Großstadtschelmerei II
Der Abteilungsleiter der Konfektionsabteilung eines Kaufhauses trommelt kurz vor Ladenöffnung sein gesamtes Verkaufspersonal zusammen. Missmutig moniert er die rückläufigen Umsatzzahlen der vergangenen Monate und äußert den Verdacht, dass es an der fehlenden Motivation der Mitarbeiter liegt.
Einige der Mitarbeiter argumentieren, dass es eher an der allgemein schlechten Wirtschaftslage liege, andere damit, dass sie personell unterbesetzt seien und sich nicht so intensiv um jeden einzelnen Kunden kümmern können.
Der Abteilungsleiter ist allerdings der Meinung, es liege vielmehr an der fehlenden Kreativität seiner Mitarbeiter, denen einfach adäquate Verkaufsargumente fehlen.
„Ich werde Ihnen allen jetzt einmal demonstrieren, wie man den Umsatz verdoppeln und verdreifachen kann, wenn man nur die richtigen Argumente gegenüber den Kunden findet!“, meinte der Abteilungsleiter. „Wenn wir nun gleich öffnen werden, sehen Sie mir alle bitte einmal zu, wie man das macht. Den ersten Kunden werde ich selbst bedienen und Sie werden sehen...!“
Dann musste das Kaufhaus geöffnet werden, denn es war Zeit. Die Kunden stürmten herein und verteilten sich auf die verschiedenen Abteilungen.
Entschlossen tritt der Abteilungsleiter der ersten Kundin gegenüber: „Was kann ich für Sie tun, gnädige Frau?“
„Ich bin auf der Suche nach ein Paar guten Seidenstrümpfen“, meint diese. Gemeinsam begibt man sich in die Strumpfabteilung. Die Verkäufer und Verkäuferinnen hinterher.
„Hier, gnädige Frau“, meint der Abteilungsleiter, „ganz neue Ware, sehr haltbar, macht einen schönen Fuß, auch von der Farbe her...!“
„Gut“, meint die Dame, „davon nehme ich ein Paar.“
„Nun, gnädige Frau“, argumentiert der Abteilungsleiter weiter, „ich darf Sie noch auf eine Besonderheit aufmerksam machen: Es wird demnächst einen Engpass geben. Unter den Seidenraupen in China ist nämlich eine Epidemie ausgebrochen, so dass es in Kürze vermutlich für längere Zeit überhaupt keine Seidenstrümpfe mehr geben wird. An Ihrer Stelle würde ich mich jetzt eindecken, solange noch welche verfügbar und vor allem diese noch bezahlbar sind, denn, Seidenstrümpfe werden bestimmt bald unerschwinglich und ganz schwer zu bekommen sein!“
„Ach, das wusste ich nicht“, meint die Dame erstaunt, „na, wenn das so ist, dann geben Sie mir bitte gleich drei Paar mit.“
Als die Kundin wieder gegangen war, sieht der Abteilungsleiter in die Runde seines Verkaufspersonals und bemerkt ganz stolz: „Na, meine Damen und Herren Verkäuferinnen und Verkäufer, haben sie nun anhand dieser kleinen Verkaufsdemonstration gesehen, wie man kreativ argumentieren und den Umsatz gleich verdreifachen kann.
Also, frisch ans Werk nun und viel Erfolg!“
Der Abteilungsleiter zieht sich wieder in sein Büro zurück.
Etwa eine Stunde später wird der Abteilungsleiter auf Lärm aufmerksam, der sogar durch die geschlossene Bürotür zu ihm hereindringt und er begibt sich augenblicklich in den Verkaufsraum. Er bemerkt eine Verkäuferin, die sich in der Hutabteilung gerade mit einem Kunden lautstark streitet.
Der Abteilungsleiter geht dazwischen und will wissen, was denn der Grund dieser Auseinahndersetzung sei.
„So eine Unverschämtheit!“, schreit der Kunde ganz aufgebracht, „Ich komme hier her um mir einen neuen Filzhut zu kaufen, habe auch einen gefunden, der mir gefällt – da meint doch diese unverschämte Verkäuferin, unter den Filzläusen sei eine Epidemie ausgebrochen, und ich solle deshalb doch gleich drei Hüte nehmen!“
erschienen in: "kein Grund, lauthals zu singen"
Kapitel: Großstadtschelmereien
W. Kreiner - Gryphon-Verlag
ISBN: 978-3-935192-25-5