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Der Mann an der Bushaltestelle

An jenem Morgen, an dem Andrea zum ersten Mal von ihrem Appartement zur Arbeit geht, fällt ihr der Mann an der Bushaltestelle noch nicht sonderlich auf.
Sicherlich, es ist nicht ungewöhnlich, so früh schon Menschen zu begegnen und sie ist bestimmt auch nicht die einzige Frühaufsteherin unter den vielen Menschen, die rings umher in den zahlreichen Hochhäusern leben.
Die erleuchtete Uhr an der Bushaltestelle zeigt zwanzig Minuten nach fünf Uhr. Noch zwei Minuten, dann müßte ihr Bus der Linie dreiundsechzig hier sein, der sie bis beinahe vor das Firmengebäude bringen wird, in dem sie nun seit annähernd drei Jahren arbeitet.
Andrea ist jung, selbstbewußt und tüchtig. Sie ist jederzeit bereit, sich von Schlagworten wie dynamisch, kreativ, menschlich und tolerant leiten zu lassen. Die Arbeit im Versandbüro macht ihr Spaß, sie hat nette Kollegen und Kolleginnen und kommt mit allen prima aus. So, wie sie es sich momentan eingerichtet hat, ist sie mit ihrem Leben zufrieden, wenngleich sie von sich nicht sagen kann, daß sie rundherum glücklich wäre. Irgendetwas fehlt ihr. Und dennoch, die Forderungen, die sie an sich und das Leben stellt, erscheinen ihr begründet und berechtigt. Von den anderen erwartet sie daher Anerkennung und Zustimmung. Die Zweifel, die in ihr dennoch manchmal aufkommen, ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten, die kurzzeitigen Lähmungen ihres selbst empfundenen Alleinseins kann sie, so denkt sie sich, durch Ablenkung leicht überwinden. Sie kompensiert sie durch die vielfältigsten Aktivitäten und wenn ihr dies einmal nicht gelingen sollte, dann versenkt sie diese in den geheimsten Tiefen ihres Selbst und versucht, zu vergessen.

Am darauffolgenden Morgen zur selben Zeit, steht der Mann erneut an der Bushaltestelle. Sie selbst steht schon seit ein paar Minuten dort und als sie ankam, war sie ganz sicher alleine. Wann sollte er also gekommen sein? Und woher sollte er so plötzlich gekommen sein? Sie hat ihn jedenfalls nicht kommen sehen, obwohl sie die Straße zu beiden Seiten weithin einsehen kann.
Er steht ganz einfach plötzlich da.
Sonderbar, denkt sie.
Dennoch lächelt sie dem Mann freundlich zu. Doch dieser lächelt kaum zurück. Er steht nur da und sieht sie an. In seinem Blick liegt aber nichts Aufreizendes, nichts Anzügliches, nichts, das ihr Angst einflößen könnte.
Ihr fällt die eigenartige Farbe seiner Augen auf, soweit sie diese unter dem leuchtstofferhellten Vordach der Haltestelle überhaupt ausmachen kann. Dieses matte, verschwommene Braun, das beinahe einen Grauschleier trägt. Graufahl auch die Augenhöhlen und die Haut der Lider.
In diesen Augen liegt etwas, das eine tiefe Traurigkeit erahnen läßt, ebenso aber auch ein gewisser Anflug von Güte. Deshalb fürchtet sie sich auch nicht vor diesem Mann. Nein, dazu wäre auch nicht der geringste Grund vorhanden. Und unbegründete Furcht wäre wohl kaum etwas anderes als Lächerlichkeit, denkt sie.
Fünf Uhr zweiunddreißig. Aus der Ferne sieht sie die Lichter des Busses auf die Haltestelle zukommen. Wenige Augenblicke später hält er.
Sie ist etwas erleichtert und es weicht eine undefinierbare Beklemmung von ihr, als sich die Bustür direkt vor ihr öffnet und sie einsteigen kann. Der Bus ist bereits mit wenigen Personen besetzt, die zumeist Zeitung lesend ihrem Einsteigen kaum Beachtung schenken. Andrea geht durch den Mittelgang des Busses ganz nach hinten und läßt sich in der letzten Sitzreihe nieder. Erst jetzt, als sie schon beinahe suchend über die Köpfe all der Businsassen hinweg sieht, bemerkt sie, daß der Mann von der Haltestelle nicht mit eingestiegen ist. Sie rutscht ganz zum Fenster und wischt mit dem Ärmel ihres Mantels über die leicht beschlagene Scheibe, um besser hinaussehen zu können. Aber der Mann steht auch nicht mehr an der Haltestelle.
Der Bus fährt an und aus dem Lichtschein der Haltestelle hinaus in den noch düsteren, stillen Schlund dieses herbstlichen Morgens, der eher noch zur Nacht gehört, als zum beginnenden Tag. Durch die noch leeren Straßen geht es wie jeden Morgen vorbei an düsteren, beinahe noch lichtlosen Häuserreihen, dann eine kleine Steigung empor auf den lichtumfluteten Bogen der großen Brücke zu.
Tiefschwarz sieht sie wenig später das Wasser herauf schimmern, auf dem einige Lichtpunkte tanzen. Noch etwas müde, ihren Kopf leicht an die Scheibe gelehnt, sieht sie gedankenverloren hinaus in die Finsternis.
Als Bilder dieses Mannes von der Bushaltestelle in ihrer Erinnerung wieder auftauchen, da ist es ihr plötzlich, als blicke er sie aus einer ganz anderen Wirklichkeit an. Ruhig zwar und gütig, zugleich aber auch traurig, schmerzlich mahnend. Sie kann sich nur nicht erklären, weshalb dieser Mann so viel Raum in ihren Gedanken einnimmt. Weshalb vermag gerade dieser Mann sie in ihren Emotionen so aufzuwühlen?
Noch oft an diesem Morgen streifen ihre Gedanken mehr ungewollt die Begegnung mit diesem Mann.
Würde er morgen wieder da sein, denkt sie im Stillen. Und woher kam er so plötzlich? Wo geht er hin, wenn er schon nicht mit dem Bus fährt? Und weshalb stand er denn überhaupt da?
Irgendwie geht für sie aber auch eine gewisse Faszination von diesem Mann aus. Ist es seine Reserviertheit, seine Rätselhaftigkeit, die ihn so anziehend für sie machen? Wenn er morgen wieder da stehen sollte, versuche ich mit ihm irgendwie ins Gespräch zu kommen - das Geheimnis um ihn zu lüften.
Dann wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Am Morgen darauf, zur gewohnten Zeit steht der Mann bereits unter dem breiten Vordach, als Andrea zur Haltestelle kommt.
„Guten Morgen!“ begrüßt sie ihn vernehmlich und lächelt ihm dabei freundlich zu.
Er antwortet nicht. Er steht wieder nur da und sieht sie mit diesen grauumschleierten braunen Augen an. Seine Mine ist wie versteinert. Auch diesmal kein Lächeln. Kein Nicken, keine Geste als noch so kleine Erwiderung.
Um in seine Nähe und dadurch mit ihm irgendwie ins Gespräch kommen zu können, macht sie ein paar Schritte auf den Glaskasten mit den Fahrplänen zu, neben dem er gerade steht.
Sie tut kurz so, als studiere sie die Abfahrtszeiten und wirft dabei unsicher ein paar verstohlene Seitenblicke auf den Mann. Dieser steht aber weiterhin nur still da und sieht sie an.
In diesem Augenblick fährt ihr Bus ein. Schade, denkt sie. Zu gerne hätte sie etwas von dem Geheimnis erfahren, das diesen Mann umgibt. Wenigstens seine Stimme hätte sie einmal hören wollen.
Und wiederum steigt der Mann nicht mit in den Bus.

Scherzend, die wahre Bedeutung, die diese Begegnung für sie tatsächlich hat verbergend, vertraut sich Andrea wenig später einer Kollegin an.
„Wie sieht er denn aus?“ will diese ganz aufgeregt und neugierig wissen.
„Ach, er ist.....,“ - wenn sie die Augen schließt, dann sieht sie ihn in erstaunlicher Klarheit vor sich. Er steht jeweils nur da und sieht sie stumm an. Er ist nicht groß. So groß, wie sie selbst vielleicht, denn seine Augen liegen mit den ihren in gleicher Höhe. So sehr vertraut ist er ihr schon. Nein, noch niemals hat er auch nur versucht, sie irgendwie beiläufig zu berühren. Aber heute, als sie ganz nahe bei ihm stand, da glaubte sie einen Moment lang, von ihm regelrecht umfangen zu sein, an seinen Schultern Geborgenheit und Schutz finden zu können. Er stand so bereitwillig da. Gerade so, als wollte er ihr Zuflucht gewähren. Erst jetzt, vor ihrem inneren Auge wird ihr deutlich, daß sie seine Hände noch niemals gesehen hat. Wo hat er die stets? In seinen Manteltaschen? „.....ach, es gibt einfach kaum Worte, ihn zu beschreiben.“ erwidert Andrea nur knapp. „Wie alt ist er denn?“ dringt die Kollegin weiter in sie. „Ach, nicht alt. Vielleicht so um die Dreißig. Er hat ganz fahle, braune und traurige Augen.“
„Aber belästigt hat er dich nicht?“
„Nein. Belästigt hat er mich noch nie.“
Er wird mich auch nicht belästigen, denkt sie. Er wartet vermutlich nur immer auf mich oder stellt sich dazu, kommt zu mir, wenn ich auf meinen Bus warte. Aber er fährt niemals mit, bleibt jedesmal alleine zurück. Jeden Morgen. Am Abend, wenn ich zurück fahre, habe ich ihn allerdings noch nie gesehen. Er trägt einen altmodischen grauen Anzug und einen ebenso altmodischen, viel zu kurzen Regenmantel, den er niemals zugeknöpft hat. Trägt man eigentlich noch diese Hemden mit den langen Kragenspitzen? So komisch auffallend gemusterte breite Krawatten mit diesen einfachen, länglichen Knoten? Seine Haare sind sehr kurz geschnitten und ebenfalls beinahe ohne jegliche Farbe. Er spricht nie etwas, aber ich kann wahrnehmen, fühlen, mit welcher bereitwilligen Gelassenheit er meine Musterung jedesmal erduldet.
Erneut schreckt sie hoch aus ihren Gedanken und wendet sich ihrer Arbeit zu.

„Guten Morgen!“ sagt sie, diesmal etwas lauter und vernehmlicher. Schon wieder steht er steif, unbeweglich und nur schauend da, als sie an der Bushaltestelle ankommt.
„Ist es nicht schrecklich, schon so früh aufstehen zu müssen?“ versucht sie ihn weiter aus seiner Reserviertheit zu locken. Diesmal glaubt sie ein kleines Aufhellen, ein winziges Lächeln in seinen Augen wahrnehmen zu können. Mehr nicht.
Es verunsichert sie. Klein und nichtig kommt sie sich in diesem Augenblick vor. Sie beginnt, innerlich vor Zorn zu beben. Und sie ist enttäuscht. Nun hat sie doch etwas Angst, ohne jedoch zu wissen, wovor und weshalb. Eine eher diffuse Angst, die sie momentan befällt.
Ihr Bus fährt ein und hält. Hastig springt sie hinein. Alles in ihr zwingt sie aber, sich nach zwei Stufen doch nochmals über die Schulter nach ihm umzusehen. Er steigt diesmal wieder nicht in den Bus ein. Die Bustür schließt sich hinter ihr. Wieder bleibt er zurück. Aber wo?
Es hat keinen Sinn, davonzulaufen. Jetzt will, ja, jetzt muß sie es wissen! Sie muß wissen, was er tut, wohin er geht, wo er jedesmal bleibt. Sie muß es herausfinden. Irgendwie. Sie fühlt sich verunsichert.
Gerne würde sie sich jetzt jemandem anvertrauen, jemanden um Rat bitten. Aber alles, was sie selbst darüber aussagen könnte, all ihre eigenen Versuche, Fragen zu beantworten oder selbst welche zu stellen, würde, so glaubt sie, an der Verständnislosigkeit der anderen scheitern.
Verwirrt, schwankend zwischen dieser diffusen Angst einerseits und der Sehnsucht andererseits, sich diesem schweigend wartenden fremden Mann einfach zu überlassen, versucht sie, sich einer eigenen Entscheidung zu entziehen.

Als Andrea am nächsten Morgen aus dem Haus tritt, setzt sie, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, ihren Weg nach links in der entgegengesetzten Richtung zur Bushaltestelle fort. Sie will zur anderen, vorhergehenden Haltestelle der Linie dreiundsechzig gehen und dort einsteigen, um ihm dadurch heute nicht zu begegnen. Vielleicht, so denkt sie, sieht sie ihn ja vom Busfenster aus auf sie warten. Aber die Blicke dieser grauumschleierten Augen begleiten sie auch an diesem Morgen. Sie spiegeln sich in den noch unbeleuchteten Schaufenstern, an denen sie vorbeiläuft und sie kommen aus der ruhigen, undurchdringlichen Nacht hier draußen, aus den Schatten der Häuser, aus der fahlen Helligkeit von Hauseingängen und weit entfernten Reklamebeleuchtungen. Aber auch wenn sie nun davonzulaufen versuchte, sie sich mit zitternden Knien irgendwohin flüchtete, sie ihre innere Zuflucht bei Worten und Fakten suchte, das Unerklärliche, das nicht Faßbare - nicht mit Worten Beschreibbare, wäre dennoch stets da. Aber heute, so versucht sie sich in diesem Moment zu beruhigen, ist ohnehin der letzte Arbeitstag dieser Woche. Vorbereitungen und Einkäufe fürs Wochenende sind zu tätigen und würde zu all diesen Ereignissen eine zumindest gedankliche Distanz schaffen.
Am Samstag würde Andrea wieder einmal zu ihrer Mutter fahren. Beide haben sich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Immer nur Telefonate. Dennoch, vermißt hatten sie sich nicht, da sie sich kaum etwas zu sagen haben. Zu verschieden waren sie in ihren jeweiligen Ansichten und Lebensweisen. Ihre immer seltener gewordenen Besuche bei der Mutter waren stets mehr Höflichkeits- oder Anstandsbesuche, seit sie von zuhause ausgezogen war.
Und doch beschleicht sie eine vage Hoffnung, vielleicht gerade dort die Antwort finden zu können, die ihr weiterhelfen würde. Vielleicht würde es eine Antwort sein, die gar nicht so vieler Worte bedürfte. Ja, vielleicht könnte sogar das, was man allgemein mit ‘Liebe’ bezeichnet eine Antwort darauf sein?
„Daß du schon jetzt kommst! Ich habe erst am Nachmittag mit dir gerechnet.“ meint die Mutter überrascht. Andrea kommt an diesem Samstagvormittag recht ungelegen. Ihre Mutter ist gerade dabei, die gesamte Wohnung auf den Kopf zu stellen. Alte Zeitschriften, die alten Vorhänge aus dem Zimmer ihrer Kindertage, angeschlagenes Geschirr und jede Menge Krimskrams aus offenstehenden Schubläden und Schränken liegen überall auf dem Fußboden verstreut umher. In der gesamten Wohnung riecht es nach Putzmittel und Bohnerwachs. Andrea versucht sich etwas nützlich zu machen. Stockend nimmt sie ein paarmal Anlauf, mit ihrer Mutter über die sonderbare Begegnung mit diesem Mann zu reden. Aber die Mutter hat ganz andere Dinge im Kopf und hört daher kaum zu. Resigniert gibt Andrea deshalb nach einiger Zeit auch auf, weiter in die Mutter zu dringen. Was könnte sie denn auch schon erzählen? Da steht immer ein Mann an der Haltestelle? Nein, nein, er hat mir noch niemals etwas getan. Nicht einmal angesprochen hat er mich bisher. Ich habe auch gar keine Angst vor ihm...., das ist es nicht. Dennoch bedrückt mich seine Gegenwart jedesmal. Seine Anwesenheit mahnt mich irgendwie.....,vor irgend etwas. Sie zeigt mir jedesmal, daß meinem Freiheitswillen und meiner Lust, Gebote zu überschreiten, die mein Leben lang Gültigkeit hatten, doch Grenzen gesetzt sind.
Ist doch lächerlich, was du dir da alles wieder zusammenreimst und einbildest, Kind! Würde die Mutter sagen und sich wieder anderen Dingen zuwenden. Sie würde sich ebenso verhalten, wie sie sich auch in der Vergangenheit stets verhielt, wenn sie mit einem eigenen, für die Mutter allerdings unbegreiflichen Anliegen ungelegen kam. Und gerade hierin war auch der tiefere Grund zu suchen, weshalb diese tiefe Kluft zwischen ihr und der Mutter herrschte.
Andrea stöbert gedankenversunken in den offenstehenden Schubladen einer alten Kommode. In der hintersten rechten Ecke der untersten Schublade stößt sie auf eine alte, verschnörkelte Blechdose. Das antiquarische Aussehen dieser Dose gefällt ihr. Sie hat eine besondere Vorliebe für derlei alte Sachen. Sie nimmt die Dose in die Hand. In ihr schienen vor Jahrzehnten einmal Tee oder Kekse verkauft worden zu sein. Neugierig öffnet sie den Deckel. Sie ist voll mit alten, vergilbten Schwarzweißfotos mit diesen weißen, gezackten Rändern, Ansichtskarten, Sterbebildchen mit den Abbildungen längst verstorbener, die ihr aber alle fremd sind.
Es ist ihr dabei, als stöbere sie in einer fernen, längst vergangenen Zeit herum. Einer Zeit, von der sie in keiner Weise berührt wurde. Es ist kein Bild dabei, das sie an irgend etwas aus ihrer Kindheit erinnern würde, etwas, das sie von früher kennt.
Eines der Fotos fällt zu Boden. Sie hebt es auf und sieht in das Gesicht des darauf abgebildeten jungen Mannes mit den stillen, grauumschleierten Augen und den kurzen, hellen Haaren. Der Mann trägt einen grauen Anzug und eine unmöglich gemusterte Krawatte, deren länglicher, altmodischer Knoten unter den langen Kragenecken seines Hemdes hervor schaut. Über all dem trägt der Mann einen kurzen Regenmantel, der vorne weit offen steht. Mit seinen stillen Augen scheint er Andrea in diesem Moment regelrecht anzulächeln.
„Wer ist das?“ fragt sie die Mutter mit gespielter Teilnahmslosigkeit, während sie die in ihr aufkommenden Regungen bewußt verbarg.
„Dein Vater!“, antwortet die Mutter nach einem kurzen Blick über die Schulter, „Ich glaube, es ist das einzige Bild, das ich je von ihm hatte.“
Andrea weiß kaum etwas von ihrem leiblichen Vater. Auch die Mutter selbst hat ihn zu wenig gekannt, als daß sie viel über ihn zu berichten gehabt hätte. Von dem, was sie als Erinnerung an ihn in sich trägt, hat sie ihr in ihren Kindertagen erzählt. Er ist damals, gleich nachdem ihre Mutter von ihm mit ihr schwanger wurde, durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Er verunglückte genau an dem Tag, an dem er von ihrem werdenden Leben erfuhr. Wie die Mutter erzählte, freute er sich damals sehr auf sie und wie sie immer wieder betonte, hatte er sich gerade eine Tochter so sehr gewünscht. Aber auch die Mutter selbst hatte ihn seinerzeit erst wenige Monate gekannt, als daß sie mehr von ihm hätte erzählen können. Und so wuchs sie ganz ohne Vater auf.
Auf ihrem Nachhauseweg ließen sie Gedanken an Väter und Mütter nicht mehr los.
Als sie noch klein war, so erinnerte sie sich, da hatte sie Freundinnen und Freunde, die alle Väter hatten. Es waren Väter, die hatten das ewige Kind in sich nur mal eben beiseite gelegt. Jederzeit konnten sie es aber wiederfinden und hineinschlüpfen, wie in einen Mantel, der ihnen stets paßte. Sie hörten geduldig zu und beantworteten alle Fragen. Sie gingen mit ihnen spazieren und zeigten ihnen alles. Sie spielten all ihre Spiele mit und zeigten ihnen Spiele, die nur sie kannten oder gar erst erfinden mußten. Sie kauften Eis und Lakritze, heckten Streiche mit ihnen aus, zauberten, hatten Geheimnisse mit ihnen und konnten diese auch bewahren, gaben Schutz und Geborgenheit, waren stark, weinten niemals. Und es gab Väter unter ihnen, die mit ganz einfachen Worten und Gesten überzeugen konnten, denen man einfach glauben und vertrauen konnte, wenn sie liebevoll warnten, deren Rat ihnen einfach wichtig und unersetzlich war.
Und es gibt sicher auch Väter, die Zufluchtsorte bleiben, an die man sich flüchten kann, wenn man dann einmal kein Kind mehr ist und dennoch glaubt, sich alles spielerisch erfüllen zu können.
Wie sehr hat sie sich stets einen solchen Vater gewünscht.
Welch schmerzliche Enttäuschungen und Erfahrungen erlebt und macht man, wenn man dann erwachsen ist. Und da gibt es Väter, aber auch Mütter, Menschen, die man unbeachtet beiseite schiebt, weil man sie ganz einfach nicht verstehen will, deren Lebensauffassung man ablehnt und die aber dann ‘Trotzdem!’ sagen. Trotzdem du mich enttäuscht hast, werde ich stets für dich da sein. Ich werde dir trotzdem weiterhelfen und dich vor Schaden zu bewahren versuchen, denn ich liebe dich noch immer - habe dich trotz allem stets geliebt und werde dich auch immer lieben, egal wie dein oder mein Leben verläuft - werde die Liebe zu dir mit ins Grab nehmen.
Liebe, die alles überdauert.
Morgen, am Montag wird sie einen solchen Vater treffen, einen Vater, der sie wiedergefunden hat. Ihren Vater!

Wie lange eine Nacht dauern kann, wenn man voller Erwartung ist! Bilder und Gedanken kommen auf und verblassen wieder. Schritte klopfen auf dem Straßenpflaster und verhallen in der Nacht. Worte und Schemen durcheilen die kurzen Träume, drängen sich ins Bewußtsein und fallen wieder zurück in die wunderbare Geborgenheit aus Wärme und Schlaf.
Schatten bewegen sich die Wände entlang und verschwinden. In den endlosen Häuserreihen brennen Lichter kurz auf, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Regen prasselt in sachten Schüben an die Fensterscheiben, läßt Lichter und Schatten zu Zerrbildern der Wirklichkeit werden. Geräusche mehren sich und holen in die Wirklichkeit zurück.
Es ist Zeit. Das Lampenlicht des Zimmers läßt die Bilder der Träume augenblicklich verblassen.
Vater, ich habe dir so viel zu sagen!

Als sie an der Bushaltestelle ankommt, ist sie alleine. Bestimmt würde er gleich kommen, denkt sie. Er würde wie jeden Morgen plötzlich dastehen und sie wieder nur ansehen. Aber heute würde sie wissen weshalb. Und sie würde wissen, was die Trauer in seinen Augen zu bedeuten hat.
Wo bleibst du nur?
Nirgends ein Lächeln. Kein Blick. Aber auch keine Angst mehr. Hatte sie überhaupt jemals Angst?
Unruhig sieht sie nach links und rechts, die Straße hinauf und hinunter. Aber es ist kein Mensch zu sehen. Sie fröstelt leicht. Die erleuchtete Uhr zeigt genau halb sechs Uhr. Noch zwei Minuten! Wo bleibt er heute nur? Von innerer Unruhe getrieben, beginnt sie nun, auf dem kurzen Abschnitt des Gehsteigs vor der Haltestelle auf und ab zu laufen. Das Stakkato, das ihre Absätze auf den Steinplatten erzeugen, hallt in die Stille dieses Morgens. Und immer wieder sieht sie dabei unruhig zur Uhr, deren Sekundenzeiger unaufhaltsam weiter rückt. Mein Gott, wo bleibt er denn heute nur? Gerade heute!
Aber was kümmert sie heute die Zeit. Sie kann heute nicht einfach so weggehen. Nicht heute!
Von weitem sieht sie die Lichter ihres Busses auf die Haltestelle zukommen. Die Bustür schwingt vor ihr auf. Regungslos, wie angewurzelt steht sie da. Zweifelnd, ob sie mitfahren soll. Ja, schon beinahe verzweifelt.
Nein, sie muß warten! Eine unbekannte Macht hält sie hier wie verzaubert fest.
Der Busfahrer beugt sich nun lächelnd zur offenen Tür. „Na, junges Fräulein, wollen sie heute nicht mitfahren?“ ruft er heraus.
Etwas verwirrt schüttelt sie nur den Kopf. Worte einer möglichen Erklärung, die auch verstanden würde, blieben ihr regelrecht im Halse stecken. Im Blick des Busfahrers lag etwas Unbeschreibliches und diese Empfindung macht ihr in diesem Moment auch Angst.
Nein, ich werde den nächsten Bus in zwanzig Minuten nehmen, denkt sie. Komme ich heute eben ein paar Minuten zu spät zum Dienst, was soll’s. Was sind noch zwanzig Minuten warten, wenn ich mein ganzes bisheriges Leben gehofft, mich gesehnt und gewartet habe?
Zischend schließt sich die Bustür wieder und der Bus fährt an. Immer kleiner werden die Rücklichter, bis sie von der alten, zerfallenden Nacht gänzlich wieder verschlungen werden.
Unruhig geht Andrea weiter auf und ab.
„Weshalb läßt du mich gerade heute allein?“, flüstert sie vor sich hin. „Du mußt doch wissen, daß ich hier auf dich warte. Hier, wo doch auch du so oft auf mich gewartet hattest. Bist du verärgert, weil ich dir das letzte Mal ausgewichen bin?“ Sofort verwirft sie diesen Gedanken aber wieder.
Erbarmungslos rückt der Sekundenzeiger der Normaluhr weiter und reißt bei jeder Umdrehung auch den anderen Zeiger ein Stück mit nach oben. Teilnahmslos, stur.
Fünf Uhr vierundvierzig. Ein Martinshorn zerreißt die Stille und quält sich entfernt durch die Nacht. Ein Blaulicht zerhackt das Dunkel und kommt näher. Ein zweites Martinshorn stimmt synkopiert ein. Ein Polizeiwagen jagt an ihr vorbei. Feuerwehrwagen folgen der Jagd, schreien sie im vorüberjagen mit ihren Martinshörnern an. Dann ist es wieder still.
Weiter geht sie unruhig auf und ab.
Fünf Uhr dreiundfünfzig. Der nächste Bus müßte längst hier sein, denkt sie. Was ist das heute nur für ein Tag, was geschieht hier heute mit ihr? Nichts, aber auch gar nichts ist heute so wie sonst. Es ist alles so unwirklich.
An der Kreuzung zuckendes, gelbes Licht. Nur zuckend, stehend, nicht dahinjagend.
Vater, was ist mit dir? Weshalb bist du heute nicht gekommen?
Und weshalb kommt auch kein Bus mehr?
Sie fühlt sich so ausgeliefert. Kaum mehr vom eigenen Willen gelenkt, wie automatisch einen Fuß vor den anderen setzend, geht sie auf die noch immer gelb zuckende Kreuzung zu. Städtische Arbeiter sind gerade dabei, die Straße, auf der ihr Bus kommen sollte, quer zur Fahrbahn hin abzusperren und Umleitungshinweise anzubringen.
„Was ist denn hier nur los heute, was ist passiert?“ will sie von einem der Arbeiter wissen.
„Der dreiundsechziger Bus ist vor zwanzig Minuten auf der Brücke verunglückt!“ entgegnet dieser ganz aufgeregt und wendet sich wieder seiner Arbeit zu.
„Aber so sagen Sie mir doch, was genau ist denn geschehen?“ wendet sie sich ganz erschrocken an einen der anderen Arbeiter.
„Der Bus hat das Brückengeländer durchbrochen und ist in den Fluß hinuntergestürzt, mehr weiß ich auch noch nicht!“ antwortet dieser mehr noch verschlafen und läßt Andrea ebenfalls stehen.
Mein Gott! denkt sie. Ein eiskalter Schauer jagt ihr den Rücken hinunter. Sie fröstelt.
Ohne eine weitere Frage dreht sie sich um und geht davon.

Sie weiß, daß sie ihn nie mehr wiedersehen wird.

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