Lust auf Literatur
Wann ist ein Buch ein Buch - Ergodische Literatur
Frei nach Grönemeyer mit der Frage: Wann ist ein Buch ein Buch geht es heute bei „Lust auf Literatur“ um etwas ungewöhnliche Werke. Stellen Sie sich vor, Sie kaufen ein Buch. Sie schlagen es auf und wollen es lesen wie gewohnt. Von links nach rechts, bis zum Ende der Seite und umblättern. Dann von links nach rechts, von oben nach unten. Aber wie jetzt? Der Text schlägt auf der Seite Purzelbäume, es wurde handschriftlich etwas in die Seiten gekritzelt oder es fallen auf einmal Postkarten, Briefe oder Dokumente aus dem Buch heraus? Glückwunsch, denn in der Hand halten Sie hiermit ein Paradebeispiel für ein Werk der sogenannten Ergodischen Literatur.
Der Begriff der Ergodischen Literatur wurde vom norwegischen Wissenschaftler Espen J. Aarseth geprägt und setzt sich zusammen aus den griechischen Worten „ergon“ für Arbeit und „hodos“ für Weg oder Pfad. Kurz gesagt ist Ergodische Literatur also Literatur, die für den Leser aufgrund ihrer ungewohnten Form einiges an „Arbeit“ während des Lesens erfordert.
Die Form, ach, die Form
Unser Leseverhalten wird durch die Form des Textes stark beeinflusst. Wir sind es gewohnt, wie oben beschrieben, von links nach rechts und von oben nach unten zu lesen. Dabei ist uns das Medium oder die Art des Gelesenen relativ und herzlich egal – Zeitungen, Zeitschriften, Romane, Gedichte, Rezepte – all das funktioniert für uns auf die selbe Weise.
Die Ergodische Literatur nimmt dieses Konzept, stellt es auf den Kopf und ihre Leser damit gleichzeitig auf die Probe. Man muss bereit sein, sich auf ein neues Leseverhalten einzulassen, sonst wird man mit dieser Art der Literatur gar nicht glücklich. Dabei ist das Konzept der Ergodischen Literatur ein sehr verspieltes und wird bewusst von den Autoren eingesetzt, um Form des Textes und Inhalt des Geschriebenen beinahe kunstvoll miteinander zu verbinden. Ergo: Die Form spiegelt den Text, der Text spiegelt die Form.
Klingt erst mal abstrakt, ist auch so. Deshalb hier ein tolles Beispiel.
Kurze Warnung: Dem ungeübten Leser könnte in der folgenden Passage schwindelig werden. Arme, Beine und Kopf sollten während der Fahrt dringend im Gefährt verbleiben. Das Aufstehen ist strengstens untersagt. Für eventuelle Schäden wird keine Haftung übernommen. Viel Spaß!
Schiff des Theseus
Wer das Buch neu kauft, ist erst mal überrascht. Neu sieht das Ding keinesfalls aus. Man hält ein Bibliotheksbuch in der Hand, laut Impressum aus dem Jahr 1949. Inklusive Bibliotheksstempel, Seite mit Rückgabedaten und Klebezettel mit Einsortierungsnummer auf dem Rücken.
Schlägt man es auf, sieht man bereits, dass man es hier mit mehreren Textebenen zu tun bekommen wird. Das Buch erzählt durch seine Form nämlich mehrere Geschichten auf einmal. Diese schlüsseln sich folgendermaßen auf:
Der Basistext: Die Seiten des Romans Schiff des Theseus
Hier ist es noch einfach für die geneigte Leserschaft. Die Seiten sind zwar vergilbt und verdreckt, allerdings ist der Basistext ein Vorwort sowie ein Roman in überwiegend normaler Typografie. Das Vorwort informiert über den Autor V.M. Straka, der trotz seines großen Erfolgs als Schriftsteller öffentlichkeitsscheu war und bis zum heutigen Tage seine Identität geheim halten konnte. Der Roman erzählt die Geschichte des Mannes S., der von Agenten einer mysteriösen Geheimorganisation durch Osteuropa und Afrika gejagt wird, in Bürgerkriege und Konflikte gerät, immer bemüht, seinen Verfolgern einen Schritt voraus zu sein. Einziger Fixpunkt seiner Flucht: S. landet bei seinen Reisen immer wieder auf einem Segelschiff, dessen Besatzung ein äußerst seltsames Verhalten an den Tag legt. S. bemüht sich, dem Schiff zu entkommen, es scheint allerdings auswegslos: Sein Weg führt ihn immer wieder auf das verfluchte Boot.
Der Metatext: Jen und Eric
In den Marginalien der meisten Seiten des Romans finden sich handschriftliche Notizen. Diese, so findet man als Leser heraus, stammen von Studentin Jen, die in ihrer Hochschulbibliothek auf eben jenes Exemplar des Buchs gestoßen ist. Der Autor sowie die Geschichte faszinieren sie und sie beginnt, eigene Anmerkungen im Buch zu hinterlassen. Bei ihrem nächsten Besuch in der Bibliothek bemerkt Jen etwas Kurioses: Jemand antwortet ihr. Der Doktorand Eric, der zu Straka forscht, tritt durch seine Antworten auf Jens Kommentare im Buch mit ihr in Kontakt.
Gemeinsam beschließen die beiden, das Rätsel um Straka und seinen letzten Roman zu lösen. Im Laufe ihrer Recherchen hinterlassen die beiden ihre Fundstücke für den jeweils anderen im Buch, zur Ansicht und Diskussion. So fördern sie alte Zeitungsausschnitte, Todesanzeigen, offizielle Dokumente, Postkarten und Briefe aus dem Leben des Autors oder seiner Zeitgenossen zutage. Auch mehrere Zeitebenen erschließen sich – zuerst kommentieren Jen und Eric in blau und schwarz, dann in rot und lila, die jüngsten Anmerkungen sind in grün und gelb gehalten.
Der Titel
Das Schiff des Theseus ist eine Anlehnung an ein bekanntes Problem aus der Philosophie. Das Gedankenexperiment lautet folgendermaßen: Theseus möchte, dass sein Schiff, das zwar noch seetauglich, aber bereits Alterungserscheinungen zeigt, in der Werft erneuert wird. Der Werfteigentümer möchte die Planken, die für das Boot verwendet wurden, nicht entsorgen und erneuert Theseus‘ Schiff mit neuen Holzbrettern. Mit den alten Materialen baut er ein zweites Schiff zusammen. Ist das erneuerte Schiff noch Theseus‘ Schiff, obwohl sämtliche Materialien, die es zu seinem Schiff machten, ausgetauscht wurden? Und wenn nein, welches Schiff ist Theseus‘ Schiff, das alte oder das neue?
Hier sieht man deutlich die Verknüpfung des Werks mit seiner Form und seinem Inhalt. Als Leser wird man wie S., Jen und Eric auf eine Entdeckungsreise geschickt. Da es keinen vorgefertigten „Weg“ gibt, wie das Gesamtwerk gelesen werden sollte, entdeckt man während des Lesens neue Methoden und probiert verschiedene Variationen aus.
Auf der Textebene kann die philosophische Überlegung nach Theseus auch angewendet werden: Der Roman ist durch Jens und Erics Anmerkungen nicht mehr der Roman, wie er zuerst veröffentlicht wurde, durch ihre Anmerkungen eröffnen sich allerdings neue Wege. Gleichzeitig ist der Inhalt zwar derselbe, kann man aber sagen, dass es sich noch um dasselbe Werk handelt, wenn zwei andere Menschen ihre Kommentare dazugeben und den Inhalt sowie das Verständnis des Lesers so verändern?
Postmoderne Spielerei
Das Zusammenspiel zwischen Form, Inhalt, Roman- und Metaebene sowie Leseebene des Rezipienten macht das Werk zu einem interessanten Flickenteppich aus Theorie, Literatur und genreübergreifendem Lesevergnügen. Nicht nur enthält der Basistext des Romans Anspielungen auf Franz Kafkas „Prozess“ (beispielsweise ähneln sich die Namen Kafka – Straka sowie die Namen der Protagonisten K. und S. sowie ihr Los – jemand musste K. und S. verleumdet haben, aber wieso in aller Welt?) sondern enthält durch seine undurchsichtige Geschichte Elemente von Spionagethriller und Mystery.
Jen und Erics Geschichte in der Metaebene des Kommentars enthält „reale“ Dokumente, die der Leser in die Hand nehmen und studieren kann, vermittelt somit Glaubwürdigkeit und zeugt von der „wahrhaftigen“ Existenz der beiden Kommentatoren. Durch ihre Kommentare lernen wir die beiden besser kennen und erleben auch, wie sich zwischen den beiden eine Liebesgeschichte anbahnt. Durch die verschiedenen Textebenen bleibt das Buch noch nach mehrmaligem Lesen spannend, denn unser Verständnis der kompletten Geschichte verändert sich durch jede Zeitebene erneut.