Musik als Schlüssel zur Erinnerung - Gefühle werden niemals alt!
Was gibt mir die Musik?
"Sie stellt mir eine Sprache zur Verfügung, die in mancher Hinsicht genauer, im Gefühlsbereich eindeutiger und offenbarer ist, als Worte es je sein können [...].“ So beschreibt Yehudi Menuhin die wesentliche Bedeutung der Musik.
Wie kaum etwas anderes spricht Musik die Emotionen des Menschen unmittelbar an. Die des gesunden wie die des kranken Menschen. Musik kann nicht nur Erinnerungen hervorrufen, bei Menschen mit dementiellen Veränderungen, deren verbale Kommunikationsfähigkeiten sich im Verlauf der Erkrankung immer mehr verlieren, vermag sie fast noch mehr: Musik findet dort einen Zugang, wo die Sprache ihn nicht mehr findet. Singen und Musizieren verhelfen dem Erkrankten zu ungeahnten Ausdrucksmöglichkeiten. Musik als multisensorische Erfahrung ermöglicht einen Kontakt- und Dialogaufbau ohne Sprache und erreicht ohne den Umweg über kognitives Denkvermögen die Gefühle, die unabhängig von der körperlichen und geistigen Verfassung des Dementen bis zuletzt erhalten bleiben und als seine große Kompetenz angesehen werden.
Musik ist der Königsweg für eine würdigende Begleitung von Menschen mit kognitiven Einschränkungen, insbesondere für Menschen mit Demenz. Dieser Bedeutung, gerade in der Betreuung dementiell veränderter Menschen, wird im AWO - Seniorenheim schon seit langer Zeit Rechnung getragen.
Neben den bereits bestehenden musikalischen Angeboten der Beschäftigungstherapeuten im Rahmen der Tagesgruppen, hat die von Ehrenamtlichen regelmäßig zum Wochenausklang durchgeführte Volksliedergruppe eine jahrelange Tradition.
Deswegen waren wir sofort begeistert, als uns Frau Carolin Martin, Enkelin einer Bewohnerin und Studentin der Musiktherapie an der SRH-Hochschule in Heidelberg, ihre Idee vorstellte, im Rahmen ihres Studiums ein zeitlich begrenztes musikalisches Projekt für die Bewohner und Bewohnerinnen unseres Hauses anzubieten.
In einem Vorgespräch verschaffte sie sich einen Eindruck von den musikalisch relevanten Lebensgeschichten der Menschen. Danach sollte sich die Auswahl der Musikstücke, die während der Stunde gespielt und gesungen werden, richten.
Die prägenden musikalischen Erfahrungen werden in Kindheit und Jugend gemacht und erweisen sich daher als sehr resistent gegen das Vergessen, unabhängig vom Grad der Demenz.
Der Einsatz von Volksliedern schien deshalb besonders gut geignet, denn sie sind allgemein bekannt, weitverbreitet, in ihrer Melodie sehr einfach gehalten und deswegen auch gut zum Mitsingen und Mitmachen geeignet und dem Kreis der heute 60 – 100-Jährigen bestens vertraut.
Volksliedtexte sprechen aber auch Themen wie Altwerden, Abschied nehmen, Verlust, Alleinsein, Sterben und Tod an und berühren existenzielle Fragen der alten Menschen. Gefühle innerer Bewegtheit, die sich in Schweigen, leisen Tönen, tiefen Seufzern, vielleicht auch Tränen in den Augen ausdrücken, müssen mitgetragen werden.
Gut vorbereitet betrat Frau Martin das Haus mit zwei großen Instrumententaschen, die allein schon für großes Interesse bei den 12 Bewohnerinnen und Bewohnern des Singkreises sorgten. Mit der Gitarre begleitete sie nach der Vorstellungsrunde und einem Begrüßungslied die Seniorinnen und Senioren. Beim gemeinsamen Musizieren und Liedersingen verband das Finden eines gemeinsamen Rhythmus und derselben Tonhöhe die Musizierenden. Es entstand für eine bestimmte Zeit eine intensive Verbindung mit anderen. Gleichsam auf wunderliche Weise erhellten sich nach den ersten Tönen die Gesichter der Seniorinnen und Senioren. Man hörte Mit-summen, einige Anwesende, selbst sonst völlig in sich Gekehrte, stimmten spontan mit ein und sangen mit. Die Stimmung schien von einem Moment auf den anderen wie verzaubert. Texte wurden wie selbstverständlich erinnert.
Zum Abschluss packte die Studentin ihr zweites Instrument aus und löste dabei großes Erstaunen bei allen Anwesenden aus. Eine selbstgebaute keltische Tischharfe kam zum Vorschein, auf der Frau Martin mit einem irischen Lied eine Kostprobe ihres Könnens gab, bevor sie die Anwesenden darauf beim Schlusslied begleitete. Recht lebhaft ging es im Anschluss daran zu und alle Beteiligten versicherten, dass sie auch beim nächsten Mal wieder dabei sein wollen. Der Singkreis von Frau Martin findet immer donnerstags von 10.00 Uhr – 11.00 Uhr voraussichtlich bis Ende Juni statt!
(Text: AWO-Eva Hanft Oellrich)