Das vorgeburtliche Kind
Was geschieht während der ersten neun Monate im Mutterleib? Läuft die Entwicklung, genetisch gesteuert, mehr oder weniger von alleine ab? Welche Rolle spielt die Umgebung, die Mutter und ihr Umfeld und die Qualität der Beziehung zwischen Mutter und Kind?
Diesen Fragen sind der Hirnforscher Gerald Hüther und die Psychotherapeutin Inge Krens in ihrem Buch „Das Geheimnis der ersten neun Monate - unsere frühesten Prägungen“ nachgegangen.
Das Wichtigste vorweg: Von der Befruchtung an ist das ungeborene Kind auf Beziehung, auf Verbundenheit und auf Lernen angelegt und angewiesen. Sobald es Zellen gibt, sind sie lebendig, nehmen wahr, reagieren auf die Umwelt und üben auch schon Funktionen aus. Ohne Lernen gibt es keine Entwicklung und kein Überleben. Und nur in der Beziehung entwickelt sich das Kind, dabei ist viel weniger festgelegt, als man vermuten könnte.
„Neue Erkenntnisse machen deutlich, dass ein ungeborenes Kind kein Zellhaufen ist, der - ganz gleich, wie es der Schwangeren geht und wie mit ihr umgegangen wird - von genetischen Programmen gesteuert automatisch zu einem geburtsreifen Kind heranwächst.“
Ein Embryo wird nicht wie ein Auto oder ein anderes technisches Gerät nach einem bestimmten Bauplan zusammengebaut und funktioniert erst, wenn es fertig ist. Von Anfang an gehören strukturelle und funktionelle Entwicklung zusammen, sie beeinflussen sich gegenseitig.
Wir müssen uns von der Annahme verabschieden, vor der Geburt würde sich ein Kind „von allein“ entwickeln. Die Psychotherapeuten und Pränatalforscher Inge Krens und Hans Krens schreiben in ihrem Buch „Risikofaktor Mutterleib“: „Das sich entwickelnde vorgeburtliche Kind ist ein lebendiges interaktives Wesen, das von der Empfängnis an durch seine mütterliche Umgebung beeinflusst wird.“
Das Ungeborene lernt durch das, was aus seiner vorgeburtlichen Umwelt auf es eindringt, auch die einzelnen Zellen lernen von ihrer unmittelbaren Umgebung; dieses Lernen beeinflusst die Struktur- und Funktionsentwicklung des Gehirns; und das wiederum hat Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Kindes.
Verbundenheit mit seiner Umgebung erlebt das Kind auf zahlreichen Wegen: Über seine Sinnesorgane, durch die Nabelschnur (Plazenta), aber auch auf anderen, noch weniger erforschten Wegen.
Im Alter von etwa acht Wochen reagiert der Embryo (er ist 2,5 cm groß), wenn seine empfindlichen Lippen etwas berühren. Ab etwa dieser Zeit kann man bei ihm gezielte, intentionale Bewegungen erkennen. Wenn Mutter oder Vater ihre Hand liebevoll auf den Bauch der Mutter legen, spürt das Kind diese Berührung und bewegt sich zuverlässig zu jener Seite, an der die Hand von außen aufliegt. Auch ab etwa acht Wochen kann das Ungeborene riechen und das Fruchtwasser schmecken. Die Sinneswahrnehmungen des Kindes sind auf eine vorgeburtlich-nachgeburtliche Verbundenheit angelegt. Dies gibt dem Kind Sicherheit und stärkt sein Vertrauen in die noch unbekannte, nachgeburtliche Welt. Für das Kind bedeutet es: Alles ist in Ordnung, ich kenne mich aus. Ich weiß, wo es Nahrung gibt und deshalb kann ich leben. Das Kind kann sich entspannen, sein kleines Gehirn kommt zur Ruhe, was eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine gute Gehirnentwicklung ist.
Ein Embryo ist ein Kind von Anfang an.