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Corinna Luedtke: "Jetzt besteht die letzte Möglichkeit, Zeitzeugen zu befragen"

Corinna Luedtke leitet an Laatzens Albert-Einstein-Schule das Projekt „Schreiben gegen das Vergessen“. Im myheimat-Interview gewährt die Schriftstellerin vertiefte Einblicke in die Schreib-Arbeitsgemeinschaft (AG) und verrät, wie die Schülerinnen und Schüler auf Begegnungen mit KZ-Überlebenden reagieren.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen die Schreib-AG "Schreiben gegen das Vergessen" an der Albert-Einstein-Schule anzubieten?

Die didaktische Leiterin der Albert-Einstein-Schule in Laatzen, Friederike Otte (sie begleitet sämtliche Projekttreffen), bat mich gegen Ende des Jahres 2008, eine Schreib-AG an der Schule anzubieten. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich dem Schreiben meines neuen Romans zu widmen. Da ich meine Arbeit als Schriftstellerin aber auch als öffentlichen Auftrag sehe – und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als Bereicherung empfinde – habe ich letztlich zugesagt.
Allerdings wollte ich nicht „nur“ eine Schreib-AG anbieten. Da ich mich in meinen Texten auch mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetze, war es mir wichtig, eine themenbezogene Schreib-AG anzubieten und darüber hinaus nicht nur das Schreiben an sich zu fördern, sondern – gemeinsam mit den Jugendlichen – den gesamten Entwicklungsprozess des Schreibens, von der Idee, dem Entwurf über das Schreiben und die Textarbeit bis hin zur Buchveröffentlichung und anschließenden Lesungen inklusive Öffentlichkeitsarbeit zu durchlaufen.

Warum ist das Projekt gerade jetzt so wichtig?

Die persönlichen Begegnungen mit den Zeitzeugen lassen die Dramatik einzelner Schicksale und somit die Dimension des Holocaust in hohem Maß lebendig werden. Wir nähern uns einem Epochenende, die Überlebenden des Holocaust scheiden allmählich dahin. Es wird dann keine Zeitzeugen mehr geben, die erzählen können, was sie während des Nationalsozialismus erlitten haben.
Manche Menschen meinen, dass man das Thema Nationalsozialismus doch lieber ruhen lassen sollte - aber jetzt besteht vielleicht die letzte Möglichkeit, Zeitzeugen zu befragen. Man nimmt eine Art Glasglocke des Vergessens von den Schülerinnen und Schülern und ich erlebe es, wie sie eine Identität für die deutsche Geschichte entwickeln – auch wenn sie schrecklich ist. 
Während der Projektlaufzeit gab es eine Überraschung: Das Projekt wirkt auch in den privaten Bereich hinein. Einige Projektteilnehmende haben von Gesprächen mit ihren Großeltern berichtet. Manche Großeltern haben zum ersten Mal in ihrem Leben über die damaligen Ereignisse gesprochen, Erinnerungen sind aufgebrochen. Diese Gespräche und Erfahrungen werden sich in einigen Texten widerspiegeln. Das Projekt sensibilisiert auch über unseren Projektkreis hinaus die Wahrnehmung für Rassismus, Diskriminierung, Unterdrückung, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus – ein wichtiger Aspekt in einer Zeit, in der Rassismus Bestandteil des bundesdeutschen Alltags ist.

Wie nehmen die Schüler das Projekt an – immerhin ist es kein "leichtes" Thema und es ist mit einem enormen Zeitaufwand verbunden?

Die Schülerinnen und Schüler waren von Anfang an sehr interessiert und sind hoch motiviert. Ich denke, dass wir auf eine ganz besondere Art zusammengewachsen sind und uns über die Projektarbeit so etwas wie eine Identität geschaffen haben. Der Zeitaufwand ist tatsächlich enorm. Da ich den Teilnehmenden viele Informationen und ein breit gefächertes Spektrum an Wissen vermitteln möchte, reichen die wöchentlichen Projekttreffen mit je zwei Unterrichtsstunden nicht aus. So plane und organisiere ich Veranstaltungen und Wochenendworkshops, die außerhalb der regulären Projekttreffen liegen.
Am 9. und 10. Januar dieses Jahres fand zum Beispiel ein Wochenendworkshop statt, den uns die Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Niedersachsen, ermöglichte. Das Seminar zum Thema „Judentum in Hannover – eine lokale Spurensuche“ beinhaltete unter anderem die Besichtigung der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem. Der Historiker Thomas Lippert veranschaulichte uns mit seiner Führung die düstere Entwicklung der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule.
Wir waren zu Gast im Gemeindezentrum der Liberalen Jüdischen Gemeinde und hörten einen beeindruckenden Vortrag der Vorsitzenden Ingrid Wettberg über die historische Entwicklung des Liberalen Judentums und die gegenwärtige Entfaltung des jüdischen Lebens sowie über die Entstehung des seit Januar 2009 neu bezogenen Gemeindezentrums in Hannover-Leinhausen.
Ergänzend zum Workshop haben wir kurz darauf am 12. Januar das Jüdische Gemeindezentrum in der Haeckelstraße besichtigt, wo uns der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, zu einem Gespräch empfangen hat und einige Projektteilnehmende ihre ersten fertiggestellten Texte vorgetragen haben.
Ein weiterer Wochenendworkshop mit Outdoorprogramm wird im März in Berlin stattfinden.

Im ersten Schulhalbjahr hat es schon ein Zeitzeugengespräch mit Salomon Finkelstein und Henry Korman gegeben. Im Januar waren Sie dabei, als Finkelstein im Landtag von seinen Erfahrungen erzählte. Wie reagieren Ihre Schüler auf solche Begegnungen?

Die Erzählungen der beiden Holocaust-Überlebenden Salomon Finkelstein und Henry Korman erschüttern und berühren. Es hat sich mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Projektteilnehmenden und den beiden Herren ergeben. Zu manchen Sonderveranstaltungen des Projekts kommen sie hinzu oder wir treffen sie bei anderen Veranstaltungen, wie zum Beispiel bei der Gedenkveranstaltung im Landtag anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz, als Salomon Finkelstein seinen Vortrag „Erinnerungen eines Überlebenden“ hielt.
Besonders ergreifend war es, als er sagte: „Meine Mutter hat mich zum Zug gebracht. Als ich in den Waggon stieg, habe ich mich in dem Glauben von ihr verabschiedet, in 14 Tagen zurück zu sein. Aber es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.“ Nach der Rede entstanden bei einigen Schülerinnen spontan neue Texte.
Während des Zeitzeugengesprächs in der Albert-Einstein-Schule bedauerte Salomon Finkelstein, in schwierigen Lebenssituationen in seinem „Leben danach“ nicht am Grab seiner Mutter gestanden oder vielleicht auch mal geweint haben zu können. Er weiß nicht einmal, wo seine Eltern geblieben sind. Nicht mal ein Grab gibt es von ihnen.

Die Begegnungen mit den Zeitzeugen bewirken bei den Jugendlichen Empathie und verhelfen ihnen zu einem emotionalen Wissen, das sich auf kreative Weise auch in den Texten widerspiegelt.
Ich freue mich über die Qualität der bislang erstellten Texte und bin sicher, dass insbesondere die Gespräche mit den beiden Überlebenden dazu beigetragen haben. Die Jugendlichen richten den Blick auf die Schattenseiten menschlichen Daseins und tauchen ganz von selbst in die Abgründe unserer Geschichte ab – genauso arbeiten Schriftsteller.

Was steht im 2. Schulhalbjahr noch alles auf Ihrem Projektplan?

Im Februar erfolgt ein zweites Zeitzeugengespräch mit den Herren Finkelstein und Korman, in dem vornehmlich Henry Korman über das Leben im Ghetto sprechen wird.
Angedacht ist ein Vortrag von Bernhard Gelderblom, der sich um die Erforschung der Geschichte der Juden in und um Hameln verdient gemacht hat. Für seine Arbeit ist der Historiker und ehemalige Lehrer 2008 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande und 2009 mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet worden.
Zudem steht der Workshop in Berlin auf dem Plan und natürlich das Schreiben, die Veröffentlichung der Anthologie und die Lesungen.

Ist die Berlin-Reise im März der Höhepunkt?

Es fällt schwer, zu sagen, welcher Workshop oder welche Veranstaltung den Höhepunkt des Projekts ausmacht. Alle sind interessant und wirken nachhaltig. Auf Berlin freuen wir uns alle sehr.
Zu den besonderen Ereignissen zählen in erster Linie die Zeitzeugengespräche mit Herrn Finkelstein und Herrn Korman. Auch Helga Fredebold aus Rössing war als nichtjüdische Zeitzeugin bei uns zu Gast. Frau Fredebold sprach über ihre Kindheit während der Kriegsjahre in Hannover sowie über ihre Publikation "Geschichte und Geschichten aus Rössing", in der sie unter anderem den Spuren der Familie Blumenthal nachgegangen ist. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, dass im November 2009 in Rössing Stolpersteine zur Erinnerung an die Familie Blumenthal verlegt worden sind.
Zu uns sprechen Menschen mit enormer Ausstrahlung – Menschen, die an etwas glauben oder sich für etwas einsetzen. Das ist für uns alle sehr beeindruckend und sicherlich unvergesslich.

Sie werden in Berlin von Matthias Miersch im Bundestag empfangen. Was erwartet die Schüler dort?

Herr Dr. Miersch, der das Projekt von Beginn an unterstützt, ermöglicht den Jugendlichen den Besuch in Berlin. Die Projektteilnehmer werden eine Sitzung im Deutschen Bundestag miterleben. Anschließend wird Herr Dr. Miersch mit den Schülerinnen und Schülern über die damaligen Geschehnisse und auch über heutige Herausforderungen der Politik diskutieren. Da das Wochenendseminar unter dem Motto „Widerstand und Zivilcourage – gestern und heute“ stattfindet, werden wir auch über zivilen Ungehorsam und Mitläufermentalität sprechen. Auf dem Programm stehen außerdem die Besichtigung des Jüdischen Museums mit einer auf unser Projekt zugeschnittenen Führung, ebenso der Besuch der Gedenkstätte „Deutscher Widerstand“ (Bendlerblock) inklusive Führung mit Film, das Holocaust-Mahnmal und ein Arbeitsabend in der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin.

Wie viel Platz nimmt eigentlich das Schreiben in Anspruch? Immerhin soll am Ende des Schuljahrs eine Anthologie veröffentlicht werden.

Das Projekt mit seinem breiten Spektrum ist eine anspruchsvolle Herausforderung für die Teilnehmenden. Das vermittelte Wissen in eine ansprechende, verständliche Form zu bringen, bedarf viel Raum. Die Jugendlichen verinnerlichen das Erfahrene und Erlebte, „es“ arbeitet über die Projektstunden hinaus. Die Umsetzung des Erfahrenen verläuft unterschiedlich. Bei den meisten Teilnehmern ist der Text urplötzlich da und muss „nur“ noch niedergeschrieben werden. Die bislang entstandenen Texte wurden außerhalb der Projekttreffen geschrieben. Aber: Ab dem nächsten Projekttreffen wird nach der intensiven Sammel- und Recherchephase vornehmlich geschrieben. Die Anthologie soll voraussichtlich im August erscheinen.

Mal abgesehen von Ihrem Projekt: Was macht Laatzen lebenswert?

Ich mag besonders die Ortsteile. Von dort gelangt man schnell in die Natur, die es sich zu Fuß und mit Rad zu erkunden lohnt. Dafür wünschte ich mir mehr Zeit. Gute Restaurants und Geschäfte gibt es auch – da muss man nicht unbedingt nach Hannover fahren. Laatzen hat einen dörflichen Charakter, aber durch die Messe und die Anbindung an Hannover ist es nicht isoliert.

Und was sollte in Laatzen besser werden?

Für mich steht die Förderung von Kunst und Kultur an erster Stelle. Es ist ein Bildungsauftrag, der auch direkt wirtschaftliche Auswirkungen hat. Nur mit Kunst und Kultur ist es möglich, für die Zukunft zu motivieren – ich erlebe das auch im Projekt, wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, aber daraus entsteht Neues. Viele Politiker verstehen diesen Zusammenhang noch nicht, hier spreche ich aber nicht (nur) für Laatzen. Das Projekt setzt bei den Schülern ungeheure Energien frei, etwas zu schaffen – also konstruktiv zu sein und sich in der Gesellschaft einzubringen.

Sie sind als Bürgerreporterin bei myheimat, dem Mitmachportal der Leine-Nachrichten, aktiv. Warum?

Zum einen bietet das Portal die Möglichkeit, Veranstaltungstermine bekanntzugeben und Projekte vorzustellen – es ist auch interessant, über etwaige Kommentare ein Feedback von Menschen zu erhalten, die man nicht kennt – das erweitert den Horizont.
Zum anderen erreicht man mit myheimat Zielgruppen, die sonst vermutlich nicht angesprochen werden. Da die Postings auch überregional wahrgenommen werden, verschafft der Austausch unter Umständen neue Kontakte – eigene Netzwerke können sich auf diese Weise erweitern.

Warum sich die Schülerinnen und Schüler für das Projekt "Schreiben gegen das Vergessen" engagieren – und warum es so wichtig ist, verraten sie in der myheimat-Gruppe.

  • Corinna Luedtke
  • Foto: Corinna Luedtke
  • hochgeladen von Annika Kamissek
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