Die Allgäuer „Klausen“ (zum Kulturförderprojekt „Intelligente Landschaften“)
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Nomen est Omen (?):
Im Herbst, wenn die Nächte länger und kühler werden, wenn Nebel am Abend sich in die Ortschaften im Allgäu rund um Sonthofen und Immenstadt senkt, wenn es also so gut wie keinen rechten Grund mehr gibt sich nochmals auf die Straße zu wagen, dann sind sie plötzlich da: In Fell gehüllte Gestalten, um den Bauch geschnallt große Kuhglocken, mit denen sie in wogender Masse Körper an Körper miteinander wüsten Lärm machen, dampfender keuchender Atem, urige Schreie und wüst grollendes Brummen verscheuchen auch den letzten noch säumigen Spaziergänger aus nächtlicher Flur. Stop! Aber nein, so mag es mal vor langer Zeit gewesen sein!
Heute tragen die dunklen Gestalten zusätzlich zum durch Latexformen aufgepeppten Fellkostüm meist schon gruselige Teufelsmasken mit in Holz geschnitzten schwärenden Wunden und Piercing mit schweren Ketten fast ebenso wie die Krampusse und Österreicher Tuifl, die sich Ihres begleitenden Niklas längst schon entledigt haben. Mit all den Pyroshows und meterlangen Plastikhörner wäre der schöne weisse Bart des heiligen Mannes längst schon in Flammen aufgegangen und der purpurbesetzte Mantel hinge in Streifen zerfetzt von den Hörnerzinken herunter. Haben die Klausen immer schon Hörner getragen oder waren sie weit früher nur auf das unheimlich Wilde des gefährlich knurrenden Tierkostüms beschränkt, ich weiß es nicht. Aber auch hier im Allgäu sind diese wilden Gestalten nichtsdestoweniger trotzdem schon Ziel eines geplant geordneten Tourismusmanagements mit zahlreich angereisten Schaulustigen, die dichtgedrängt in Haufen hinter Absperrband entlang der Hauptader dieses „Umzuges“ stehen. Hinter dem Absperrband ist es für die wüschten Gesellen tabu.
Wer seinen Mut zeigen möchte und das sind vor allem junge Burschen, springt hinter dem sichernden Band hervor , neckt die Pelzgewandeten, zieht an den Fellen und bekommt dann, weil so wohl gewünscht, mit dem Pferdeschweif sanft eine verpasst. Das soll, wenn es die jungen weiblichen Zuschauer trifft, ja auch Glück und manchmal zu frühe Mutterschaft bringen. Haben die Frauen halt wieder nicht aufgepasst, spricht das patriarchale Schiedsgericht. Aber ja nicht zu derb: Längst haben wilde Szenen in jüngst zurück liegender Vergangenheit für eine Durchnummerierung der Bepelzten gesorgt, die einen echten Übeltäter an Hand des Nummernschildes schnell ermitteln und für das nächste Jahr sperren lassen. Es muss ja Alles seine Ordnung haben und die tierischen Dämonen bleiben gezähmt…. das bringt Geld in die Kassen der Gemeinden und wird entgegen tief verwurzelter christlicher Abneigung und strengen behördlichen Gesetzen gegen alles heidnische Kultwesen heute natürlich längst nicht mehr verboten.
Eigentlich sollten diese schwergewichtigen Bösewichte ja ordentlich gezähmt, wie der Name sagt, unter der Obhut des Heiligen Nikolaus, brav von Haus zu Haus gehen. Während der für seine Wohltaten an Kindern bekannte fromme Mann bei diesem an die Türe Klopfen, dem Klöpfeln, Glöckeln oder ähnlich, ja vor allem den gottesfürchtigen Armen Geschenke hinterlassen soll, die er an Hand seines gelehrigen Buches und Examinationen über die Bibelfestigkeit in Erfahrung bringt, sollen die tierischen Unholde den Ungehorsamen und damit „Bösen“ zur belehrenden Drohung gereichen. Der Nikolaus macht sich bei all dem Schabernack aber heutzutage rar, würde er bei all dem desillusionierten, internetorientierten Wahrnehmungsumfeld der Jugendlichen sowieso als unwissender Hinterwäldler nur Spott als Dank für seine unzeitgemäßen Geschenke Äpfel, Nüsse, Firlefanz ernten.
Früher, ja früher hatte das Sinn gemacht , bei all den vielen winterlichen Bettelgängen von Tagelöhnern und Hausbesuchen bei noblen Spendern, die mit vitamin- und eiweißreichen Geschenken die kärgliche Winterkost aus Gerstenschleim und Haferbrei bei den armen Familien aufwerteten. Da kommen die wilden Gesellen, die keinen Respekt vor irgend etwas zeigen, schon viel besser bei der Jugend an, obwohl ja wirklich niemand mehr so recht weiß, wozu das Ganze denn überhaupt eigentlich mal gut gewesen ist. Denn tatsächlich haben die führenden Köpfe in der Geschichte des Christentums und der aus Volksdummheit profitierende Adel alles daran gesetzt, das Wissen über diese tierischen Geisterwesen zu verschleiern, alte Kulte am Besten aus zu rotten oder wenn wie hier geschehen nicht möglich, in christliches Brauchtum zu integrieren.
Die vorchristlichen Kulte
Das Tier als Bruder
Im Hohlestein bei Stadel, einer Höhle in der Nähe von Ulm ist eine geschnitzte Figur aus Mammutzahn gefunden worden, die mit einigen anderen Elfenbeinplastiken gleich daneben aus anderen Höhlen an der Blau und der Lone, das mit einem Alter von 40.000 Jahren das bisher älteste bildhafte Dokument der Menschheitsgeschichte darstellt. Dargestellt ist ein Mensch mit dem abgezogenen Fell und der Kopfmaske einer Höhlenlöwin… wenn man so will, eben wie die Klausen, ein Mensch im Fellgewand. Natürlich gibt uns aus dieser Zeit niemand schriftlichen Bericht, was diese Figur bedeuten soll. So ist die Wissenschaft da auf Rückschlüsse angewiesen, die sie aus dem Leben heute noch existierender anderer, ebenso eher naturverbundener Jäger- und Sammlervölker gewinnen kann.
Man deutet die Figur in Anlehnung an nordamerikanische und sibirische Völker als Schamanen. Da die gesamte Natur dort, ebenso wie für die Steinzeit auch vermutet, als beseelt angesehen wird, wäre die Jagd auf ein Tier quasi Mord an Brüdern und Schwestern. Deren Seele wird durch Abbitte auf die Jagd und Tötung eingestimmt und der erlegte Körper wird als nur geliehene Energiequelle an den hungrigen Stamm aufgefasst. Möglichst viel soll von der Beute Verwendung finden, nicht Verwendbares wird Mutter Natur zurück gegeben, damit daraus ein neues junges Tier entstehen kann. Bei vielen sibirischen Stämmen wird Bruder Bär als junges Tier im Frühjahr gefangen, liebevoll aufgezogen und am Ende des Jahres rituell getötet und verspeist, um den verstorbenen Ahnen als Überbringer von Nachrichten zu dienen. Die Knochen und das heißt wirklich jedes noch so kleine Knöchelchen wird im Bündel fein säuberlich für eine spätere Wiederweckung in der Natur deponiert.
An mehreren Fundorten der Lausitz und aus Mitteldeutschland, ja auch aus England (Star Carr) sind in der mittleren Steinzeit (Mesolithikum) Hirschgeweihschädel gefunden worden, deren Schädelkalotte mit Löchern versehen wohl mit Fellstreifen am Kopf befestigt werden sollte. Damit war es neben der Darstellung von Tiergeistern wohl auch möglich, sich leichter unerkannt an Hirschrudel heran zu schleichen, wie dies durch ein Gemälde des „Indianermalers“ Catlin auch für die Mandan-indianer auf Büffelherden bezeugt ist.
Die wilden Tiermänner
Die große Matriarchatsforscher Marija Giambutas vermutet ebenso wie andere Autoren, dass im fruchtbaren Halbmond der Levante (ebenso wie später im Donauraum) eine weitgehend geschlechtsspezifische Trennung zu unterschiedlichen Lebensräumen für die Mehrzahl der Männer und Frauen stattgefunden hat. Nur zu bestimmten Feierlichkeiten (und um hierbei für Nachwuchs zu sorgen) durften die Männer Ihre fernen Jagdlager und die nomadisierende Hüteplätze von Auerwild verlassen. Bei kleinen Idolfiguren aus Ton der Vinca-kultur mit Zentrum in Serbien lässt sich am Rande des dreieckigen Gesichtes oft eine feine Einkerbung erkennen, die auf Verwendung von Tierfell- oder Ledermasken evtl. bei den heimkehrenden Männern schließen lässt. Kam da in die ruhigen von Frauen geleiteten Ackerbau-Siedlungen der Jungsteinzeit im Balkan gar ein wilder ,wüster Haufen mit Tierfell verkleideter Männer zurück?
Im Neolithikum, in den Siedlungen des Matriarchats verehrte man eine Göttin der Fruchtbarkeit des Bodens und der Natur, mit den vielen Namen der „Großen Mutter“. Spätestens seit der indogermanischen Wanderung patriarchal organisierter Nomadenvölker wird ein Götterhimmel aufgebaut, dessen oberste männliche Gottheit, die Sonne (wie Aton oder Mitras) und/oder ein Regen-Sturm-Donnergott (wie Baal und der israelitische Jahwe) waren. Göttinnen erscheinen als Gattinnen oder werden wie Persephone oder Isis zusammen mit Ihren Gatten als Herrscherinnen unter-irdischen im Totenreich eher wie bei den allerfrühesten Jägervölkern zur Übernahme der für eine Neuproduktion von Mensch, Tier und Pflanze notwendigen Restrückstände vergangenen Lebens auserkoren. Dem männlich schönen Sonnenheroen (wie Apoll) tritt seine Schwester Diana (als Göttin des wilden Waldes und seiner Tiere) zur Seite. Auch männliche Götter und Naturgeister können als chaotische Gegenspieler der edel leuchtenden Götteraristokratie auftreten.
Der Kult um Dionysos, ursprünglich einem Vegetationsgott, der der Magna mater Ihre führende Rolle in der Natur streitig macht, sieht den Gott und all seine Kreaturen und Fabelwesen als polaren Gegensatz zum hehren sonnengleichen Apoll. Während man sich letzteren durch klare Verstandeskraft und Gesetzesbefolgung zum Unterstützer macht, nähert man sich Dionysos durch Exstase. Diese wird durch Rausch oder wilden Tanz (Sauerstoffarmut im Blut) herbei geführt, wodurch der Gott der Vegetation gerade in seiner römischen Form Bacchus vor Allem zum Gott des Weines herab stilisiert wird. Seine Begleiter, die Satyrn, Mischwesen aus Ziegenbock und Mensch mit Hörnern , Ziegenbeinen und durch riesigen Phallos symbolisierten Trieben sind bekannt aus wiederaufgefundener Vasenmalerei im 6. Jhdt nach Christus erste bildhafte Vorlagen für die mittelalterlichen Darstellungen des Teufels oder des Krampus. Sind sie, die dicht behaarten Tierwesen, auch Vorläufer für die Klausen im Allgäu oder fehlt hier wie bei der Entwicklung von Affe zum Menschen noch das passende missing link?
Wie sollte der Kult aus Griechenland ohne erkennbare Zwischenformen bis über die Berge des Balkan und die Alpen bis ins Allgäu gekommen sein? Verläuft die Entwicklungslinie von den tiergestaltigen Schamanen und den jungsteinzeitlichen Stierspringern und Tiermaskenträgern wirklich über die Satyrn bis zu den Klausen? Haben diese Ziegenbockmenschen nicht auch Ihren großen Auftritt bei einem Lauf durch die Natur (Komos-odos = Gesang/Geschrei beim Laufen = Komödie). Ist das Gemecker im Chor der Ziegenböcke beim dionysischen Theater (tragos-Ziegenbock, odos-Gesang) nicht Vorform der klassischen Tragödie mit Ihren Heroen- und Göttergeschichten?
Die Verbindung in den Norden ließe sich vielleicht über Silvanus, einen Gott der Wälder und der Vegetation bei den Illyrern herstellen. Ebenso wie Pan, der dionysische Gefolgsmann, trägt er Hörner, Ziegenbeine und Fell und sein Kult wurde durch die Römer im gesamten Reich von Pannonien, später Groß-Ungarn-Österreich bis hinter die Alpen verbreitet. Natürlich darf er im Mittelalter nur als Sankt Silvan überleben und reiht sich hier unter die zurück gezogen in der Natur und mit der Natur lebenden christlichen Heiligen wie den Sankt Onondarius, einen völlig mit wildem ungepflegten Haarwuchs bedeckten Eremiten ein. Auch Johannes der Täufer und Maria Magdalena, gesellschaftlich ausgesondert in die verbotenen Evangelien, gaben den süddeutschen Barock-malern übrigens ja umfangreichen Spielplatz für die herrlichsten Locken.
In der Molise, mitten im Apennin wird in der Unterkirche Sankt Onondarius verehrt, während man darüber im Rathaus, das Fellkostüm eines Bären aufbewahrt, das auf der großen Volksbühne vor dem Rathaus nach wildem Kampf durch den Jäger zu Tode bringe lässt. Die umgrenzenden Dörfer der Molise lassen beim Winterbrauch um den Jahreswechsel, beim „Wintervertreiben“, die ungestüm im Frühjahr aufbegehrende Natur in Form eines Uomo Cervo (Hirschmenschen) oder einer wild tierischen Teufelsgestalt gegen den griesgrämigen alten Jäger antreten. Gerade auch schon fast im Allgäu, nämlich in Tirol treten als Symbolfiguren für den alten Winter und das kräftige Frühjahr, die Figuren des verhärmten bösen Bärentreibers und seines Gegenparts des in neuer Frische aus dem Winterschlaf erwachten Bären auf. In verschiedensten Bergregionen in Frankreich und Portugal wird dieser Kampf zwischen Bärenmensch und Jäger/Bärentreiber fast noch in jedem Dorf zum Jahreszeitenwechsel Winter/Frühling aufgeführt.
Sind unsere Klausen vielleicht hier ebenso die tierischen Künder des Frühjahrs und nur durch ihre Christianisierung und Zähmung dem Nikolaus zur falschen Zeit im Herbst beigesellt? Geht es hier bei diesem Brauch vielleicht nicht nur darum, die Wintergeister und wilden Tiere zu verjagen? Heißt es, Mutter Natur beim Jahreswechsel den ideal geordneten Verlauf vorzuspielen und geht es vielleicht auf metaphysischer Ebene vielleicht sogar auch darum, dass dann genau zur vorbestimmten Zeit die Entbehrungen des Winters von Mutter Natur in geregelter Form verdrängt und die frischen Kräfte des Keimens angeregt werden können? Sind die Klausen vielleicht damit hier eher den Wüascht- und Schönperchten verwandt, die am Ende der Rauhnächte den Jahreswechsel ankurbeln? Wenngleich durch Ihr pelziges Äusseres eher den Wüaschten nahestehend, sind ja sowohl Bär wie die blumengeschmückten schönen Blumari aus Südtirol und Slowenien deutliche Frühlingsmetaphern.
Oder handelt es sich hier gar um archetypische Erfahrungen, nämlich den inneren Kampf , den jeder Mensch zwischen Ich (den eigenen ungestümen Wünschen) und Selbst (den verinnerlichten gesellschaftlichen Verpflichtungen) ausführen muss, um akzeptables Mitglied der Gesellschaft zu werde? Ist der Klausenlauf vielleicht so etwas wie eine Initiationsfeier der jungen Männer gewesen und die „Bärbele“, die moosgesichtigen weiblichen Geister der erwachenden Natur nicht nur „weibische“ Adaption, sondern gleichwertiges Ritual einer sich etwas moderner entwickelnden Zeit der Gleichberechtigung?
Dann sollte man im Klausen- und Bärbelelauf vielleicht so etwas sehen wie "rites de passage", Zeremonien, die den Menschen an verschiedenen Stellen seines Lebens (Geburt,Jugendreife, Pensionierung,Tod) mit dem nötigen Wissen versehen, für das nächste Level gerüstet zu sein. Solche Initiationsriten früherer Völker mögen heutzutage natürlich überholt erscheinen, schon das Abitur (Reifeprüfung, Schulabschluss) im Übergang von Ausbildung zu Berufsleben hat wegen der ganz unterschiedlichen zweiten , dritten usw. Bildungswege (Man lernt ja nie aus) seinen Stellenwert längst verloren.
Wie immer wir das Klausentreiben einordnen, es ist neben seiner Funktion als immaterielles Kulturerbe letztlich für alle Beteiligten vor Allem eines, ein riesengroßer Spass!