Die Vorladung (aus der Reihe: "Münchner G'schichten")
Donnerstag den 23. September um neun Uhr, Polizeipräsidium in der Ettstrasse, Kommissariat 12, Zimmer 329, Sachbearbeiter Hauptkommissar Hübner.
So stand es auf der Vorladung.
Und jetzt ist es schon viertel nach Neun!
Aber genau das sind ihre psychologischen Tricks: Den Menschen erst in ein Zeitkorsett zwängen, dann in einen gewissen Zustand der Erregung versetzen und zappeln lassen, damit sich dann später alles leichter aus ihm herausholen lässt.
Aber was können die denn schon von mir wollen?
Vielleicht hat der Meier vom dritten Stockwerk...? Sicher, die Auseinandersetzung neulich vorm Haus war schon heftig, aber gleich mit der Kripo...?
Sicher haben das andere im Haus auch gehört, vielleicht hat er sogar einen von ihnen als Zeugen gewinnen können.
Aber wen?
Nein, diese Angelegenheit war doch viel zu lächerlich, als dass man da gleich... Kein normaler Mensch tut doch so etwas.
Das muss etwas viel ernsteres sein.
Ob das mit meinen unversteuerten Einkünften vom Flohmarkt zusammen hängt? Oder weil ich meinem Freund ein dreiviertel Jahr lang bei seinem Hausbau geholfen und das Geld schwarz eingestrichen habe? Sicher hat mich da jemand hingehängt, der mir diese paar Hunderter nicht gönnt.
Jemand vom Haus oder ein Arbeitskollege?
Aber da gibt’s ja keine Belege, da kann ich die Höhe der Einnahmen doch einfach herunterspielen und sagen, dass ich mich nur wichtig gemacht habe mit meinen Nebeneinkünften.
Das müsste gehen. Und das mit dem Hausbau läuft doch sowieso unter Nachbarschaftshilfe. Aber gleich ein dreiviertel Jahr lang?
Na ja, nur nicht aufregen!
Aber wie war denn das mit dem Schnäppchen damals, dem billigen Autoradio?
Vielleicht war’s doch geklaut und die wollen mir nun wegen Hehlerei an den Kragen.
Aber unmöglich, das ist ja schon über drei Jahre her. Wann tritt da eigentlich Verjährung ein in solchen Fällen?
Aber manche Dinge kommen ja oft erst nach Jahren heraus. Irgendjemandem fällt zufällig ein Zettel in die Hand oder einer quatscht in der Kneipe und macht sich wichtig. Und dann geht die Maschinerie los und sie fangen an zu wühlen und zu suchen, und wie’s der Teufel will...
Alles ist eben möglich.
Vor allem kann man heutzutage niemandem mehr trauen. Fast jedem ist doch das Hemd näher als die Hose. Und manch einer, der erwischt und von ihnen ausgequetscht wird, fängt dann doch an, zu singen. Nur um seinen eigenen Kopf zu retten, hängt er dann Freunde hin und reißt sie mit hinein.
Aber wer weiß denn schon was von mir?
Egal was es ist, ich werde einfach alles leugnen und abstreiten. Oder ich sage einfach, ich kann mich an nichts mehr erinnern, Fertig!
Ich hoffe nur, dass sie nicht irgendwas mit meiner Unterschrift als Beweis vorliegen haben, dann würde ich allerdings alt aussehen.
In diesem Fall brauch ich auch nicht leugnen, weil die Schriftsachverständige haben und einem da immer drauf kommen. Dann krieg ich vielleicht noch ein Verfahren wegen uneidlicher Falschaussage.
Aber egal was die von mir wollen, unterschreiben tu ich jedenfalls nichts, gar nichts!
Ich hätte irgendwelche Beruhigungstabletten nehmen sollen, damit ich denen hätte cooler begegnen können.
Wie viele Jahre könnten sie mir denn da geben wegen den unversteuerten Einnahmen vom Flohmarkt und dem Hausbau oder wegen dem Autoradio? Oder den Einnahmen und dem Autoradio zusammen?
Ich werde erst mal abwarten und den Kommissar reden lassen, um zu sehen, was und wie viel die überhaupt wissen über mich.
Und wenn ich tatsächlich für ein oder zwei Jahre in den Knast muss, mein Gott, die vergehen doch im Fluge.
Tut mir vielleicht mal ganz gut. Der Arzt hat eh gesagt, dass ich abnehmen sollte. Außerdem sind ja die Zeiten vorbei, wo die Gefangenen in Ketten gelegen haben mit einer Eisenkugel am Fuß.
Heutzutage ist das alles nicht mehr so schlimm. Und ich kriege bestimmt auch einen Fernseher in die Zelle.
Aber warum hab ich meine Tasche mit den warmen Sachen und der Zahnbürste nicht gleich mitgenommen? Hatte doch alles schon hergerichtet zuhause. Wenn sie mich jetzt gleich verhaften, hab ich nichts dabei. Und wer weiß, wann meine Frau dann überhaupt Besuchsrecht bekommt?
Und wenn es doch um etwas völlig anderes geht?
Warum soll es ausgerechnet diese Sache mit dem Einkommen oder dem Radio sein?
Obwohl..., wenn’s die Sache mit der Steuer ist, dann wird’s ekelhaft, denn da verstehen die keinen Spaß, wenn jemand den Staat bescheißt. Da kennen die keine Gnade, da sind die Strafen meist doppelt so hoch.
Aber, wenn nicht, was könnt’ es denn sonst noch sein?
Mal scharf nachdenken. Vielleicht etwas ganz anderes, was mir im Moment gar nicht in den Sinn kommt. Etwas, das schon lange her ist? Etwas, womit ich nie im Leben mehr gerechnet hätte?
Aber was denn nur? Mal weiter zurückdenken, weiter zurückdenken.
Vielleicht die beiden Dreier in Mathematik und Physik, die ich in meinem Abschlusszeugnis aus den Fünfern gebastelt habe?
Aber das ist nun über dreißig Jahre her und sicher verjährt.
Aber was, wenn sie mir deshalb meine Berufsausbildung für ungültig erklären, weil ich mir die mit einem gefälschten Zeugnis erschlichen habe?
Wie stünde ich denn dann da vor den Kindern?
Verdammt, weshalb können die aber auch nicht auf die Vorladung schreiben, worum es überhaupt geht, damit man sich darauf vorbereiten und sich rechtzeitig um ein Alibi kümmern kann? Sich ein paar Zeugen kaufen oder Beweise verschwinden lassen, oder so?
Aber wer weiß, möglicherweise ist alles gar nicht so schlimm und es geht gar nicht um mich.
Die haben mich vielleicht nur vorgeladen, weil mich irgendjemand als Zeuge benannt hat.
Aber warum halten die mich hier dann so lange fest, lassen mich so lange warten?
Und diese Stille hinter der Tür? Sehr verdächtig!
Warten Sie hier, haben sie gesagt, Sie werden dann aufgerufen.
Sicher werden sie mich dann ins Kreuzverhör nehmen, einer hier und einer dort, und ich in der Mitte, eine grelle Lampe genau in die Augen, damit ich nicht sehen kann, was um mich herum geschieht. Los, spuck endlich alles aus, was du darüber weißt, sonst..., werden sie sagen.
Solche Szenen kenne ich zur Genüge, vom Fernsehen. Nur nicht nachdenken, auf jede Frage nein und nochmals nein!
Weiß ich nicht, kenne ich nicht, habe ich nicht, war ich nicht dabei, hab’ ich nicht gesehen!
Aber so einfach ist das sicherlich nicht. Die haben da schon ihre Methoden, die können alles, aber auch wirklich alles aus einem herausholen.
Also, was dann?
Besser von vorneherein alles zugeben, das gibt Strafmilderung.
Man muss sich klein machen.
Bereuen muss man, zugeben, dass man einen Fehler gemacht hat, die Familie, die Kinder, der Job.
Bisschen jammern.
Nie wieder soll so etwas vorkommen, ich versprech’s!
Aber, wer weiß, ob die sich von so was überhaupt beeindrucken lassen? Normalerweise kennen die doch kein Erbarmen mit Verbrechern.
Gut, dass mein Bruder Geld hat. Meine Frau wird ihn bestimmt bitten, uns was zu leihen, damit ich mir einen guten Rechtsanwalt nehmen kann.
Lieber Gott, bitte hilf mir. Nur dieses eine Mal noch! Du hast mir doch schon so oft aus der Patsche geholfen. Ich verspreche auch, dass ich wieder regelmäßig in die Kirche komme.
Warum zittere ich denn so am ganzen Leib?
Steht doch überhaupt noch nichts fest.
Wie viel derartige Situationen hab ich denn in meinem Leben schon gehabt, in denen ich genauso aufgeregt war wie heute. In der Schule beispielsweise, beim Rektor jedes Mal vor der Tür. Und es ist doch immer alles irgendwie gut ausgegangen.
Ob die mich gegen Kaution freilassen werden?
Aber bei solchen Sachen lassen die einen doch nicht so leicht los. Die sind doch froh, dass sie einen endlich haben! Man muss Gürtel, Schlips und Schnürsenkel abgeben und fertig.
So dumm aber auch, darauf hereinzufallen. Und ich nehme mir extra frei, entschuldige mich in der Firma, lass mir eine Ausrede einfallen und geh auch noch selbst freiwillig zu Fuß hier her.
Ich Idiot!
Verdächtig auch, dass sie auf die Vorladung geschrieben haben, man soll die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Wahrscheinlich deshalb, dass das Auto dann nicht irgendwo jahrelang herumsteht, wenn sie einen gleich einlochen.
Hab es deshalb in der Zeitung schon mal zum Verkauf angeboten, damit die Familie wenigstens für die ersten Wochen was zum Essen hat.
So ne Scheiße aber auch, in die ich da hineingeraten bin. Wer weiß wann ich die Familie überhaupt wieder sehe. Vielleicht sind die Kinder dann schon verheiratet?
Ob ich Besuch empfangen darf?
Meine Arbeit bin ich auf jeden Fall los, und nach meiner Entlassung wieder so einen Job zu finden...? Vielleicht reicht meine Frau ja sogar die Scheidung ein, weil sie mit einem Lumpen wie mir nichts mehr zu tun haben will.
Oh, ich hör Schritte hinter der Tür. Jetzt ist es soweit. Kopf hoch, wird schon gut gehen. Lächeln und ja nichts anmerken lassen. Einfach cool bleiben!
„Krämer, ja, das bin ich. Bitte Herr Kommissar, hier ist die Vorladung.
Was? Sie haben den richtigen Krämer längst? Irrtümlich vorgeladen? Namensverwechslung? Es geht also um einen ganz anderen Krämer?
Na, das habe ich mir doch gleich gedacht.
Macht aber nichts, ich hab heut sowieso frei und bin eh zufällig in der Gegend gewesen.
Wie, ich hätte schon Angst bekommen?
Aber wieso denn?
Wenn man nichts zu verbergen und eine saubere Weste hat, dann braucht man sich doch auch vor nichts zu fürchten, Herr Kommissar, oder...!“
aus: W. Kreiner(c)
"morgen ist's noch früh genug zu spät"
Gryphon-Verlag München 2010
ISBN: 978-3-938109-26-7