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25 Jahre Anschluss: Grund zur Verteidigung und Würdigung der DDR

Ein Grund zum Feiern war der 25. Jahrestag des Anschlusses der DDR für uns als einst engagierte DDR-Bürger nicht. Sehr wohl ist dieser Jahrestag aber ein Grund unter mindestens vier Gesichtspunkten eine Bilanz der politischen Entwicklung seit 1989/1990 zu ziehen. In Erinnerung zu rufen, ist zum einen das Unrecht an der DDR-Bevölkerung, das mit diesem Anschluss verbunden war. Wir müssen zum anderen genauer hinsehen, wie die Herrschenden die Geschichte der DDR verfälschen. Wir haben weiterhin die heute verleugneten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leistungen der DDR in gebührender Weise zu würdigen, die Erinnerung daran wach zu halten. Schließlich geht es um Erfahrungen und Lehren der DDR-Geschichte für neue Sozialismusanläufe im 21. Jahrhundert. Erstens zum Unrecht des Anschlusses: Wie man auch immer die Ereignisse im Oktober/November 1989 hinsichtlich ihrer Ursachen einschätzt: Es war im Verlaufe des Jahres 1989 in der DDR eine gesamtgesellschaftliche politische Krise entstanden, eine Vertrauenskrise zwischen politischer Führung und Bevölkerung, aus der zunächst ein kurzer gesellschaftlicher Aufbruch, eine politische Wende für eine lebendigere Demokratie, für eine bessere sozialistische DDR hervorging. Diesem Aufbruch folgte sehr schnell eine handfeste Konterrevolution. Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung (nach damaligen Meinungsumfragen zwischen 83 und 55 Prozent) wollte mindestens bis Februar 1990 die DDR als souveränen Staat behalten; 70 bis 80 Prozent sprachen sich für einen „reformierten Sozialismus“ aus.1 Doch, wie es der DDR-Dichter Volker Braun in dem Gedicht „Eigentum“ sagte: „Da bin ich noch. Mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN, FRIEDE DEN PALÄSTEN. … Dem Winter folgt der Sommer der Begierde … Die Hoffung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle“. An die Stelle der von der Bevölkerung gewollten Selbstbestimmung trat die Fremdbestimmung durch in der Alt-BRD Herrschenden. Bereits im Vorfeld der Wahlen zur letzten Volkskammer am 18. März 1990 nahmen die westdeutschen Parteien und Massenmedien in der DDR politisch das Heft in die Hand. In ihrem Gefolge kamen die westdeutschen Konzerne und Banken. Die begriffliche Bewertung dieser Entwicklung ist nicht einfach. Walter Markov, bis 1974 Direktor des Instituts für Universal- und Kulturgeschichte an der Karl Marx Universität Leipzig, meinte Anfang 1990, der Begriff Wende erinnere ihn immer wieder an das Wort Vendee.2 Sein Schüler, der Leipziger Historiker Manfred Kossok, sah in einem Interview mit Volker Külow im Neuen Deutschland vom 6. August 1992 eine historische Parallele zur 1 Vgl. D. Eckert, J. Hoffmann, H. Meier, Zwischen Anschluss und Ankunft, Potsdam Juni 1992, S. 8. 2 In der Vendee und den benachbarten Departements gab es in den Jahren 1793 bis 1796 einen bewaffneten Aufstand gegen die französische Revolution. 1 Situation Ende 1848, als Karl Marx von einer „halben Revolution“ sprach, die „mit einer ganzen Kontrerevolution“ beantwortet wurde.3 Im Jahre 1848 gab es allerdings durchaus die reale Möglichkeit, die damalige bürgerliche Revolution in Deutschland gegen das Königtum und die feudalen Mächte zu vollenden. 1989/1990 war eine „Revolution“ hin zu einer verbesserten DDR real nicht möglich. Die regionalen politischen Kräfteverhältnisse standen dem entgegen. Die DDR konnte weder auf reformistischem Wege von oben noch auf revolutionärem Wege von unten verteidigt und gerettet werden. Die Herrschenden der BRD waren gewillt, unverzüglich ihr gesamtes politisches und ideologisches Machtpotential einzusetzen. Die Arbeiter der DDR waren nicht bereit, für ihre Betriebe zu kämpfen. Die Bevölkerung orientierte sich in ihrer Mehrheit sehr schnell auf eine alsbaldige Einführung der Deutschen Mark der Bundesrepublik. Die Sowjetunion unter Gorbatschow zog ihre Unterstützung für die DDR zurück. In den Ministerien der DDR gaben bereits nach den Märzwahlen Westbeamte den Ton an. Sie sorgten dafür, dass die Regelungen zum Schutz des Volkseigentums und die letzten Reste des sozialistischen Verfassungsrechts schnell beseitigt wurden. Sie inszenierten mit dem „Vertrag über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“ vom 18. Mai einen finanzpolitischen Crash gegen die DDR-Wirtschaft. Ab 1. Juli 1990 erfolgte die Währungsumstellung auf die Währung der BRD. Das volkseigene Vermögen und das Vermögen der DDR überhaupt wurden zum „Staatsbesitz Deutschlands“ erklärt. Die Insichverbindlichkeiten der volkseigenen Betriebe gegenüber dem DDR-Staat in Höhe von 104 Milliarden Mark der DDR bezeichnete man als „Altschulden“ und übertrug sie westdeutschen Banken. Die Tilgungsraten betrugen nunmehr 10 Prozent, vorher ein Prozent.4 So schaltet man die Konkurrenz aus. Dann kam der in den westdeutschen Ministerien formulierte Einigungsvertrag, der eine „Einigung“ als Willensübereinstimmung suggerierte, die es nicht gab. Die vertragsschließende Seite der DDR bestand unter Leitung von Günther Krause (CDU) aus Westbeamten und „Politikneulingen der letzten, auf den Beitritt fixierten Volkskammer“.5 Außer wenigen positiven Regelungen wie die Anerkennung der Abschlüsse in Artikel 37 und der unter dem Druck der Sowjetunion und der Stimmung auf dem Lande in der DDR erfolgten Bekräftigung der Bodenreform und weiterer Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage in Artikel 41 wurde von den DDR-Vertretern all das hingenommen, was die Bundesregierung unter Wolfgang Schäuble vorlegt hatte. Der Vertrag vollzog den Anschluss der DDR, des „Beitrittsgebietes“, wie es in ihm hieß, im Zeichen der Verfassungsverweigerung entgegen Artikel 146 Grundgesetz, der die Geltungsdauer des Grundgesetzes bis zur Vereinigung und der Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung begrenzt hatte. Volksabstimmung und freie Entscheidung aber waren nicht gefragt. Die neu strukturierte Treuhand-Anstalt, die Stasi- Unterlagenbehörde, die Parteienkommission und alle möglichen Evaluierungskommissionen sowie alsbald auch die zwei Enquetekommissionen des Bundestages zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ übernahmen es, die Kolonialisierung Ostdeutschlands bzw. Beseitigung der DDR zu organisieren und als rechtens zu legitimieren. 3 Karl Marx, Die Kontrerevolution in Berlin (17. November 1848), MEW, Band 6, Berlin 1961, S. 9. 4 Vgl. E. Lieberam, Linke Politik für Ostdeutschland im dritten Jahrzehnt der Vereinigung, Quellen und Zeugnisse linker Politik im Sächsischen Landtag, Heft 6/2012, S. 18. 5 O. Baale, Abbau Ost, Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden, München 2008, S. 72. 2 Aber nicht einmal der Einigungsvertrag blieb unangetastet. So enteignete man etwa 70.000 Erben von Bodenreformland.6 Nach dem Schuldrechtsänderungsgesetz erhielten die zwischen 1945 und 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht Enteigneten zwar nicht ihre Immobilien, aber ihre Mobilien (Mobiliar, Gemälde, sonstige Wertgegenstände) zurück und sie bekamen umfangreiche „Wiedergutmachungs- und Ausgleichsleistungen“. Das Treuhandgesetz von 9. August 1994 beseitigte das in Artikel 25 Abs. 6 Einigungsvertrag als Kann-Bestimmung fixierte Anteilsrecht der ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR „am volkseigenen Vermögen“. Das Vereinigungsunrecht ging einher mit dem größten Sozialcrash und dem größten Bereichungsfeldzug in der deutschen Geschichte. Es war ein riesiges DDR-Volksvermögen, geschätzt auf 600 Milliarden DM, das „im Zeitraffer zum Nichts zerrann.“7 In Westdeutschland stiegen im Zuge eines gigantischen Ost-WestVermögenstransfers die privaten Geldvermögen um rund eine Billion DM und die Immobilienvermögen um 2,5 Billionen DM.8 Von den 145 volkseigenen Großbetrieben der DDR mit über 5.000 bis 50.000 Beschäftigten und mehr hat kein einziger Betrieb überlebt. Im Jahre 2003 gab es in Ostdeutschland noch fünf Großbetriebe.9 Insgesamt wurden 12.354 volkseigene Betriebe, 465 Staatsgüter, 3,3 Millionen Wohnungen sowie Verkehrsbetriebe, Versicherungen und Handelsorganisationen privatisiert bzw. verscherbelt. Im Zuge der Privatisierungspolitik und der Deindustrialisierung verschwanden Anfang der neunziger Jahre zwei Drittel der industriellen Arbeitsplätze, etwa 2,5 Millionen. Die Industriearbeiterklasse wurde so nicht nur entmachtet, sondern auch regelrecht abgewickelt In den Ministerien der Länder, in der Verwaltung und an den Universitäten, in den bundeseignen Behörden usw. besetzten in den neunziger Jahren 35.000 Westbeamte alle wichtigen Positionen. Etwa eine Million Staatsangestellte der DDR wurden entlassen, darunter ein Viertel der Lehrer und mehr als die Hälfte der Hochschullehrer. Noch 1994 kamen 61 der 62 Staatssekretäre in den ostdeutschen Ländern aus Westdeutschland. Abgewickelt wurden etwa 70 bis 80 Prozent der wirtschaftsnahen Forschung (86.000 Personen). Von den zwischen 1994 und 1999 berufenen 1878 Professoren kamen 94,7 Prozent aus Westdeutschland. Westdeutsche besetzten in den neunziger Jahren alle Intendantenpositionen in Funk und Fernsehen.10 Die DDR wurde zu einer grundrechtsverdünnten Zone mit einem niedrigeren Sozialstandard. als Westdeutschland, mit zunehmender sozialer Ungleichheit und Prekarität überall. Gegen 105.000 Funktionsträger und Bürger der DDR wurden strafrechtliche Ermittlungsverfahren eröffnet. Im September 2015 war die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland mit 8,7 Prozent 55 Prozent höher als in Westdeutschland. Zahlreiche Rentenansprüche werden bis heute nicht anerkannt. Nach 25 Jahren sind die Löhne immer noch niedriger und die Rentenwerte liegen 8 Prozent unter denen der Westdeutschen. Bedenklich ist, dass das Unrecht der Abwicklung und des Anschlusses der DDR nicht mehr thematisiert wird: weder von der offiziellen Politik noch durch Meinungsumfragen. 6 Vgl. E. Lieberam, Linke Politik für Ostdeutschland, a. a. O., S. 30. 7 G. Wumme, Wem gehört der Osten? Die Woche vom 6. Juni 1997. 8 Vgl. K. Blessing und W. Kühn, Das „Wirtschaftswunder Ost“ mit kurzen Beinen, ND vom 11. 12. 2010. 9 Vgl. U. Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005, S. 165. 10 Vgl. E. Lieberam, Linke Politik in Ostdeutschland, a. a. O., S. 31 f. 3 Nach einer von der Fraktion der LINKEN im Bundestag zum 20. Jahrestag in Auftrag gegebenen Studie11 meinte damals eine „überwiegende Mehrheit“ rückblickend, in der DDR ein „gutes und durchaus sinnvolles Leben geführt zu haben“. Mit „ihren eigenen Erinnerungen“ fänden sie sich in den Medienberichten nicht wider. Die Befragten verbanden ihr persönliches Bild vom „Leben in der DDR“ mit Vollbeschäftigung (66 Prozent in hohem Maße), mit sozialer Sicherheit (62 Prozent in hohem Maße), mit „SED-Diktatur“ (42 Prozent in hohem Maße, 46 Prozent nicht oder im geringen Maße) und mit betrieblicher Mitbestimmung (46 Prozent in hohem oder mittleren Maße). Kritische Positionen zur Treuhand (gewährte „vor allem Westdeutschen einen billigen Zugang zu DDR-Betrieben“; war „eine der ersten Heuschrecken) hatten 2010 Zustimmungsraten von 87 bzw. 66 Prozent.12 2015, zum 25. Jahrestag, gab es derartige Untersuchungen nach meinem Wissen nicht mehr, auch nicht von der Partei Die Linke. Das Alltagsdenken, das heutige Denken über das Leben in der DDR und das Unrecht der Vereinigung sind keine Themen mehr, wobei wir immer zu bedenken haben, dass nur etwa die Hälfte der in Ostdeutschland heute Lebenden noch eine Erinnerung an das gesellschaftliche und politische Leben in der DDR haben können. Nur am Rande spielt das Unrecht der Vereinigung nach 25 Jahren Vereinigung noch eine Rolle. Umso mehr sind wir gefordert, dieses Unrecht in Erinnerung zu rufen. Zweitens zur heutigen Verfälschung und Kriminalisierung der DDR Wir wissen alle: Die Regierenden der BRD setzten seit ihrer Gründung 1949 auf die Diffamierung der DDR. Sie behandelten sie als ein vorübergehend von Aufständischen bzw. Fremdstämmigen besetztes Gebiet ihres Territoriums, als „sowjetisch besetzte Zone“. Sie weigerten sich bis in die siebziger Jahre hinein, sie als Staat anzuerkennen. Sie diffamierten sie als totalitär und bezeichneten sie in § 88 Strafgesetzbuch als „Gewalt- und Willkürherrschaft“. Diejenigen in der BRD, die mit Vertretern politischer Organisationen in der DDR sprachen, verfolgte man strafrechtlich. Im Rahmen der Politik des Wandels durch Annäherung kam es dann in den siebziger Jahren zu einer gewissen verbalen und politischen Mäßigung. Man verwarf das Totalitarismuskonzept, da es die reale Entwicklung in der DDR nicht erklären könne. Von Vertretern der offiziösen „DDRologie“ wie Christian Peter Ludz war vom „konsultativen Autoritarismus“ der DDR die Rede.13 Das klang relativ freundlich. Nach dem Anschluss der DDR war das alles anders. Die Regierenden verschärften ihre Tonart in einer außerordentlich extremen Weise. Sie agierten plötzlich so, als ob mit der Vereinigung nicht das Ende, sondern der Höhepunkt des Kalten Krieges gekommen sei. Und dabei blieb es bis heute. Sie nahmen das Wort „totalitäre Diktatur“ aus den fünfziger Jahren und etikettierten damit erneut die DDR. Sie ließen durch Justizminister Helmut Kinkel auf dem Deutschen Richtertag 1991 die Losung der Delegitimierung der DDR ausgeben, mit der ungeheuerlichen 11 Vgl. Leben in den neuen Bundesländern 2010, Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum BerlinBrandenburg e. V. Bericht, Berlin – Juni 2010. 12 Vgl. ebenda, S. 9, 11, 23 und 44. 13 Vgl. K. von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart, München 1972, S. 285 f. 4 Begründung, dass die DDR „in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war, wie das faschistische Deutschland.“ 14 Hinzu kam das Wort „Unrechtsstaat“, das Ende der neunziger Jahre als wichtigste ideologische Keule zur Diffamierung der DDR sich durchsetze. Bereits im Einigungsvertrag (§ 17) hatten die Regierenden die DDR als „SED-Unrechtsregime“ etikettiert. Im Kalten Krieg war dieses Schimpfwort nur von wenigen Scharfmachern benutzt worden. Das verordnete Denken über die DDR als Unrechtsstaat ist im 25. Jahr der Vereinigung - nicht zuletzt seit der Regierungsübernahme des Ministerpräsidenten und LINKEN-Politikers Bodo Ramelow in Thüringen - zum Geßlerhut geworden, den alle zu grüßen haben, die über die DDR reden. Selbst die meisten Politiker der Partei Die Linke halten sich daran. Wer sich auf das Wort vom Unrechtsstaat DDR einlässt, der will keine gerechte und differenzierte Einschätzung der DDR. Und selbst wenn er dies eigentlich doch will, kann er es nicht mehr. Dieses Wort zwingt zur pauschalen Diffamierung. Es lässt keinen Raum für eine gerechte Bewertung. Die Einseitigkeit, mit der die DDR und ihre Geschichte behandelt werden, geht mit der Umdeutung der deutschen Geschichte einher. Von dieser Geschichte - gerechnet seit 1871 - macht die Geschichte der SBZ/DDR immerhin fast ein Drittel aus. Wenn man aber z. B. sich aktuelle Abhandlungen zum deutschen Sozialstaat ansieht,15 so wird zwar sehr viel (zu Recht) über die Verdienste des Otto von Bismarck geschrieben. Den sozialistischen Sozialstaat DDR, mit Vollbeschäftigung, mit einem vorbildlichen Arbeitsrecht, mit einem kostenlosen Bildungssystem und Gesundheitswesen, aber hat es gar nicht gegeben. Er ist keine Zeile, keinen Halbsatz wert. Über die DDR kann außerdem jede Lüge, jede Absurdität „berichtet“ werden. Als ehemaliger Mitarbeiter der Fraktion PDS/Linke Liste im Bundestag in Bonn erinnere ich mich an die Aktion „Leichensache DDR“ in den neunziger Jahren. In der DDR, so die Story, seien von der „Stasi“ viele Menschen umgebracht worden und dann heimlich auf den Friedhöfen verscharrt worden. Alle „Leichensachen“ in der DDR müssten deshalb gründlich überprüft werden. Zu finden war nichts. Entschuldigt hat sich für diese groteske Kampagne niemand. Ähnlich ist es mit der Geschichte, die Eingang in die Antrittsrede von Bodo Ramelow als Ministerpräsident Thüringens am 5. Dezember 2014 fand. Bodo Ramelow begrüßte Andreas Möller, der auf der Tribüne Platz genommen hatte als „väterlichen Freund“. Er entschuldige sich bei ihm: „Andreas Möller hat im Stasi-Knast in Potsdam gesessen, er hat mich mitgenommen an den Ort, an dem er im Blut gelegen hat.“16 Möller, einst Journalist bei Bild, war offensichtlich überrascht. Er war in den sechziger Jahren in der DDR wegen Fluchthilfe verurteilt worden. Ein strafrechtliches Verfahren wegen Gefangenmisshandlung in der Sache Alex Möller hatte es nach der Vereinigung nicht gegeben. Möller bestätigte auch nicht, in Potsdam „im Blute“ gelegen zu haben. Der Titel „väterlicher Freund“ passte ihm offenbar ebenfalls nicht. Aber auf all das kam es wohl gar nicht an. Bodo Ramelow hatte kalkuliert und medienwirksam seine Ergebenheit zum „westlichen Wertesystem“ zelebriert. Wer konnte nun noch zweifeln, dass er würdig ist, der „politischen Elite“ der Bundesrepublik anzugehören? 14 K. Kinkel, Begrüßungsansprache vor dem 15. Deutschen Richtertag, Köln, 23. 9. 1991, zit. nach junge Welt vom 7. Oktober 2004. 15 Vgl. z. B. F.-X. Kaufmann, Der deutsche Sozialstaat, FAZ vom 10. 8. 2015. 16 B. Ramelow, Politik an die Menschen bringen, www.tagesschau.de/inland/rede-ramelow-101.html, Stand 5. 12. 2014, 14:48 Uhr. 5 Die Verteidigung der DDR ist offensichtlich schwieriger geworden, aber auch dringlicher. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Es wird sich nur so viel Wahrheit über die DDR und ihre Errungenschaften durchsetzen, wie wir selber durchsetzen. Drittens zur Würdigung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leistungen der DDR Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass für die Regierenden die Wirklichkeit der DDR kein Thema und kein Maßstab ist. Volker Kauder erklärte am 17. Juli dieses Jahres im Deutschen Bundestag: „Die Menschen im Osten in der DDR und die Menschen im Westen waren gleich fleißig, waren gleich kreativ, hatten gleiche Anlagen und Chancen. Die einen konnten sie nutzen, weil das System so war, dass man sie nutzen konnte. … Die anderen hatten ein System, das dies nicht begünstigt … Deswegen ist die DDR verlottert und nicht gewachsen.“17 Nach Kauder sprach Dietmar Bartsch. Auf die Lüge von der „nicht gewachsen(en)“ DDR ging er nicht ein. Wie war es tatsächlich? Die wirtschaftliche Bilanz der DDR ist für jeden, der die Fakten zur Kenntnis nehmen will, beeindruckend: hinsichtlich ihrer Entwicklung als Industriestaat, ihres Verhältnisses zu den anderen führenden Industriestaaten wie auch innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft. Von 1950 bis 1989 verzehnfachte die DDR ihre Wirtschaftskraft (Volkseinkommen bzw. BIP pro Kopf der Bevölkerung). Die BRD konnte in dieser Zeit (bei einem allerdings weitaus besseren Ausgangsniveau) ihre Wirtschaftskraft auf gut das Sechsfache steigern. Nach den letzten Berechnungen der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR vom September 1989 ordnete sich die DDR 1987/1988 gleichauf mit Belgien auf Rang 8/9 in Europa ein. Zusammen mit Japan und Belgien belegte sie im globalen Vergleich der Industriestaaten die Plätze 14 bis 16. Ihre Produktivität machte 69 Prozent der Produktivität der BRD aus, was in etwa der gleiche Abstand von Ostdeutschland zu Westdeutschland im 25. Jahr nach der Vereinigung ist. Hinsichtlich der Arbeitsproduktivität pro Kopf der Erwerbstätigen waren es 47 Prozent der Arbeitsproduktivität der BR$D (1949 etwa 30 Prozent).18 Die Produktivität der DDR lag 30 bzw. 60 Prozent höher als die der CSSR und der VR Polen. Ein großes Problem der DDR war, dass sie diese Wirtschaftskraft unzureichend in Volkswohlstand und in ein Angebot hochwertiger Güter umsetzen konnte. Nicht nur erhebliche Reparationsleistungen (Verluste in der SBZ in Form von Demontage in Höhe von 30 Prozent der industriellen Kapazität und 54 Milliarden RM in Preisen von 1944)19 und Aufwendungen für die sowjetischen Streitkräfte, ebenfalls die Embargobestimmungen, auch Mängel in der Zusammenarbeit innerhalb des RGW erschwerten dies außerordentlich. Aber auch hier muss 17 Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode, Stenografische Berichte, 117. Sitzung, S. 11375. 18 Berechnet nach: Ministerrat der DDR, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Statistische Übersicht zur Charakterisierung der Stellung der DDR unter den führenden Industrienationen der Welt, Berlin, September 1989, S. 2 bis 5. Privatarchiv, Dr. Wolfgang Kühn (Berlin Köpenick). 19 Vgl. K. Mai, Das Reparationsproblem als Hauptfaktor der zu niedrigen Arbeitsproduktivität – eine knappe Begründung aus historischer Sicht, Manuskript, Juni 2010, S. 2 f. 6 man genauer hinsehen: Es gab zwar z. B. die extrem langen Wartezeiten für PKW, aber 70 Prozent der Familien besaßen in der DDR ein PKW. Die DDR war auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln eine sehr solidarische Gesellschaft. Sie war auch eine sehr gesellige und hochpolitische Gesellschaft In ihr gab es z. B., was den letzten Punkt betrifft, allein mehr als vier mal so viel Mitglieder der „befreundeten“ Parteien CDU, DBD, LDPD und NDPD (etwa 460.000) als es heute in Ostdeutschland überhaupt Mitglieder politischer Parteien gibt (etwa 110.000). Nie gab es in der deutschen Geschichte einen Sozialstaat mit derart weitgehenden sozialen Sicherungen. Soziale Gerechtigkeit ist in ganz erheblichem Maße soziale Gleichheit. Die Einkommensunterschiede in der DDR lagen allenfalls bei 1 : 6 oder 1 : 7. In der BRD liegen sie bei 1 : 1000 und mehr. Weitere Errungenschaften der DDR waren: - die Ächtung von Kriegen und eine konsequente Friedenspolitik, der es mit zu verdanken ist, dass es zu keinem großen Krieg kam, - politische Verhältnisse in der Wirtschaft, wo Demokratie und Meinungsfreiheit eben nicht vor den Betriebstoren halt machten, - entschiedene Fortschritte bei der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die zum Teil mittlerweile wieder verloren gegangen sind, - ein Rechtsordnung, in der Kriminalität ganz entschieden zurück gedrängt werden konnte. Heute werden z. B. in dem kleinen Bundesland Brandenburg in einem halben Jahr etwa so viele Straftaten begangen wie in einem ganzen Jahr zu DDR-Zeiten. Viertens zu den Erfahrungen und Lehren der DDR-Geschichte Die DDR hat in besonderer Weise gezeigt, dass Sozialismus möglich ist und enorme soziale Fortschritte gegenüber der kapitalistischen Profitgesellschaft bringt. Da in der DDR die materiellen Existenzbedingungen für eine sozialistische, gemeinwirtschaftliche Gesellschaft stärker entwickelt waren als in den anderen sozialistischen Ländern, geschah dies besonders augenfällig. Zugleich hat die Geschichte aber auch gezeigt, dass der reale Sozialismus des 20. Jahrhunderts, auch in der DDR, hinsichtlich des ökonomischen Systems und der politischen Verfasstheit im Konkurrenzkampf mit einem prosperierenden Kapitalismus letztlich nicht konkurrenzfähig war. Die sechziger Jahre, waren in der DDR eine Zeit, in der diese Gefahr klar erkannt wurde. Unter Walter Ulbricht unternahm die DDR große Anstrengungen, um im Rahmen des Reformprogramm NÖS/ÖSS ökonomisch und politisch in der Offensive zu bleiben und ihren ökonomischen Rückstand gegenüber der BRD schneller aufzuholen. Mit dem Sturz Walter Ulbrichts durch Erich Honecker (im Zusammenwirken mit Leonid Breschnew) war 1971 Schluss mit diesem Reformprogramm. Für das ökonomische Programm eines neuen Sozialismusanlaufs im 21. Jahrhundert sind diese Erfahrungen mit einem anderen ökonomischen Lenkungstyp sehr lehrreich. An die Stelle einer administrativen Leitung sollten eine Leitung mit vorwiegend ökonomischen Mitteln und ein Verständnis der sozialistischen Betriebe und Kombinate als eigene Wirtschaftseinheiten treten, 7 die im Rahmen der zentralen Planung weitgehend über ihre eigene Geschäftstätigkeit und die erweiterte Reproduktion selbst entscheiden.20 Einiges spricht dafür, dass der Abbruch dieses Reformkonzepts (natürlich nur realisierbar als Gemeinschaftsaktion aller sozialistischen Länder: von Berlin, über Moskau bis Peking) eine verpasste Chance in der Systemauseinandersetzung für den Realsozialismus war. In der Zeit der Ulbrichtschen Reformen und unmittelbar danach kam es 1964 bis 1974 zu einem außerordentlichen Anstieg der Arbeitsproduktivität und der Industrieproduktion in der DDR von durchschnittlich jährlich 4,9 bzw. 6,4 Prozent. Danach, bis 1989, sanken diese Zahlen auf 3,2 bzw. 3,5 Prozent.21 Der DDR ist es nicht gelungen, einen insgesamt überzeugenden neuen, der bürgerlichen Demokratie überlegenen Demokratietyp zu schaffen. Konfrontiert mit einem mächtigen und erfahrenen politischen Gegner, war sie in einer schwierigen Situation. Der Sozialismus braucht Demokratie wie die Luft zum Atmen: als demokratische Kontrolle und als individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Aber unter den gegebenen Umständen konnten Bewegungen von unten vom politischen Gegner jederzeit als Ansatz zur Institutionalisierung einer antisozialistischen Systemopposition genutzt werden. Das war 1953 in der DDR wie 1956 in Ungarn deutlich geworden. Insofern lehrt die DDR-Geschichte ebenfalls, dass es beim sozialistischen Aufbau vielschichtige komplizierte Zusammenhänge zwischen der Machtfrage und der Demokratiefrage gibt, als jeweils eigenständige, aber auch miteinander verbundene Fragen. Einen allgemeinen Aufruf zur Demokratisierung ohne ein klares Konzept zur Machtsicherung und zur Vitalisierung des ökonomischen Systems war, wie die Beispiele Dubcek und Gorbatschows zeigten, politisch tödlich. Politisch falsch war es aber ebenfalls zu glauben, man könne mit autoritären Strukturen und administrativen Mitteln die Probleme auf Dauer lösen. Als unvermeidliche Folge dessen verengte sich die Machtbasis und der Widerspruch zwischen politischer Führung und Bevölkerung geriet zur gesellschaftlichen Kollision. Die DDR hat, das darf bei alldem nicht übersehen werden, auch auf dem Gebiet der Demokratie Beachtenswertes geleistet. Gemessen an dem allgemeinen Maßstab einer höheren individuellen und kollektiven Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten hat sie neue Demokratieformen geschaffen. Dazu gehören die Staat-Bürger-Beziehungen auf der Grundlage des Eingabenrechts und die genossenschaftliche Demokratie in den LPG ebenso wie die ständigen Produktionsberatungen und die gesellschaftlichen Räte in der sozialistischen Wirtschaft und die Konfliktkommissionen in der Rechtspflege. Die DDR ist ein wichtiges Erfahrungsobjekt sozialistischer Gesellschaftsgestaltung. Ihre Geschichte vermittelt eine ganze Reihe von positiven Erfahrungen für neue Sozialismusanläufe. Aber gerade auch jene Erfahrungen der DDR sind wichtig, die lehren, dass Vieles politisch und konzeptionell intelligenter und besser zu machen ist und Sozialismusgestaltung immer ein Suchpfad bleibt.
Verfasser Ekkehard Lieberam

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1 Kommentar

Was das "Unrecht des Anschlusses" betrifft:
Es waren die Bürger der DDR die die Mauer eingerissen haben und auf der Straße skandierten "wenn die DM nicht zu uns kommt kommen wir zur DM".

Von unserer, westlichen, Seite hat niemand darum gebeten. Wir haben inzwischen 2 Billionen für den Aufbau Ost bezahlt. Nachdem Kohl uns weisgemacht hat das wir die Konkursmasse der bankrotten DDR aus der Portokasse zahlen könnten. Auch diese 2 Billionen hätten wir lieber in die Unterhaltung unserer eigenen Straßen und Schulen gesteckt.

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