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Chaos bei der Rente mit 63

Wie kam es zu der Idee einer abschlagfreien Rente mit 63

Mit Dank übernommen von den NachDenkSeiten

24. Januar 2014 um 9:49 Uhr
Rubrik: Rente, Privatvorsorge, etc.
Verantwortlich: Wolfgang Lieb

Nachdem bislang nur die Hardliner der Agenda 2010, wie etwa die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) und die Wirtschaftsverbände gegen die abschlagsfreie Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren politisch auf die Barrikaden gegangen sind, appellieren nun auch Sozialverbände, auf dieses Gesetz zu verzichten. Auslöser für diese denkwürdige außerparlamentarische „große Koalition“ zwischen Wirtschafts- und Sozialverbänden sind Meldungen der Deutschen Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit, dass sie die für die Umsetzung des Gesetzes notwendigen Daten angeblich nicht liefern können. Die neue Sozialministerin Andrea Nahles setzt darauf, dass die Zahlen „organisierbar“ seien und die Kanzlerin erklärt nach der Meseburger Klausur, dass das ganze Kabinett die Rentenpläne unterstütze. Doch ist die Debatte um die Rente mit 63 nicht nur „heiße Luft“? Von Wolfgang Lieb

Das Chaos ist dadurch entstanden, dass nach dem Referentenentwurf des Sozialministeriums von der Sonderregelung der Rente mit 63 eben jenseits der 45 Beitragsjahre auch noch profitieren soll, wer innerhalb dieser langen Zeitspanne bis zu 5 Jahre ein – aus der Arbeitslosenversicherung finanziertes – Arbeitslosengeld bezogen hat oder krankheitsbedingte Ausfälle in seinem Arbeitsleben hatte. Wer jedoch längere Zeit als Arbeitsloser steuerfinanzierte Unterstützungsleistungen – also früher die sog. Arbeitslosenhilfe und nach den Hartz-„Reformen“ Arbeitslosengeld II bezogen hat – soll nach dem Entwurf von Nahles nicht in den Genuss der abschlagsfreien Rente kommen können.

Nun aber erklärte die „Deutsche Rentenversicherung“ plötzlich, dass sie nach ihrem Datenbestand von 1978 bis 2001 nicht zwischen dem Bezug von „Arbeitslosengeld“ und der damals sog. „Arbeitslosenhilfe“ unterscheiden könne. Auch bei der Bundesagentur für Arbeit seien diese Daten nicht zu bekommen. Angesichts dieser „technischen Probleme“ bekommen die Kritiker an diesem Gesetz aus allen Lagern wieder neuen Auftrieb.

Wie kam es zu der Idee einer abschlagfreien Rente mit 63

Um das Chaos ein wenig zu ordnen, ist es vielleicht gut, noch einmal zurückzublicken, wie es zu der Idee der „Rente mit 63 nach einem langen Arbeitsleben“ (Sigmar Gabriel) gekommen ist:

Der Anstoß dafür war, dass die SPD die immerhin noch ziemlich einheitliche Ablehnungsfront der Gewerkschaften gegen die „Rente mit 67“ vor der Bundestagswahl durchbrechen wollte. Sigmar Gabriel hat dann für die Rente mit 63 gekämpft, um die Industriegewerkschaften für eine Große Koalition zu gewinnen. Denn es war klar, dass vor allem Arbeitnehmer aus den klassischen Industriesektoren davon profitieren könnten – nach Angaben der Rentenversicherung zu 86 Prozent Männer, die ohnehin etwas überdurchschnittliche, jedenfalls eine höhere Rente als Frauen bezögen.

Die Rente mit 63 ist zwar für die Begünstigten eine Verbesserung, die man gar nicht klein reden sollte, sie ist aber keine Lösung des Rentenproblems.

Man kommt nicht darum herum:

Die Rente mit 63 ist eine Flickschusterei am politisch bewusst zerstörten gesetzlichen Rentensystem.
Sie ist darüber hinaus ein politisches Ablenkungsmanöver der SPD von deren Festhalten an der durch ihre „Reformen“ nach wie vor festgeschriebenen Senkung der gesetzlichen Rente auf das Niveau (Netto vor Steuern) von 43 Prozent bis 2030.
Die Debatte um die Rente mit 63 sollte schließlich auch noch darüber hinwegtäuschen, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag von CDU/CSU/SPD zur Rente sogar noch hinter die derzeitig geltende Gesetzeslage zurückfallen:

Nach § 154 Abs. 4 des Sechsten Sozialgesetzbuches müsste nämlich alle vier Jahre erst noch geprüft werden, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können.

Warum zweifeln Sozialverbände an der Rente mit 63

Da – wie schon erwähnt – derzeit nur noch jeder achte Erwerbstätige mit 63 Jahren voll beschäftigt ist und mit 64 Jahren sogar 90 Prozent nicht mehr vollzeitbeschäftigt sind, wären gegenwärtig noch nicht einmal die gesetzlichen Voraussetzungen für die Umsetzung der Rente mit 67 erfüllt.

Berücksichtigt man ferner, dass das Zugangsalter, mit der ein abschlagsfreie Rentenbezug möglich werden soll, parallel zur Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 ohnehin auf das vollendete 65. Lebensjahr ansteigen würde, ist es nur zu verständlich, wenn etwa der Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), Adolf Bauer dafür plädiert, die Rente mit 63 fallen zu lassen und eben die Rente ab 67 komplett auszusetzen.

Und hier spaltet sich natürlich die „Koalition“ zwischen Wirtschafts- und Sozialverbänden.

Auch Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband sagte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, man solle auf dieses Gesetz besser verzichten, weil es ein „bloßes Gesetz für die Generation 50plus“ ist und zu neuen Ungerechtigkeiten führte:

Ungerecht, einmal gegenüber Frauen, für die in ihrer Berufsbiografie eine Einzahlung in die Rentenkasse über 45 Jahre viel seltener möglich war als für Männer.
Zum anderen aber auch deshalb, weil die Unterscheidung zwischen Beziehern von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II bei der Errechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre zu einer doppelten Bestrafung von solchen Arbeitslosen führt, die längere Zeit keinen Arbeitsplatz gefunden haben.

In der Tat stellt sich sogar (verfassungs-)juristisch die Gerechtigkeitsfrage, warum nun gerade diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben eher Glück hatten und allenfalls kurze Zeit arbeitslos waren, bei der Rente besser gestellt werden sollten, als diejenigen, die das Pech hatten, z.B. als ältere Arbeitnehmer keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt mehr bekommen zu haben und deshalb die 45 (Eigen-)Beitragsjahre trotz aller Bemühungen nicht erreichen können.

Eine neue Wende hat die Debatte um die Rente mit 63 dadurch bekommen, dass der DGB befürchtet, dass die Arbeitgeber dieses Gesetz missbrauchen und Beschäftigte schon mit 61 auf die Straße setzen könnten. Das zuständige Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, fährt sogar ein schweres Geschütz auf und schlägt vor, „die ‚Erstattungspflicht‘ wiedereinzuführen und die Unternehmen dazu zu verpflichten, bei Entlassungen von Beschäftigten ab 60 Jahren die Kosten der Arbeitslosigkeit in voller Höhe zu tragen“.
Na ja, man kann ja mal drohen und fordern …

Ist die Debatte um die Rente mit 63 nur „heiße Luft“?

Die Frage stellt sich aber noch viel grundsätzlicher:

War und ist nicht die gesamte Debatte um die abschlagsfreie Rente mit 63 nicht mehr als „heiße Luft“?

Aus dem Lager der neoliberalen Propagandaagenturen ging es beim Kampf gegen dieses Gesetz von Anfang an nur darum, eine „Aufweichung“ der Agenda-Reformen auf Teufel komm raus zu verhindern. Dieses Lager strebt nämlich sogar noch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit an, nämlich eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung. (Fragt sich nur an die Lebenserwartung welcher Berufsgruppen, etwa der von Stahlarbeitern oder der von Lobbyisten.)
Diese Meinungsmache lässt sich also leicht unter der Rubrik Ideologie abbuchen.

Blickt man aber einmal über den politischen Pulverdampf hinaus auf die Tatsachen, so muss man feststellen, dass seit der Einführung der Rente mit 67 im Jahre 2007 vier Jahre später immer noch nur 12,5 Prozent der 63-Jährigen und gerade mal 9,9 Prozent der 64-Jährigen (Männer und Frauen) Vollzeitbeschäftigt sind.

Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im rentennahen Alter 2000 - 2011

Quelle: Sozialpolitik aktuell [PDF - 115 KB]

Schon heute kann also nur jeder achte 63-Jährige und nur jeder zehnte 64-Jährige (Männer und Frauen) hoffen, abschlagfrei in Rente gehen zu können. (Die Zahlen dürften sich im Jahr 2013 leicht nach oben verbessert haben, aber sicher nicht wesentlich.)

Schaut man darüber hinaus die Rentenstatistik genauer an, so machten 2012 Altersrenten für „besonders langjährig Versicherte“ (also mit 45 Versicherungsjahren und darüber) gerade einmal 12.306 Personen (10.417 in den alten und 1.889 Menschen in den neuen Bundesländern; 10.555 Männer, 1.751 Frauen) aus. (Siehe Bd. 193 – Der Rentenzugang 2012, Seite 7, bei Eingabe des PDF Dokuments S. 31 von 380 [6 MB])

Natürlich sind dabei diejenigen, die 5 Jahre Arbeitslosengeld I bezogen haben noch nicht eingerechnet. Aber so dramatisch kann die Zahl derjenigen, die von dem neuen Gesetz der Rente mit 63 profitieren könnten, nicht steigen.

Zumindest wäre das, bevor man den ganzen politischen Aufwand betreibt, die abschlagsfreie Rente mit 63 auf den Weg zu bringen, die wichtigste Frage, die man beantworten müsste.
Ohne solche Fakten ist der politische Kampf dafür ein reiner Schau-Kampf.

Nachbemerkung: Hätte man das Chaos nicht ahnen müssen

Es stellt sich angesichts des jetzt entstandenen Chaos die Frage: War eigentlich der am Tisch der Koalitionsverhandlungen sitzenden damaligen Sozialministerin von der Leyen die angeblich jetzt erst festgestellte Datenlücke nicht bekannt?

Das ist für jeden, der auf Regierungsseite schon einmal an Koalitionsverhandlungen teilgenommen hat, eigentlich kaum vorstellbar. Schließlich war die Rente mit 63 nicht etwa ein Nebenthema der Koalitionsverhandlungen und es war von Anfang an klar, dass das für Schwarz und Rot ein zentrales Streitthema und wichtige Verhandlungsmasse war. Es wäre doch äußerst merkwürdig, wenn das Sozialministerium nicht bei der Deutschen Rentenversicherung nachgefragt hätte, ob und wie eine solche Regelung technisch umsetzbar ist.

Wenn von der Leyen nichts von dieser Datenlücke wusste, wäre das ein schweres Versagen ihres Hauses gewesen, dem die neue Sozialministerin Nahles eigentlich nachgehen müsste. Wenn von der Leyen aber davon wusste und dieses Problem nicht in die Gespräche eingebracht hat, dann muss man das als einen Versuch ansehen, die SPD als neuen Koalitionspartner ins offene Messer laufen zu lassen.

P.S.: Ich sehe gerade, dass sich auch das ZDF in der Sendung von Maybrit Illner dieser Thematik angenommen hat.

Der NachDenkSeiten-Freund J.K. schreibt dazu:

Gerade zeigt die aktuelle Sendung von Maybritt Illner, dass Lanz nur ein Teil der Problematik bzw. dessen aktuell einfach griffig personalisiert Form darstellt. Mit der Thematik “Milliarden für Senioren – wie gerecht ist die neue Rente?” zeigt das ZDF wieder, dass es der neoliberale Propagandasender in Deutschland ist.
Es ist zudem traurig zu sehen und zu hören, dass die junge Generation vertreten durch den Grünen Abgeordneten Sven-Christian Kindler offenbar auf die primitivste Form der neoliberalen Propaganda, das ausspielen von Bevölkerungsgruppen gegeneinander, hereinfällt. Andererseits passt diese Haltung natürlich wiederum zur inhaltlichen Neuausrichtung der Grünen als FDP mit Ökoanstrich.
Die reale gesellschaftliche Problematik kann man an einer Meldung dieser Woche erkennen. Nur 85 Personen verfügen über so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, so eine Studie der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam. Es ist natürlich keine Überraschung, dass diese Meldung sofort wieder aus den Schlagzeilen verschwand. Ganz davon zu schweigen, dass so etwas im Fernsehen einmal diskutiert wird.

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