsort der beiden ausfindig und bereitete die Rückkehr vor. In der Heimat empfing man sie allerdings misstrauisch; denn sie waren ja inhaftiert gewesen.
Das ist heute 67 Jahre her. Mit Gleichgesinnten fand Francine Christophe sich später zusammen, sie schloss sich dem Freundeskreis Amicale de Bergen-Belsen an. Dies bezeichnet Christophe als Form des Glücks. „Wir haben etwas gemein, was wir nicht richtig vermitteln können.“ Das Zusammentreffen von Leidensgenossen tue gut. Sie kam auf diese Weise mit inhaftierten Juden und Mitgliedern des Widerstandbewegung Résistance zusammen. Die Entschädigung für das, was ihr widerfahren war, war gering und kam erst Jahre später. Ihr Vater war Historiker. Seine Bibliothek fand nie wieder zu ihrem Besitzer zurück. Aber ihre Puppe, die die Hausmeisterin über die Jahre versteckt hatte, bekam das Mädchen wieder. Ein kleines Glück.
Zur normalen Welt fand Francine Christophe sehr spät wieder zurück. Erst der Tod ihrer geliebten Großmutter habe ihr das normale Leben zurückgegeben. Da war sie 18 Jahre alt. In diesem Moment machte ihr der Tod wieder etwas aus, als sie das Schöne und Ruhige an ihrer verstorbenen Oma entdeckte.
Ihre Erinnerungen schrieb Francine Christophe 1967 nieder, kurz vor einer Flugreise, für die Nachwelt zur Sicherheit, wie sie sich erinnert. Als Buch erschien dann alles 1995, zunächst noch in französischer Sprache, und jetzt, 2012, in der deutschen Übersetzung von Monika Gödecke. Sie war es auch, die bei der Buchvorstellung am Sonntag die deutschen Passagen vortrug. „Tu peux dire que j’aime beaucoup l’Allemagne“, ließ Francine Christophe für die Gäste übersetzen. „Du kannst sagen, dass ich Deutschland sehr mag.“ Dennoch habe sie bei der Anreise von Paris unter wechselnden Gefühlen gelitten. Je näher sie dem früheren Lager gekommen sei, desto mehr habe sich ihr Magen verknotet.
„Mich hat dieses Manuskript sehr beeindruckt und auch sehr berührt“, sagte der Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Habbo Knoch, mit Blick auf die Neuerscheinung. Er freute sich besonders, bei der Präsentation von „Nicht mehr Eure Welt – Ein Kind in Gefängnissen und Lagern 1942-1945“ auch den Überlebenden Yehoda Blom mit seiner Frau Moria begrüßen zu dürfen. Das vorliegende Buch sei der zweite Band einer Reihe für das Lager Bergen-Belsen und die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, so Knoch.
Bürgerreporter:in:Matthias Blazek aus Adelheidsdorf |
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