myheimat.de setzt auf dieser Seite ggf. Cookies, um Ihren Besuch noch angenehmer zu gestalten. Mit der Nutzung der AMP-Seite stimmen Sie der Verwendung von notwendigen und funktionalen Cookies gemäß unserer Richtlinie zu. Sie befinden sich auf einer sogenannten AMP-Seite von myheimat.de, die für Mobilgeräte optimiert ist und möglicherweise nicht von unseren Servern, sondern direkt aus dem Zwischenspeicher von Drittanbietern, wie z.B. Google ausgeliefert wird. Bei Aufrufen aus dem Zwischenspeicher von Drittanbietern haben wir keinen Einfluss auf die Datenverarbeitung durch diese.

Weitere Informationen

Flucht mit der U- 6 (eine Momentaufnahme)

Marienplatz:

Gott sei Dank! Ich habe einen Sitzplatz bekommen und werde auf alle Fälle diesmal nicht zu denen gehören, die sich bei jedem Anfahren und Bremsen gegen die aufkommenden Fliehkräfte stemmen müssen.
Gut, dieses Mal nicht zu denen zu gehören, die sich an eine Griffstange klammern müssen und doch nicht verhindern können, von der Knoblauchfahne des Nachbarn gestreift zu werden, genötigt zur Intimität mit Fremden. Zu einer Nähe, die nur durch den Mangel an Platz zustande kommt. Sonst eigentlich nie.
Ich habe einen klar abgegrenzten Sitzplatz und es lässt in einem ein Gefühl von Privilegiertheit aufkommen, da ja alle den gleichen Fahrpreis bezahlt haben. Vielleicht? Vielleicht aber auch nicht - wer weiß?
Ich vermeide es, in ihre Gesichter zu sehen.
Augen können wünschen, fordern und ablehnen, oder aber einem die eigene Gegenwart aufzwingen.

Sendlinger Tor:

Füße scharren.
Wieder Wettlauf um einen frei gewordenen Sitzplatz oder einen der Stehplätze.
Ein Sächsisch-Sprech gefärbtes: „Zurückbleiben bitte!“ aus den Lautsprechern.
Dann Stille bis die Türen sich zischend schließen und die Bahn anfährt.
Demonstratives Schweigen, auch zwischen denen, die zusammen schwatzend eingestiegen waren und sich offensichtlich kennen. Sich zuzwinkernd anlächelnd flüstern sie sich nur halbe Sätze zu.
Schwarze Schuhe, vorne etwas verschmutzt.
Nackte Füße in Sandalen und unruhige Zehen in einem unklaren Takt. Der kommt -ztzztztzzt - aus dem Kopfhörer des Sandalenträgers. Links, zweimal rechts, links zweimal rechts.
Bremsen quietschen. Eine Umhängetasche bohrt sich in meine Seite. Die Unruhe setzt bereits ein, noch ehe die U-Bahn hält.

Goetheplatz:

Unzählige Gesichter rasen an den Fenstern vorbei, bis sich wieder viel zu viele an der vorderen Tür zusammen drängen und mit den Aussteigenden kollidieren.
Dann wieder gierige Ausschau nach einem Sitzplatz. Sich dann aber doch wieder abfinden müssen mit einem Winkel, der wenigstens ein Minimum an Rückendeckung verspricht.
Das Scharren der Füße verstummt langsam.
Jeder will jetzt wieder vorbereitet sein auf den Absturz aus der ansteigenden Geschwindigkeit.

Poccistraße:

Aufschläge von Hosenbeinen, in denen sich der Straßenstaub gesammelt hat.
Wippende Kinderfüße, die vielleicht in einem engen Hinterhof zuhause sind und sich gut auskennen in der Platzbeschränkung.
Auseinandergebreitete Zeitungs-Seiten, die gleich zwei Menschen verdecken, wie zuhause beim Besitzanspruch einer ganzen Couch.
Das Knie eines langen Menschen, das meinem nahe kommt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich die Lippen eines elegant gekleideten Mannes bewegen. Vielleicht ein Vortrag der im Kopf abläuft?
Ein leichtes Lächeln.

Implerstraße:

Endlich nahe der Grenze, wo sich nun Richtungen entscheiden. Wo das Kreuz und Quer der engen Stadt langsam ein Ende hat.
Kein Umsteigen mehr, kein hastiger Wechsel der Bahnsteige.
Die U-Bahn trägt mich nun hinaus aus der Stadt, den Winkeln meiner vier Wände entgegen.
Noch zwei Stationen! Die Bahn leert sich mit jedem weiteren Halt.
Einige Plätze bleiben nun sogar unbesetzt. Der Wagon wächst zu einem langen schmalen Wartesaal heran.

Harras:

Nun bekommen die Menschen wieder Gesichter. Manche Augen fangen an zu beobachten.
Jetzt hat man Überblick!
Manchmal auch ein lächelnder Mund.
Bekannte, Nachbarn oder Freunde sind überrascht, sich hier zu treffen.
Übereinstimmende Erleichterung. Aussicht auf ein kleines Stück gemeinsamen Weges vielleicht.
Beinahe hätte ich mich entschlossen, zu dem Mädchen, welches mich vorher vom anderen Ende des Wagons her angelächelt hatte, zu gehen, um ihr meine Telefonnummer zuzustecken, in der vagen Hoffnung, dass sie mich vielleicht einmal anrufen würde.
Doch da...

Partnachplatz:

Hier muss ich raus!
Zwei steigen mit aus.
Das Mädchen am anderen Ende des Wagons bleibt. Lässt sich weiter hinaustragen aus der Stadt, ihren eigenen vier Wänden, ihrem Elternhaus oder ihrer Arbeitsstelle entgegen – wer weiß?

Meine Flucht, jedenfalls, ist wieder einmal geglückt!

Wolfgang Kreiner© 2008
aus: „kein Grund lauthals zu singen“
Gryphon Verlag München
ISBN 978-3-935192-25-5

Weitere Beiträge zu den Themen

BuchtippLesetipp

Kommentare

Beteiligen Sie sich!

Es gibt noch keine Kommentare. Um zu kommentieren, öffnen Sie den Artikel auf unserer Webseite.

Zur Webseite

Themen der Woche

FreikartenAutoGewinnspielBildergalerieKulturWeihnachtszeitKlassikKonzertschwarz/weißErlkönigBavaria KlassikGewinnspiele

Meistgelesene Beiträge