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Von Myra bis Einruhr

Damit es nicht verloren geht!

Da, wo keine schriftlichen Dokumente mehr vorhanden sind, müssen mündliche Überlieferungen die fehlenden Puzzles ersetzen. Diese mündlichen Überlieferungen wurden als Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben. Dabei runden Orts- und Flurnamen (in alter Volkssprache), Wegverläufe sowie Reste von alten Gebäuden und Gräber (Kulturdenkmale) das geschichtliche Erscheinungsbild ab. Geschichtliche Interpretationen werden nie ein endgültiges Erscheinungsbild präsentieren können, denn die Interpretationen sind immer subjektiv und erleben durch spätere Neuentdeckungen oftmals eine gewaltige Veränderung. Wenn die vorhandenen Puzzlesteine auch noch kein scharfes Bild ergeben, sollten sie trotzdem archiviert werden, damit spätere Erkenntnisse womöglich leichter einzuordnen sind.

Die neue Serie hat sich zum Ziel gesetzt, einen breiten Kreis von geschichtlich Interessierten anzusprechen, sich zu beteiligen um vergessene Geschichte wieder mit Leben zu erfüllen. Heute geht es um:

Von Myra bis Einruhr

Sankt Nikolaus,
Legende und Brauchtum eines volkstümlichen Heiligen

von
Klaus Wilhelm von Ameln

Segnend und gabenspendend, alle Kinderherzen beglückend, wandert Sankt Nikolaus alljährlich am 6. Dezember zur Abendstunde durch die Lande. Seine Gestalt ist so lebendig wie kaum eine andere im Kranz der Heiligen. Sie hat nichts Herbes, Starres oder Befremdendes. Nächstenliebe und brüderliche Hilfe, sonst eine lästige Pflicht, werden bei Sankt Nikolaus zur frohen Selbstverständlichkeit, die auch harte Herzen rührt und zur Güte stimmt. Er ist der Bischof, dem sich keine Tür verschließt. Er bleibt auch Bischof trotz aller Entstellungen, die ihm von der Gedankenlosigkeit und vom konfessionellen Vorurteil angetan werden. Nicht der Knecht Ruprecht, nicht der Weihnachtsmann besitzen die Liebe des Volkes, sondern der Heilige, der Nothelfer und Wundertäter. Er kommt aus dem Dunkel der Winternacht in die Helle unserer Stuben, kommt und verschwindet wieder im Dunkel der Nacht. So erschien er auch in der Geschichte.

Lang, lang ist`s her - das Christentum fasste so langsam Fuß - da lebte in Kleinasien, genau genommen in Lykien in der südwestanatolischen Türkei, ein christlicher Geistlicher, der Bischof Nikolaus. Das war so um 280 bis 345 n. Chr. Er stammte vermutlich aus Patara, das schon im 5. Jh. v. Chr. existierte und sogar von Herodot als reiche Hafenstadt erwähnt wurde. Er soll dort um 280 geboren sein. Nach einigen Quellen wurde Nikolaus während der Christenverfolgungen gefoltert und starb später an den Folgen der Misshandlungen. Sein Todestag soll der 6. Dezember 345 sein, an dem er in Myra (bei dem heutigen Demre) gestorben ist Die antike Stadt Patara liegt heute etwas westlich des Ortes Kalkans im Dorf Gelemis. Unter den Ruinen befinden sich eine große Anzahl von prächtigen Ehrengräbern, sowie ein dreiportaliger Triumphbogen aus der römischen Zeit. Dazu gehören die vom wohlhabenden Modestus erbauten Ruinen einer Therme, die zu Ehren des Kaisers Vespasianus errichtet wurde und ein kleiner Korinthischer Tempel. Das Theater, das vom reichen Velia Procula und seinem Vater 147 n. Chr. erbaut wurde, ist trotz der Versandung noch in gutem Zustand. Ebenfalls sind heute noch große Reste eines Getreidespeichers zu sehen, die ein Zeichen für eine wohlhabende Handelsstadt waren.

Zu Beginn des Christentums durchzog der Jünger Paulus auch Patara. Aus diesem Grund ist Patara eine der Städte, die in der Bibel, in den Apostelgeschichten (Kapitel 21; 1-2) erwähnt wird. In diesem Kapitel erfahren wir, dass der Jünger Paulus mit Lukas auf dem Rückweg von Miletos (Milos) nach Jerusalem in Patara übernachtete und vermutlich mit einem größeren Schiff seine Reise fortsetzte. Das heute versandete Patara war zur Zeit des Heiligen Nikolaus eine reiche und kultivierte Stadt.

Wie über viele Heilige, weis man von seinem Leben auch nicht viel. Später erfand man viele Legenden, die sein Leben schmückten. Es ist umstritten, ob diese alle der Wahrheit entsprechen. Er war der Sohn einer Familie, die Getreidehandel betrieb. Die religiösen Bücher beschreiben ihn als Geschenk des Himmels, die Frucht der Opfer und Gebete seiner Eltern sowie Retter der Armen. Es wurde daran geglaubt, dass er als Baby schon Wunder vollbrachte und man wusste, dass er Reisen nach Ägypten und Palästina durchgeführt hatte. Es ist erwiesen, dass er im 3. und 4. Jh. n. Chr., zur Zeit Kaiser Konstantins lebte. Nach seinem Tod wurden für ihn in vielen Städten Europas Kirchen erbaut; von denen die Basilika in Istanbul aus dem 6. Jh. ein frühes Beispiel ist. Er galt als meist geehrter Schutzheiliger der Kinder, Gefangenen, sowie der See- und Kaufleute, der Apotheker und Bäcker und wurde zu den 14 Nothelfern gezählt. Später wurde er zum Erzbischof/Metropoliten von Myra geweiht. Angeblich nahm er 325 am Konzil von Nicäa (Nikeia/Iznik) teil, weil unter den Akten seine Unterschrift steht. Am 8. Mai 1087 entwendete man seine Gebeine und brachte sie nach Bari in Apulien/Süditalien. Dort errichtete man eine Grabeskirche.

Die vorfestliche Zeit des Advents, in der sich die Christen in froher Erlösungshoffnung dem höchsten, innigsten und zugleich volkstümlichsten aller Feste im Jahreslauf, nämlich Weihnachten, nähern, ist durch eine Vielzahl großer Heiligenfeste ausgezeichnet. Unter ihnen erfreut sich das Gedächtnis des Heiligen Nikolaus einer besonderen Liebe und Verehrung, nicht aus einer biblischen Verknüpfung zur Menschwerdung Christi, wie sie etwa die nachweihnachtlichen Feste des Erzmartyrers Stephanus oder der unschuldigen Kinder besitzen, sondern aus dem gemeinsamen Grundgedanken der Liebe und Hilfsbereitschaft, die die Feier des wundertätigen Bischofs aus Myra und die der heiligen Weihnacht verbinden. Sie führten im Laufe der langen Entwicklung volkstümlicher Verehrungs- und Brauchformen auch eine Ähnlichkeit, ja Überschneidung ihres vielfältigen Brauchtums herbei.

Der Heilige Martin, dessen Feier am 11. November mit festlichen Bräuchen begangen wird, war bereits der Auftakt dieses Festdreiklangs der Nächstenliebe und Kinderherrlichkeit.; seine Gestalt und sein Fest, das in der Öffentlichkeit der rheinisch-flandrischen Lande noch heute so lebendig ist, entstammen aber mehr dem Kreis altem germanisch-fränkischen Christentums und lassen ihn das Gepräge eines Stammesheiligen nicht allzu weit überschreiten. Demgegenüber zeigt die Verehrung des Heiligen Nikolaus eines der vornehmlichsten Merkmale universalen Christentums: die Eigenheiten und Besonderheiten der Völker und Nationen im kirchlich-religiösen Bereich mit den Gemeinsamkeiten des einen, völkerüberspannenden, geoffenbarten Christentums zu vereinen.

Sankt Nikolaus, der frühe Schutzheilige des byzantinischen Reiches, ist zum Stammespatron vieler europäischer Völkerschaften und zu einem der meist verehrtesten Heiligen der griechischen und römischen Kirche, des morgen- und abendländischen Christentums geworden. Die betont nationale Verehrung des Heiligen, die etwa bei den letzten Ausläufen der deutschen Ostkolonisation den Siedlungsheiligen der sächsischen und fränkischen Kolonisten mit dem bereits bodenständigen Nikolauskult der slawischen, griechisch-orthodoxen Völkerstämme zusammenstoßen lässt, und die so zugleich bewiesene übernationale Ausbreitung des Kultes dieses Heiligen sind beste Beispiele der umfassenden Katholizität des Christentums, die sich an den wenn auch verschwommenen und teilweise veränderten Nikolausbräuchen heute protestantischen Gegenden noch beweist.

Die weite und tiefe Verehrung, die Sankt Nikolaus etwa als Landespatron in Russland - neben Sankt Georg und den Stammesheiligen Cyrill und Method - als Heiliger des südlichen Italien, als Patron so vieler Stände und Berufe im christlich-germanischen Bereich genießt, und das mannigfache Brauchtum, das sich um seine Festfeier rankt, lässt natürlich bei ihm auf eine besondere Zahl von Legenden schließen, welche die Formen seiner Verehrung, seiner Patronate und seines Brauchtums grundlegend bestimmten. Der Nikolauskult entwickelte sich zuerst in Griechenland und kam von dort aus in die slawischen Länder. Im Westen verbreitete sich der Kult seit dem 8. Jh; besonders gefördert wurde er durch die aus Byzanz stammende Gemahlin Ottos II., Theophanu. Über seine geschichtliche Persönlichkeit ist kaum mehr bekannt, als der Rahmen des 4. Jahrhunderts, der sie umschließt. Dazu wurde das Wenige, was sich über den Bischof von Myra mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen lässt, schon früh mit der Gestalt eines anderen Nikolaus vermengt, der Abt von Sion und später Bischof von Pinora war und 564 in Lykien gestorben ist. Aus ihnen beiden ist wohl die legendäre Gestalt des Wundertäters Nikolaus erwachsen, der in der griechisch-byzantinischen Kirche bereits im 6. Jahrhundert zu Ehren kommt und ihren Heiligenkult um 900 so vollkommen beherrscht, dass ihn nur noch die Verehrung der Gottesmutter übertrifft. Anscheinend ist es gerade das Fehlen fast jeder historischen Überlieferung, dass die Legende um Nikolaus zu solchem, alle anderen Heiligen überragenden Reichtum befruchtet. In unzähligen Darstellungen der bildenden Kunst, die von Byzanz ausgehend das christliche Abendland überziehen, sind die Hauptelemente seiner Legenden an den Bildstöcken der Wege, an Plastik, Gemälde, an Glasfenstern und Altarschmuck der überall verbreiteten Nikolauskirchen und -kapellen und in den Initialmalereien mittelalterlichen Buchkunst festgehalten. Ein besonderes Ereignis war es, dass den Nikolauskult, der schon im 7. und 8. Jahrhundert in die italienischen Provinzen des byzantinischen Exachates, nach Ravenna, Rom, Apulien und Sizilien gekommen war, im Abendland erneuten Auftrieb gab. Kaufleute der apulischen Hafen- und Handelsstadt Bari brachten - wie oben bereits erwähnt - im Jahre 1087, als während der byzantinisch-türkischen Kriege Myra verlassen und zerstört wurde, die Reliquien des Heiligen in ihre Heimatstadt Bari, die dem Heiligen Nikolaus eine große, mit Privilegien auch des Papstes reich ausgestattete Basilika erbaute. Von Bari aus verbreitete sich die Verehrung schnell über ganz Italien, drang über die Alpen und erlebte in den Hochzeiten des deutschen Mittelalters eine neue Blüte.

Die so vielfältigen Legenden und Wundertaten, die das Bild des Heiligen umgeben, stammen mit den Patronaten, die sich daraus ableiten, zum großen Teil schon aus der Zeit seiner frühen Verehrung im byzantinischen Kreis. Einige aber sind - wie die Forschungen des großen, 1931 erschienenen Nikolaus-Werkes von Karl Meisen nachweisen – erst in der mittelalterlichen Blüte des Kults entstanden, auf dem Boden eines Volkstums, das mit seinen Heiligen lebte und sie in dem Bereich seines täglichen Lebens, seiner Mühe, Arbeit, seiner Erholung und aller seiner Erlebnisse hinein nahm. Alle Legenden aber, ob aus ältester oder jüngerer Entwicklungsstufe, atmen den Geist der helfenden Liebe, der tätigen Caritas und blühen dort am prächtigsten auf, wo der Heilige seine Mildtätigkeit den Kleinen zuwendet. Der eigentliche Nikolausbrauch, der den „Heiligen Mann“ selbst mit seinem „Knecht Ruprecht“ am Vorabend seines Festes durch die Dörfer und Städte ziehen lässt, die Kinder prüfend, da strafend, da mit Äpfel, Nüssen und Leckereien beschenkend, hat denn auch diesen Zug des Heiligen besonders ausgestaltet.

Wichtiger aber für den Kult und seine Verbreitung sind jene Erzählungen, die Sankt Nikolaus wirkend und helfend in seinem bischöflichen Amte zeigen und seine bildlichen Darstellungen in den Formen der Attribute begleiten. Es ist einmal die Geschichte von den „drei Feldherren“, zum andern die von den „drei Jungfrauen“. Der älteste Text, der in der griechischen Überlieferung vom Heiligen Nikolaus erhalten ist, behandelt das so genannte „Stratelatenwunder“ und ist - nach Meisen – wohl zur Zeit Justinians (527 – 565) in Myra zur Verherrlichung des Stadtheiligen entstanden. Auch in abendländischen Quellen ist dieses Wunder (im Reichenauer Codex Augiensis XXXII., der vor 842 entstand) zuerst vertreten. Nach dieser ersten Form hat es kurz zusammengefasst folgenden Inhalt:

Zur Zeit des Kaisers Konstantin des Großen brachen in Phrygien Unruhen aus. Da schickte der Kaiser drei Feldherren mit einem Heere aus, den Aufstand beizulegen. Ungünstige Winde trieben sie jedoch nach Lykien und ließen sie in der Nähe von Myra landen. Die Soldaten begannen zu verwüsten und zu plündern; ein kleines Gefecht mit den Einwohnern wäre für diese gewiss schlimm ausgelaufen, wenn nicht Nikolaus mit Hilfe der Feldherren die Ruhe wieder hergestellt hätte. Er lud sie darauf nach Myra ein. Sie kamen gerade zur rechten Zeit zurück, um drei Männern, die von dem bestochenen Präfekten von Myra unschuldig zum Tode verurteilt waren, vor der Hinrichtung zu retten. Nikolaus selbst riss dem Liktor (Amtsdiener der höheren Beamten im alten Rom) das Schwert aus der Hand und deckte den Verrat des Präfekten auf, verzieh ihm aber auf Bitten der Hauptleute. Nachdem die drei Feldherren den Aufstand ohne Blutvergießen niedergeschlagen hatten, kehrten sie nach Konstantinopel zurück. Der Kaiser empfing sie zuerst in Ehren; bald aber wurden sie des Verrates angeklagt, auf Befehl des Kaisers in einen dunklen Kerker geworfen und umgehend zum Tode verurteilt. Da erinnerten sie sich des Bischofs Nikolaus und riefen ihn um Beistand an. In der gleichen Nacht hatte Kaiser Konstantin einen schweren Traum; der Bischof von Myra erschien ihm und forderte ihn auf, die unschuldigen Feldherren zu befreien, wenn er nicht in einem von Gott geschickten Kriege elendig umkommen wolle. Am Morgen ließ der Kaiser die Hauptleute zu sich kommen und fragte sie, ob ihnen ein Bischof Nikolaus bekannt wäre. Da wussten sie, dass er für sie gesprochen und ihre Unschuld ans Licht gebracht hatte. Der Kaiser setzte sie sofort in Freiheit und sandte sie mit reichen Geschenken nach Myra.

Die gleiche Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe kennzeichnet die Legende von den drei Jungfrauen, die ihr vornehmer, aber völlig verarmter Vater der Schande preisgeben wollte, da er sie nicht ebenbürtig verheiraten konnte. Der junge Nikolaus, ebenfalls Erbe eines großen Vermögens geworden, hörte davon, warf nachts dreimal einen Beutel von Gold (in anderen Fassungen drei goldene Kugeln) ins Haus der Verarmten. Jeder Beutel barg die Mitgift für eine der Töchter und ermöglichte die Verheiratung; so mussten sie sich nicht der Prostitution hingeben.

Der Heilige Nikolaus mit Darstellungen aus seinen Legenden, Steinrelief an der Nikolaus-Basilika in Bari

Während die Geschichte von den Feldherren Sankt Nikolaus zum Patron aller ungerecht Verfolgten und Verleumdeten und darüber hinaus noch zum Schutzherr der Gefangenen werden ließ, machte ihn die nur wenig später überlieferte Legende von den Jungfrauen zum Beschirmer der guten Ehe und wurde in ihren Motiven, dem nächtlichen Hinwerfen guter Gaben, eine der Quellen des späteren Nikolausbrauchtums, das sich mancherorts bis in unsere Zeit in dieser Form erhalten hat. Andere Geschichten aus dem Leben des Heiligen sind es, die ihm zum erklärten Patron der Schiffer und Seeleute werden ließen, ein Patronat, das seinen Kult an allen Wasserstraßen der Erde verbreitete, ihn schon früh in alle Hafenplätze des Mittelmeeres trug und ihn später vor allem mit der „deutschen Hanse“ auch in die Ostsee und bis in den höchsten Norden brachte. Zeugen dafür sind die allein auf Island vorhandenen 40 Heiligtümer von gläubiger Verehrung, die Schiffer und Kauffahrer ihrem Patron gegenüber hegten. Sie geht auf die Gefahr der Seeleute zurück, die sich in schwerer Seenot an den heiligen Bischof von Myra erinnerten, von dessen Ruhm sie gehört hatten. Von ihnen angerufen erschien Nikolaus, sprach ihnen Mut zu und griff selbst bei dem Rettungswerk überall ein. Nach glücklicher Landung erkannten die Matrosen in der Kirche zu Myra den Wundertäter und dankten ihm.

Diese Legende machte, im Verein mit jener, in der Sankt Nikolaus während einer Hungersnot in Myra die vorüber fahrenden Kornschiffe durch ein Gesicht und einen mahnenden Sturm aufhalten und in den Hafen von Myra geleiten lässt (nach einer anderen Überlieferung vermehrte Nikolaus durch sein Gebet 100 Scheffel Getreide, so dass sie über Jahre hinweg ausreichten) den Heiligen besonders bei den Niederländern und in Flandern berühmt, wo man die Schifffahrt und ihre Zünfte unter seinen Schutz stellte und bis heute das Brauchtum seines Festes in rührenden Einzelheiten bewahrte. Kehrt doch wohl auf jedem holländischen Rheinkahn, der am Vorabend des 6. Dezembers irgendwo vor Anker geht, feierlich die bischöfliche Gestalt des Heiligen ein, um mit Beten und Singen oder gar mit einem Stegreif-Spiel geehrt zu werden und dann ihre guten Gaben an Schiffskinder und Schiffsvolk zu verteilen.

Das noch oft in urtümlichen Formen zu findende Nikolausspiel hat überhaupt im Bereiche seines Brauchtums eine besondere Stellung und findet an den vielfältigen, so plastischen und so leicht in Handlung und das Wechselspiel von Rede und Gegenrede zu übersetzenden Legenden reichen Stoff. Die volkskundliche Forschung stellt das Nikolausspiel geradezu an den Beginn des mittelalterlichen Kloster- und Laienspiels, das sich zum Mysterienspiel und später zum Rüpel- und Volksspiel entwickelte. Eine Hauptrolle unter seinen Gegenständen spielt die Legende von den drei Schülern, die wahrscheinlich erst auf transalpinem Boden, in den Klosterschulen Nordfrankreichs vielleicht, entstanden ist und das bereits analog anderen Patronaten bestehende Schülerpatronat des Heiligen Nikolaus von der Legende her unterbaute. Diese die dramatische Gestaltung geradezu fordernde Legende hat den folgenden, oft abgewandelten Inhalt:

Drei wandernde Schüler nehmen in einem abseits im Walde gelegenen Hause Herberge. Der Wirt, der bei den Schülern Schätze vermutet, ermordet die in ihrer Not den Heiligen Nikolaus Anrufenden mit Hilfe seiner Frau in der Nacht, zerstückelt sie und pökelt ihr Fleisch in drei Fässern ein. Da kommt anderentags der Heilige Nikolaus in Gestalt eines Wanderers oder Bettlers, bittet um Unterkunft und verlangt frisches Fleisch. Er überführt die Schuldigen ihres Verbrechens und lässt einen der Schüler nach dem anderen wieder lebendig werden und aus ihren Fässern hervorkommen. Die Titelvignette zeigt diesen Vorgang in einem Holzschnitt aus der 1488 in Lyon erschienen Legende „aurea“.

Die Legende, die schon aus dem 12. Jahrhundert mehrfach in dramatisierter Gestalt überliefert ist, gehört das ganze Mittelalter über als Spiel zu den Bräuchen, welche die Schüler der Kloster- und später auch der Bürgerschulen um das Fest ihres Patrons übten. Zu ihnen gesellte sich noch das Knabenbischofsspiel der Klosterschüler, das zuerst am Tage der Unschuldigen Kinder gefeiert und später wohl auf den Tag des Schülerpatrons Nikolaus verlegt wurde. An ihm nahmen die Scholaren in Umkehrung des Gewöhnlichen alle Ämter eines Klostertages ein und feierten, mit Ausnahme der eigentlichen Messe, die Zeremonien eines Pontifikalamtes. Man fasste diesen Tag aber zunächst als Scherz auf, aber gleichsam als eine Erprobung der auch in Zukunft fortlebenden klösterlichen Gemeinschaft. Dann wurden die Schüler von Sankt Nikolaus mit Gaben bedacht oder auch ihnen ihre bösen und guten Taten vorgehalten – wiederum Bräuche, die sich in vielen Formen und landschaftlichen Abwandlungen bis in unsere Zeit erhielten.

Die Patronate des so beliebten Heiligen gehen über die genannten der Schüler, der Seeleute und Getreidehändler, der Bäcker und Kaufleute weit hinaus und umfassen dazu nicht nur die Berufsgemeinschaften der Alpgenossen, der Drechsler und Kalkbrenner, der Bergleute und Färber, der Küfer, der Hölzer und Flößer, der Schreiber, Schneider und Schuhmacher, sondern wurden auch von anderen Ständen und zu anderen Gelegenheiten angerufen. So gilt Sankt Nikolaus auch als Schutzheiliger der Geistlichen und Mönche, der Reisenden, Pilger und Wanderer, der Armen und Hungernden, aber auch der Jungfrauen, der Liebenden, der Gebärenden und der um Kindersegen Flehenden. Insbesondere und zu allen Zeiten aber war er der Patron und Schirmherr der Kinder, der Gesunden und Kranken, der Kleinen und Großen. Wenn sich fast als Rest einer so weit verzweigten und umfassenden Verehrung und eines so reichen Brauchtums gerade diese Seite des Heiligen der Kinder bis auf unsere Zeit erhielt, so wollen wir über ihren Formen, die seit dem 16. Jahrhundert noch heute die Kinder der Niederlande, Flanderns und Nordfrankreichs am Vorabend des Festes ihre Schuhe oder im Rheinland ihre Teller aufstellen lassen, um sie am anderen Morgen mit Leckereien gefüllt oder mit dem besonderen Bachwerk der Nikolaustage, dem „Spekulatius“ und dem aus Kuchenteig gebackenen „Weckmann“ mit Tonpfeife, Rosinenaugen und Mandelknöpfen, wieder zu finden. Der Weihnachtsmann mit weißem Bart und rotem Gewand, der den Kindern am Heiligen Abend die Geschenke überreicht, geht auf den niederländischen Sinterklaas zurück. so wollen wir also über diese Freuden der Kinder nicht das Wesentlichere des Heiligen vergessen; ist doch der Sinn seines Festes nichts anderes, als uns einmal den Vollzug christlicher Nächstenliebe immer neu als Pflicht und Aufgabe vor Augen zu stellen, und zum anderen, uns in die frohe Erwartung des Hochfestes christlicher Erlösung und Liebe, in die Vorfreude auf die Heilige Weihnacht zu versetzen. In vielen Ländern werden Weihnachten und das Fest des heiligen Nikolaus, da sie beide in den Dezember fallen, zusammen gefeiert.

Der Weihnachtsmann (in den angelsächsischen Ländern, v. a. den USA heißt er Santa Claus, eine Figur, die durch die Coca Cola-Werbung entstand), ist die Symbolfigur für das weihnachtliche Schenken; er vereint Eigenschaften des freundlichen Nikolaus und des Kinderschrecks Knecht Ruprecht zur Autoritätsfigur. Als weißbärtiger Mann in pelzbesetztem rotem Mantel und Mütze mit einem Gabensack erstmals belegt auf Bildern des 19. Jahrhunderts (Deutschland; prägend durch die USA im 20. Jahrhundert), ist er in verschiedenen anderen Ländern unter unterschiedlichen Namen populär geworden, z. B. als Babbo Natale in Italien. Nach anderen Kinderbescherbräuchen werden Geschenke vom Christkind und vom heiligen Nikolaus (Julbock; Nordeuropa am 6. 12.) oder vom Jultomte (auch Heinzelmann Tomten, ein Kobold, am 25. 12.) gebracht, aber auch von den Heiligen Drei Königen (am Dreikönigstag, am 6. 1., in Spanien und Lateinamerika), von der Hexe Befana (in Italien).

In Einruhr feierte und feiert man Nikolaus am 6. Dezember wie oben beschrieben; also insoweit nichts Besonderes. Aber trotzdem ist Einruhr mehr als manch andere Orte mit dem Heiligen Nikolaus verbunden. Die Wirren der alten Zeiten haben leider nicht sehr viel schriftlich Niedergelegtes über Einruhr erhalten und doch lässt sich das Gefundene - wenn auch etwas spekulativ - zu einer Geschichte formen.

Nachdem die Römer sich in unserer Gegend niedergelassen und später diese wieder verlassen hatten, gab es eine kleine Ansiedlung, die sich an einer Fuhrt durch und an einem Steg über die Rur gebildet hatte. Davor wird der Hostertberg besiedelt, denn der Hostertberg scheint ein uraltes Siedlungsgebiet gewesen zu sein. Die alten Franken bezeichneten eine Siedlung auch mit „Hostert“. Ist in diesem Wort „hausen“ enthalten? War auf dem Hostertberg in früheren Zeiten eine Siedlung, in der ehemals schon die Römer gehaust haben? Einiges spricht dafür; so z. B. dass auf dem Hostertberg und in dessen Umgebung früher sehr viele Gärten und Felder bestellt wurden, auf denen unter anderem die „Blaue Platte“, eine vorzügliche Kartoffel angebaut wurde und sehr viele, noch heute sichtbare Obstbäume hervorragendes Obst trugen. Warum ging man die weiten Wege, vom Dorf weg, den Berg hinauf? Waren die Böden dort oben durch jahrhundertelange Bestellung tiefer und durch hervorragende Quellwässer einfach mineralhaltiger?

Die Rur war für viele Jahrhunderte Grenzfluss zwischen dem Herzogtum Jülich und der Grafschaft Schleiden.

Erstmals schriftlich erwähnt wird das heutige Einruhr im „Rechts`-Lantz Monjouw“ von 1516 als „Sent Niclaesbrugge“. Hier ein Auszug aus dem Eremit am hohen Venn (6. Jahrgang, Nr. 7 vom April 1931, Seite 89):

„Anno duesent vonfhondert ind in deme seiszzienden jaire (1516) […] 5. Item in der Rockenbaich by Wolfs siffen lit ein beint, dergelichen by Velinxwerck ouch einen, wer die hait, der sal Sent Niclaesbrugge maichen […]“.

Es scheint so, als wenn Einruhr vor seiner Entstehung nur durch die Brücke/Steg seine Bekanntheit erlangt hätte, die den Menschen von damals es erlaubten, trockenen Fußes von der linksrurischen Seite „op der rur“ auf die rechtsrurische Seite „overrur“ (das Land Überruhr) zu gelangen, denn die Menschen, die einen Bend dort hatten, auch wenn sie, wie die von Wollseifen, weiter weg wohnten, mussten die Brücke benutzbar halten. Möglicherweise gab es an der Brücke nur eine Hütte für beispielsweise die Eintreibung von Brüchten/Wrogen (Abgaben).

Weiteres liest man im Eremit am hohen Venn (15. Jahrgang, Nr. 5 vom Mai 1940, Seite 69-71):

„b) ausländische (Grafschaft Schleiden) Wrogen (1 Wrogen=46 Alber)

Die Untertanen von Drimborn (Dreiborn) und Wolfseife (Wollseifen) haben 1587 die Berechtigung zum Weidegang und zur Holzung in der Oberraurischen Hut (Hut = Walddistrikt) (beiderseits der Rur von Hammer bis Woffelsbach) erhalten. Die Berechtigung ist 1589 erneuert worden. Die Wrogen werden im Beisein der Förster festgesetzt. Die mit Pferd und Wagen zahlen 1 bis 2 ½ Wrogen, die anderen 3 orth.

Wrogen werden bezahlt über der Rhur an St. Niclasbruck, aus der Herrschaft Schleiden und aus Drimborn, sowie aus Bergscheit (Berescheid).......„.

Einruhr: Ehemalige Sankt Nikolaus-Kapelle von 1749
(Zeichnung Neuburg)

Es muss schon eine sehr wichtige Brücke gewesen sein, sonst hätte man sie nicht in alten Karten verzeichnet. Dass zu jenem Zeitpunkt die Ansiedlung daran, die nach dem Heiligen Nikolaus benannt wurde, auch einen Gottestempel, eine Kapelle besessen haben wird, ist wohl nahe liegend, denn im Dorf wohnten Christen, die es für sehr wichtig erachteten, den Steg über die Rur einem Heiligen anzuvertrauen, damit die Bevölkerung trockenen Fußes und unversehrt zu ihnen kommen konnte. Der Heilige Nikolaus ist ja wie bekannt auch Schutzpatron der Seeleute und Reisenden. Er wird wohl an Sent Niclaesbrugge eher den Reisenden gegolten haben; ein Beweis dafür, dass dort schon zu frühen Zeiten ein Dreh- und Angelpunkt für Reisende war.

Einruhr: Pfarrkirche Sankt Nikolaus von 1910
(Zeichnung Neuburg)

Die Rur, die zu früheren Zeiten noch in der Nähe der Einruhrer Kapelle vorbei geflossen ist, hatte also einen Steg, der aber wegen einer Flussbettverlagerung - nach einer großen Überschwemmung auf die westliche Talseite - überflüssig und abgerissen wurde (siehe in älteren Karten Parzelle 1234/133 am Hügelabhang zum alten Rurbett und untenstehende Karte). Das Sandsteinrelief des Schutzpatrons, Heiliger Nikolaus, das vordem an der Brücke befestigt war, wurde nun zur Zierde in das Bruchsteingemäuer, über dem Portal der 1749 erweiterten Kapelle, eingearbeitet, denn diese war ebenfalls dem Heiligen St. Nikolaus und darüber hinaus der Heiligen Brigida geweiht. Als dann aber die Kapelle zu klein war für die immer größer werdende Kirchengemeinde, erbaute man 1909/1910 die Neue Pfarrkirche St. Nikolaus. Bis zum heutigen Tag also ist der Heilige Nikolaus der Schutzpatron der Einruhrer Kirchengemeinde geblieben. Unter seinem Schutz wird sie auch in Zukunft ein christliches Leben führen können.

Einruhr: Ausschnitt aus einer Karte des Eifelvereins
(von vor 1910, da noch keine Pfarrkirche eingetragen ist)

Brauchtum und Kunst:
Die mit dem Nikolausfest verbundenen Bräuche gehen auf das Knabenbischofsspiel der spätmittelalterlichen Klosterschulen (seit dem 13. Jahrhundert am 6. 12.) zurück. Dabei übernahm ein Schüler für einen Tag die Rolle des Bischofs, den als Helfer (je nach Landschaft) Knecht Ruprecht, Krampus, Gangerl u. a. begleiteten. Im 19. Jahrhundert flossen Züge des Kinderschrecks Ruprecht und des Kinderfreundes Nikolaus in der Autoritätsfigur des Weihnachtsmannes zusammen. Anfangs stellte die abendländische Kunst Nikolaus nach byzantinischen Vorbildern barhäuptig dar; bald kamen Mitra und Bischofsstab hinzu. Seit dem 12. Jahrhundert in der russischen Kunst häufig auf Ikonen dargestellt; in der mitteleuropäischen Kunst findet sich die Gestalt des Nikolaus in unterschiedlichen, auf die Legende Bezug nehmenden Szenen.

Literatur:
Hümmeler, Hans: Helden und Heilige. Michaelsberg Siegburg.
Meisen, Karl: Nikolauskult und Nikolausbrauch. Schwann Düsseldorf 1931.
Müller, Rüdiger: Sankt Nikolaus. Freiburg im Breisgau 1982.
Schnitzler, Theodor: Die Heiligen im Jahr des Herrn. Herder Freiburg.
Eremit am hohen Venn. Geschichtsverein Monschau.

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