Lazarus lebt überall
„Bitte nur fünfzig Cent …“
Weihnachtsgeschichte von Karl J. Zwierlein
Wer kennt nicht die Geschichte von dem reichen Mann, der stets in Saus und Braus lebte und von dem armen, namens Lazarus, der sich vor dessen Tür mit den kümmerlichen Resten abfinden musste, die für ihn abfielen. Beide starben. Während der Reiche in der Totenwelt ewige Qualen erleidet, feiert der arme Lazarus das ewige Freudenmahl an der Seite Abrahams. So steht es im Lukas-Evangelium, 16,19-31.
Fast jedes Mal, wenn ich aus meinem Stadtteil in die Innenstadt fahre, werde ich unterwegs von irgendeinem Bettler angesprochen. So war es auch an jenem Dezembertag. Es war Heiliger Abend. Geschäftiges Treiben allerorts, schnellstens noch die letzten Besorgungen, ehe die Kaufhäuser vorzeitig schließen! Kaum dem Bus entstiegen, streckte sich mir eine noch jugendliche Hand entgegen mit einer fast kindlichen Stimme: "Bitte nur fünfzig Cent - für ein wichtiges Telefonat“. Die Stimme gehörte einem 18-Jährigen, der schon mit 16 von zuhause abgehauen ist, aus einer Wohnung mit einem meist prügelnden Freund seiner Mutter. Er ist weggelaufen auch vor den steten Pöbeleien und Schreiereien spätnachts, wenn der Alkoholspiegel gestiegen war. Zuerst war da die Clique unten am Spielplatz, dann die Gang im Park, schließlich die Flucht Richtung Großstadt. Rund um den Königsplatz gibt es viele wie ihn. Denen gesellte er sich zu, da fühlte er sich besser aufgehoben. Den nahen Hauptbahnhof scheint er wie sie auch gepachtet zu haben. Er sitzt da, wo es Überdachungen gibt, die Wind, Regen und auch Schnee provisorisch abhalten, er campiert vor Kaufhauseingängen, wo genug warme Luft aus Schächten weht. Wie die anderen wechselt auch er die Plätze, wenn das Ordnungspersonal zum Weggehen auffordert. Unser 18-Jähriger will schon die dritte Garnitur Kleidung verschlissen haben, die letzte im Kaufhaus geklaut, leider auf der Flucht kaputtgegangen. Obdachlose Freunde hat er inzwischen genug gefunden, mehr Zweckgemeinschaften für die Dauer einer geteilten Flasche oder eines Nachtlagers unter einer der Brücken in der Stadt. Häufig teilt er sich nachts eine Parkbank mit anderen Heimatlosen, zuletzt mit einem älteren Mann, dessen Körper durch Alkohol und Rauschmittelcocktails bereits angegriffen war. Die aufgekratzte Haut seiner Hände heilt nur schwer. Deren Wunden leckt ein anschmiegsamer Schäferhund. Dieser ist ein wirklicher Freund des Mannes. Eigentlich gehört er einem Kumpel, aber der ist eines Tages nicht mehr aufgetaucht und hat den Vierbeiner einfach dagelassen.
Irgendwie schien mir der Junge, den ich mit Lazarus verglich, sehr sympathisch. Aber ich wurde auch sehr nachdenklich. So gut wie nie gab ich bisher einem Bettler auf offener Straße ein Almosen. Selbst einen Blickkontakt meidete ich oftmals mit solchen Menschen. Doch diesmal ertappte ich mich offensichtlich beim Bruch meiner langjährigen Grundsätze und Prinzipien. Neugierig fragte ich den 18-Jährigen, wofür er denn das Geld wirklich benötige. "Damit ich meine Mutter anrufen kann, ich will ihr doch frohe Weihnachten wünschen …“, war seine Antwort, die sehr traurig klang.
Ich glaube keinesfalls, dass ich mir mit diesem Almosen einen himmlischen Verdienst erworben habe. Doch weiß ich, dass ich damit einem Jugendlichen ganz sicherlich eine Weihnachtsfreude bereiten konnte und nicht zuletzt auch einer verzweifelten Mutter daheim mit der Sorge um die ungewisse Zukunft ihres umherstreunenden Sohnes. Doch das gute Herz des Jungen, dessen Name mir nicht wichtig war, war mir noch mehr wert. Ich lud ihn zu einem Imbiss in den nahen Kiosk ein. Und während er dankbar seinen Hunger stillte, offenbarte er sich mir gegenüber ein wenig und erzählte mir dann all das hier über sein Schicksal, eben über einen Teil aus zwei düsteren Jahren seines Lebens auf der Straße. Von nahen Straßenmusikanten drangen die trauten Weisen von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ in den Raum.
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