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Der Brief...

Ein Kunststudent aus Stuttgart, der während seines Examens an der Kunstakademie in München als Gasthörer die junge Kunststudentin derselben Akademie, Ines W. kennen lernte, die zum Studium in München weilte, richtet folgenden Brief an sie :

„Bezauberndes Fräulein Ines,
Herbst ist nun hier in Stuttgart, und der Baum, der mir letzten Sommer Dein Fenster in München verdeckte, hinter dem Du wohntest, steht nun bestimmt auch schon ohne Blätter da.
Was nützt es, wenn ich im Fenster gegenüber Dein liebes Gesicht nicht erblicken kann, das mir hier ebenso fehlt, wie die Gespräche mit Dir. Schon mehr als zwei Monate lang versuche ich, diese Gespräche durch Briefe zu ersetzen. Ist Dir diese Korrespondenz auch wirklich nicht lästig?
Bitte antworte mir!
Letzte Woche, als ich wieder einmal in München war, bin ich entlang des Eisbaches spazieren gegangen. Dabei erinnerte ich mich an jenen unvergessenen Abend in dem kleinen Café, als wir beide lange über den Expressionismus sprachen, und dann, als wir noch den Spaziergang im nahen englischen Garten machten, sich über uns die Nacht auftat, mit einem Mond, der groß und hell war wie ein Lampion.
Als ich nun wieder an diesem Bach stand, war mir, als hörte ich im Rauschen des Windes Deine Stimme, die Stimme einer Freundin.
Ich schreibe Dir gewiss nicht, dass ich ständig an Dich denke, weil es ganz einfach nicht stimmt.
Ich schreibe Dir auch nicht, dass ich ohne Dich nicht leben kann, denn ich lebe ja und fühle mich manchmal sogar wohl.
Und dennoch gäbe ich jetzt viel für einen Augenblick des Gespräches mit Dir über Picasso, Kokoschka, Marc oder Beckmann und die Umformung der Natur sowie das Bemühen in der Malerei, die Vorstellung darüber so wiederzugeben, wie sie in der individuellen Erlebniskraft dieser Künstler vorgegeben waren.
Viele Gedanken zu diesem Thema gehen mir hier durch den Kopf, aber ich habe niemanden, dem ich sie auch anvertrauen könnte.
Das ist schlimm.
Es kommt nicht sehr häufig vor, dass zwei Menschen sich so gut verstehen, wie Du und ich. Ich sehe Dich als wahre Freundin und es ist nur Zufall, dass Du ein Mädchen bist.
Aber alleine auf dieser Tatsache beruht unsere Freundschaft nicht, die ich so hoch bewerte, wie Du sicher weißt. Ich hatte gedacht und gehofft, ich würde Dich vergangene Woche in dem kleinen Café in der Ludwigstraße sehen. Ich hatte meinen Aufenthalt in München extra um zwei Tage verlängert und gewartet, aber meine Hoffnungen sind dann immer mehr verweht, wieder einmal Deine Stimme zu hören, wieder einmal Deine wissbegierigen Augen zu sehen.
Manchmal mache ich mir Sorgen darüber, dass ich nicht so bin wie die anderen Kerle, die mich so umgeben, aber dann bin ich auch wieder stolz darauf, dass ich nicht so bin wie sie.
Du weißt bestimmt, was ich damit meine.
Ich bin wieder zu den alten Griechen zurückgekehrt und finde bei ihnen, was mich damals im Gespräch mit Dir so angezogen hat: Verständnis für die menschlichen Dinge, Weisheit und Güte.
Vor allem Aischylos habe ich gleichsam neu entdeckt, ich verbringe hier viele Abende mit ihm.
Doch dieser Freund wird mir die Freundin aus München nicht ersetzen können, die vielleicht manchmal auch an mich denkt.
Vergiss Deinen treuen Freund nicht und schreibe mir bitte einmal zurück.
Ich küsse ganz frech eine Deiner zarten Locken...
Dein Franz“

Die Adressatin erhielt den Brief kurz vor einer Vorlesung und machte ihn im Hörsaal auf.
„Etwas Interessantes?“, fragte eine Kommilitonin.

„Ach“, sagte Ines, „irgend so ein Typ aus Stuttgart, der im Sommer hier mal als Gasthörer war, will unbedingt mit mir ins Bett!“

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