Erste Erziehungsinstanz bleibt die Familie
myheimat: Herr Schneider, sieht man sich die Ergebnisse des 2. Ländervergleiches PISA-E-2003 genauer an, dann muss man nüchtern feststellen, dass „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ in den untersuchten Bereichen Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften und Problemlösen deutlich schlechter abschneiden als „Jugendliche ohne Migrationshintergrund“. Wo lässt sich hier ansetzen?
Siegfried Schneider: Der Schlüssel ist die Sprachkompetenz. Wir haben die Aktion „Deutsch lernen lohnt sich“ ins Leben gerufen, um die „Familien mit Migrationshintergund“ einzubeziehen. Ohne die Unterstützung der Familien ist ein derartiges Projekt nicht umzusetzen. Die Sprachförderung beginnt bereits im Kindergarten. Wir haben Vorkurse eingeführt - mit 160 Stunden Förderung. Unser Ziel: Jedes Kind muss über ausreichend Deutschkenntnisse verfügen, wenn es in die Schule kommt. In der Schule muss die Förderung dann weiter gehen. Auch der Ausbau der Ganztagesangebote trägt dazu bei, dass die Kinder länger die deutsche Sprache üben. Sprache ist der Schlüssel zu schulischem und beruflichem Erfolg.
myheimat: Ein weiteres Problem ist die Tatsache, dass in Deutschland die soziale Herkunft häufig über die Bildungschancen der Jugendlichen entscheidet. Wie lässt sich hier eine größere Chancengleichheit herstellen?
Siegfried Schneider: Man muss bei diesen Statistiken immer aufpassen. Es wird meistens über den Zusammenhang soziale Herkunft und Gymnasialbesuch gesprochen. Das wird aber der Vielfalt des bayerischen Schulwesens nicht gerecht. So legten wir in Bayern stets ein großes Augenmerk auf die „Durchlässigkeit des Bildungssystems“. Das heißt: Ich kann zunächst die Hauptschule besuchen oder eine berufliche Ausbildung absolvieren und anschließend genauso mein Abitur machen und studieren. Auch die Fachoberschule und die Berufsoberschule sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Ich weigere mich, „Bildungserfolg“ mit dem Übertritt ans Gymnasium nach der 4. Klasse gleichzusetzen. Es gibt viele Möglichkeiten und am Ende wird abgerechnet. Erhöhte „Durchlässigkeit“ bedeutet: kein Abschluss ohne weitere Anschlussmöglichkeiten. Betrachtet man Ihre Frage unter den genannten Gesichtspunkten, dann sieht das soziale Gefälle nicht mehr so drastisch aus.
myheimat: Kann die Schule überhaupt als Reparaturbetrieb der Gesellschaft fungieren?
Siegfried Schneider: Das ist eine heikle Frage. Die erste Erziehungsinstanz ist und bleibt die Familie. Sie hat sozusagen den Auftrag, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Die Schule unterstützt die Familie. Die Bayerische Verfassung weist den Schulen im Artikel 131 einen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu. Dort heißt es in Absatz 1: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“
myheimat: Die Hauptschule hat seit mehreren Jahren ein Imageproblem. Sie wird von ehrgeizigen Eltern, die für ihre Kinder die bestmögliche Schulbildung wollen, zunehmend als ein „Auffangbecken“ für „Asoziale, Ausländer und Gescheiterte“ gesehen. Wie kann man diesem Trend entgegenwirken?
Siegfried Schneider: Zunächst einmal Folgendes: In Bayern besuchen rund 36 Prozent eines Schülerjahrganges die Hauptschule. Von einer „Rest- oder Randgruppe“ kann also nicht die Rede sein. Es sind Schüler, die einen eigenen Förderansatz brauchen. Angebote mit hohem Praxisbezug sind hier gefragt. Grundkompetenzen wie Lesen, Rechnen und Schreiben sind besonders wichtig. Dazu kommt der Bereich „Sozial- und Arbeitsverhalten“. Ein weiterer Ansatzpunkt ist der Ausbau von Ganztagesangeboten mit einem starken berufsvorbereitenden Bezug. Schülerfirmen sollen an allen Hauptschulen eingerichtet werden, die Zusammenarbeit mit den Berufsschulen muss intensiviert werden. Mit Praktika sollen die Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, erhöht werden.
myheimat: Welchen Beitrag kann ein Kultusminister leisten, um den Jugendlichen eine Perspektive aufzuzeigen?
Siegfried Schneider: Es ist wichtig, dass wir in besonderem Maße auf die individuellen Stärken der Schüler eingehen, diese erkennen und dann entsprechend fördern. Folgende Fragen sind interessant: Wie sieht das Begabungsprofil des einzelnen Schülers aus? Wo steht der Schüler gerade? Wie kann ich ihn in seinen Stärken so unterstützen, dass er die Motivation findet, an seinen Schwächen zu arbeiten? Ein Beispiel für die gelungene Umsetzung dieses Ansatzes sind die Praxisklassen an den Hauptschulen. Dort sind Schüler, die bereits einmal oder zweimal wiederholen mussten. Das Konzept der Praxisklassen geht weg vom klassischen Lehrplan und setzt mehr auf die individuellen Stärken der Schüler. Es zeigt sich, dass die Schüler, die diesen Weg gehen, enorm an Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zulegen. Von jenen Schülern, die die Praxisklassen absolvieren, bekommen immerhin 34 Prozent einen Ausbildungs- beziehungsweise Arbeitsplatz, obwohl sie keinen Hauptschulabschluss haben.
myheimat: Herr Schneider, vielen Dank für dieses Gespräch.