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Kleine Engel, große Engel

Gestern habe ich ganz nebenbei, während ich den Müll der letzten Tage von Frau und Tochter in einer Ecke verstaut hatte, mal ausnahmsweise den Anrufbeantworter abgehört. Das hatte ich mir irgendwann abgewöhnt. Weil es nur sinnloses Hinterlaufen, Arbeit und Ärger bedeutete. Ich hatte mich eben irgendwann entschieden. Dann leider die Ausnahme an diesem Tag:

„Hallo, schade dass Sie nicht da sind. Wir erwarten Ihre Tochter am Samstag um 18 Uhr im Rathaus. Sie ist jetzt ein großer Engel."

Die sanfte Stimme der Dame klang gütlich, so als hätte sie ein Geschenk verteilt. Ich blickte auf den blauen IKEA-Sack an der linken Ecke des Raumes. Geschafft: sämtliche Utensilien der letzten Tage haben reingepasst: Schuhe, Schals, Schulbücher, Kerzenstummel, Milka-Reste, angebrochene Chips-Packungen, zwei DVD’s, Mandarinen, Mandolinen, Nektarinen, Zigarettenstummel und verschiedene unbezahlte Rechnungen.
Wir teilen uns die Arbeit auf, so hat es meine Frau beschlossen. Und während ich meinen Teil erfülle, werde ich zur Belohnung damit beglückt, immer neue Geschichten zu hören, warum sie zu ihrem Teil noch nicht gekommen sei.

„Zur Zeit bin ich etwas überlastet."

Dieses „Zur Zeit" höre ich seit 18 Jahren. Ich persönlich habe eine andere Zeitrechnung, aber was soll’s: seit es diese überdimensionierten blauen IKEA-Säcke gibt, räume ich auch gerne für sie auf. Auf meine Weise. IKEA ist einer der Gründe übrigens, warum es „zur Zeit" nicht geht. Ein anderer Grund sind die Vorbereitungen und Aufführungen der Engelsdarbietungen im Augsburger Rathaus.

So, dachte ich mir: eigentlich wäre das ein Freudentag. Aufgeräumt, und meine Tochter ist nun bei den großen Engeln. Hier muss erwähnt werden: diese Aufführung, die Ihr unten im Video seht, ist ein über Jahrzehnte gewachsene, ursprünglich private Veranstaltung gewesen, dem Augsburger Rathaus etwas Glanz zu geben. Gegen den Willen der Stadtväter früher einmal durchgesetzt und selbst finanziert von inzwischen betagten Liebhabern der eigenen Heimat, ist es nun ein offizielles Aushängeschild dieser Stadt. Durch Spenden großzügig unterstützt. So wie Bert Brecht, der in Augsburg nie auch nur eine Zeile geschrieben hat und Mozart, dessen Vater hier mal kurz zu Gast war, teilt sich auch dieses Engels-Spiel die Ehre, nach Ablehnung ein Wahrzeichen der Stadt selbst geworden zu sein.

Und tatsächlich gibt so etwas wie eine Rivalität, hier daran überhaupt teilnehmen zu dürfen. Die Auswahl ist streng: neben gepflegtem Aussehen und vollkommener Unterwerfung zählen auch Stolz auf die elitäre Position und Zuverlässigkeit. So etwas gibt es sonst nur im Militär und im Ballett. Und tatsächlich sind die meisten der jungen Damen kleine Ballerinas. So wie meine Tochter auch. Sie hat den denkwürdigen Aufstieg geschafft vom ganz kleinen Engel, die ganz oben in den Fensterreihen aus den kleinsten Fenstern schielen, zum großen Engel, die ganz unten auf der Bühne herausgefahren werden. Was für ein stimmiges Sinnbild: der Aufstieg vollzieht sich über den Abstieg nach unten.

Das wollte sie immer: bei „den Großen" dabei sein, wie ihre Cousine, die nunmehr zu alt ist und es tatsächlich zum Hauptengel geschafft hat. Dabei darf man nicht vergessen: hier biedern sich verschiedene Ballettschulen der Stadt an und giften sich gegenseitig unter Mitwirkung der Schüler an, bis zu dem Tag, an dem die Auswahl getroffen ist und die Liste feststeht. Dann darf wieder gelächelt werden. Die Bosheiten gehen von Verleumdung bis hin zu moralischer Erpressung, irgendwann werden auch wir unsere Tonya Harding hier mit einer Eisenstange sehen. So wie es eben ist, wenn man sich für den Aufstieg entschieden hat.

Mir selbst ist dieser Rummel suspekt. Aus meiner Jugenderfahrung habe ich nur eines mitgenommen: die schlimmsten Zicken sind die Mädchen auf Klosterschulen mit Ballettausbildung und musikalischen Ambitionen. Bei meiner Tochter haben sich alle drei Dinge bisher eingestellt. Ich selbst denke nicht mehr darüber nach, was das „Schicksal" mir damit sagen will: ich habe es längst kapiert und aufgegeben. Meine Existenz besteht nur noch aus Notwehr, sie konkretisiert sich in IKEA-Säcken und einer Hoffnung darauf, dass jede Eitelkeit einmal auch ein Ende hat. Wir hatten uns eben entschieden und alles bestand nur noch aus Makulatur.
Vor über 20 Jahren war ich einmal mit einem „großen Engel" zusammen. Ihr Bruder hatte sie mir vorgestellt, wir studierten zusammen und er pflegte immer, zum Essen zu kommen, wenn er nichts zu Hause hatte.

Irgendwann merkte ich dann: er hatte ja nie etwas zu Hause, aber irgendwann einen Fiat Spider. Ich selbst habe es nie zum Auto geschafft. Vermutlich weil er richtig hungrig war. Und dann kam seine Schwester noch dazu ... Ich muss hier zugeben: sie war das, was man in diesem Alter „etwas Besonders" nannte. Also: sie war bildhübsch, schlank und sagte nichts außer „Hm", weil sie einfach nichts zusagen hatte. Sie war es gewohnt, bedient zu werden und es gab keine Notwendigkeit, im Gegenzug irgendetwas dafür zu tun außer nur da zu sein. Aus unserer Beziehung ist nie etwas geworden, denn ich besaß ja kein Auto. Später heiratete sie einen der Erben von C&A, der ließ sich dann später wegen einer Jüngeren scheiden und heute kämpft sie in einer geschlossenen Anstalt gegen die Ungerechtigkeit dieser grausamen Männerwelt und wird dick und fett dabei. Sie hatte sich eben entschieden. Und war auch gut so: sie war zum Nicht-Aufräumen ohnehin nicht geeignet.

„Du bist jetzt ein großer Engel", habe ich meiner Tochter gesagt, als sie nach Hause kam und die Schuhe, Mäntel und Schultaschen auf dem Boden verteilte. Sie hat viel von ihrer Mutter, nur die Körpergröße nicht: die hat sie von mir. Mit ihren 1m80 ist sie längst schon eine „Große" für mich, trotz ihrer gerade mal 14 Jahren. Als Herrin der Fernbedienung und der Essensgestaltung hat sie sich schon längst durchgesetzt, es ist sogar so schlimm, dass meine Frau und ich uns schämen, wenn wir uns streiten.

„Hm", meinte sie nur.

„Was meinst du mit ‚Hm‘", fragte ich. Und ich muss zugeben, ich war tatsächlich etwas beunruhigt.

„Ich weiß nicht mehr, ob ich da hinwill. Das wird mir langsam zu blöd. Schön aufgeräumt hast Du ... ähemm, wo sind meine Sachen?"

„Heute war ich kreativ: in der anderen Ecke."

„Achso." Sie lachte. „Das gibt wieder Ärger mit Mamma."

„Egal. Hauptsache aufgeräumt. Beides geht eben nicht: aufgeräumt haben und wieder etwas finden können. Das ist unvereinbar, wie das meiste im Leben."

„Also, das mit dem Engel: ich glaube, ich gehe am Samstag lieber mal mit Dir zu dieser Band. Die haben Übungsräume, wo ich vielleicht auch reindarf? Ich glaube, ich will einfach nur noch Saxophon spielen."

„Weiß nicht. Aber fragen können wir mal. Willst du das wirklich?"

„Ja, ich glaube schon. Beides geht ja nicht?"

Schade, ich hatte sie bisher noch nie angesehen bei dieser Vorführung. Meinen kleinen Engel. Mit nunmehr 1m80.

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1 Kommentar

Das Lesen hat mir freude bereitet, so ist das nun mal mit Töchtern.Engel sehen schön aus! Aber ein Saxophon hört sich besser an.

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