Du kannst nicht tiefer fallen
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich will es wissen.
Also mach es ich es jetzt.
Schon haben sie mich vorbereitet
- Seil, Sicherungsleine, Schutzhelm,
Schutzhandschuhe, Knieschoner, Bergstiefel,
alles, was für meine Sicherheit
im Steilhang nötig ist.
Das erste Mal möchte ich mich abseilen.
Über den Abgrund blicke ich hinunter.
Absolut senkrecht geht es bergab.
Der verantwortliche Bergführer sagt mir,
was ich machen muss.
Sicherungsleine,
langsam das Seil kommen lassen,
mit dem Füßen am Fels abgestützt
einen Fuß nach dem anderen setzend
langsam nach unten gehen.
Ich muss mich sehr zusammen nehmen,
damit ich höre, was er mir sagt.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Will ich da wirklich runter?
Doch, ich habe mich angemeldet
und auch schon bezahlt.
Es gibt kein Weg zurück.
“Und Herr Pfarrer, Sie brauchen
wirklich keine Angst zu haben.”
Und ich denke mir:
“Du hast leicht reden, guter Mann.
Du musst da jetzt ja nicht runter.
Oh Mann, ist das tief.”
“Es kann wirklich nichts passieren.
Sie hängen ja zusätzlich
noch an Sicherungsleinen.
Wenn Sie beim Runtergehen ausrutschen,
Arme und Beine angewinkelt nach vorne
und den Sturz gegen den Felsen abfedern,
vor allem damit Sie nicht
mit dem Kopf an den Fels knallen,
denn das kann ins Auge gehen.
Also los geht´s!”
So seine letzten Worte und ich denke weiter:
“Mist, meine Knie zittern jetzt ganz schön,
doch mein Freund hat es auch schon geschafft.
Lieber Gott, es wird nichts passieren.”
Thorsten ruft von unten:
“Markus, Du schaffst es.”
Also gehe ich runter.
Es geht mindestens 100 Meter in die Tiefe.
Oder ist es noch mehr?
Zunächst geht alles glatt.
Dann beginnt auf einen Schlag
mein Herz zu rasen.
Schlagartig ist meine Ruhe und
meine Konzentration weg.
“Wie war das mit dem Seil?”
Nachgedacht, gezweifelt, gezögert
und schon falle ich.
Beim Sturz denke ich mir:
“Du kannst nie tiefer fallen
als nur in Gottes Hand.”
Kopfüber häng ich in der Wand,
pendle hin und her.
Im Fallen habe ich alles richtig gemacht.
Ein paar Schürfwunden habe ich,
mehr nicht.
Sonst ist alles heile.
"Nein. Wie geht es weiter?"
rufe ich hoch.
Zunächst wollen sie mich wieder hochziehen,
doch jetzt will ich es wissen.
Die Ruhe ist wieder da - eigenartig.
Ich folge den Ratschlägen des Bergführers
und kann mein Abstieg fortsetzen.
Am Ende bin ich froh,
endlich unten sicheren Boden unter
den Füssen zu haben,
und ich bin stolz,
meinen inneren Schweinehund
überwunden zu haben.
Mein Freund Thorsten sagt zu mir:
“Mensch, ich hab mich erschrocken,
aber cool, wie Du das gemeistert hast.
Ich nehme das Kompliment,
obwohl ich mir gar nicht so cool vorkam.
Ich denke mir nur:
“Was blieb mir anders übrig?”
Klar gibt es Erlebnisse,
da habe ich das Gefühl,
mein Herz bleibt stehen
und schon ist der Puls auf Hundertachtzig.
Es wäre ja auch schrecklich,
wenn mich nichts mehr schrecken würde.
Und diesem Augenblick lasse ich
mir von Jesus Christus gerne zurufen:
“Euer Herz erschrecke nicht!
Glaubt an Gott und glaubt an mich.”
(Johannesevangelium 14, 1)
Die Jahreslosung 2010.
Trotzdem versetzt mich
eine Katastrophe wie Haiti
in Angst und Schrecken,
doch ich will meine Hände
nicht den Schoß legen,
sondern Verantwortung übernehmen.
Mein Herz schlägt weiter für die Menschen,
für meine Mitmenschen in nah und fern,
für eine gerechtere und barmherzigere Welt
und für den Frieden auch im neuen Jahr.
Also, liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Freundin, lieber Freund,
Dein Herz erschrecke nicht.
Behalte Deinen Glauben an das Gute
und den gütigen Gott
auch im Angesicht dieser Welt.
Verzweifle nicht, auch wenn diese Welt
manchmal zum Verzweifeln ist.
Behalte ein weites Herz,
offene Augen und Ohren
und die Kraft, um zu helfen.
Nimm Dir ein Vorbild
an den vielen Helfern in Haiti!
Deinen Liebe und Dir
ein behütetes neues Jahr 2010:
Mach es gut!
Und denk daran,
Du kannst nicht tiefer
fallen als in Gottes Hand!
Ihr/ Dein Pfarrer Markus Maiwald
Lieber Markus, Dein Gottvertrauen und das vieler vieler Menschen ist bewundernwert. Doch was uns Kurt Keese hier schreibt, zeigt deutlich, dass wir auch in extreme Situationen kommen können, die uns die letzte Kraft für das (den) Glauben rauben. Und es braucht wahrlich unvorstellbar viel Kraft "aus tiefster Finsternis zu Dir zu rufen". Glücklich, wer dann einen starken Freund wie Dich hat.