Vollstopfen, und ab auf die Couch
Ich war immer der Meinung, man gehe zum Italiener, bestelle sich eine leckere Pizza oder hausgemachte Tagliatelle mit Steinpilzen und Rucola, dazu ein Glas Wein, hinterher ein Espresso und vielleicht noch eine Pana Cotta mit Erdbeersauce – das war es dann mit dem Essen. Denn nach obligatorischem Liter Kaffee in aller Herrgottsfrühe, einem Croissant und zwei Äpfeln für Zwischendurch gibt es bei mir eigentlich erst abends wieder was zum Essen – egal ob montags oder am Wochenende. Als ich jedoch diesen Samstag durch die City schlenderte und krampfhaft versuchte, mein "übrig gebliebenes" Geld auszugeben, stellte ich fest, dass alle anderen Menschen immer essen – und zwar überall und in jeder Stellung.
Die "Klassiker" Currywurst und Kebab sind nun wirklich nichts Besonderes mehr und allein in meiner Straße habe ich fünf solcher Buden "recherchiert". Dass unsere Kinder ihr Geburtstag am liebsten bei Mc & Co. feiern, ist auch keine Neuigkeit. Dazu haben sich neuerdings die Schnell-Asiaten gesellt: Min-Nudeln aus der Pappschachtel und ganze Sushi-Menüs in Plastik eingeschweißt. Schnuckelige Italiener servieren reihum mikrowellenaufgewärmte Pizza auf unhandlichen Karton-Fetzen und ein mutiger Engländer um die Ecke ist zuversichtlich und bereit, mich 24-Stunden am Tag mit Fish & Chips kulinarisch zu verwöhnen. Nicht zu vergessen natürlich all die Seefood-Filialen, die mit totem Meeresgetier handeln, das allerdings das letzte Mal vor etwa 1000 Jahren in der Nordsee zu angeln war. Ach ja, und die Back-Abteilung darf natürlich in der Fußgängerzone auch nicht fehlen: Brötchen, Brezeln, Hörnchen, Donuts, Auszogene, Kranzeln, Obstkuchen, Prinzentorte und was nicht alles. Vom Eis will ich jetzt gar nicht anfangen – mittlerweile ist schon sogar der Boden nachts vereist.
Und wie sie überhaupt all die Zeit dafür finden, sich was zu essen zu besorgen! Dauert's zu lange an der Kasse – Bubi geht dann schon mal zum Stand gegenüber und holt sich eine ölige, schmierige Tüte mit Pommes, die grad so dick wie seine Finger sind und surreal in blutroter Ketchup-Pampe ersaufen; muss der Papa zu lange auf die Mama warten, die grad sein schwer verdientes Geld in der Kosmetikabteilung zum Fenster rausschmeißt – dann hat der Gute locker noch Zeit, sich genüsslich eine Semmel mit kaltem Braten, Senf und einer letscherten, einsamen Gürkchenhälfte reinzupfeifen. Und wenn die Mädels nach einer ermüdenden Einkaufstour ihren Füßen dann doch mal Ruhe gönnen und auf der Parkbank im Sonnenschein Platz nehmen – dann steht ihr Mund noch lange nicht still: entweder sie wetteifern um das billigste Schnäppchen oder sie rufen grad Schatzi an, um ihm schonend ihre Begegnung mit der Kassiererin mit den Scherenhänden zu beichten, oder sie essen Gummibärchen, lecken an einem Eisboller oder zupfen manierlich an kalorienreichem Käsegebäck – Hauptsache, die Portion ist kleiner als das Piercing in ihren Näschen.
Nebenbei bemerkt, es ist ein weit verbreiterter Irrglaube, dass winzige Portionen ebenso winzige Kalorien haben. Ich habe es mal mit einer Schachtel Rum-Pralinen getestet – die kleinen Kügelchen haben es ganz schön in sich.
Eine Freundin von mir pflegt zu sagen: "Wenn du an einer Baustelle vorbei läufst und es pfeift dir keiner nach – dann ist das der richtige Tag, um sich mit dem nahenden Ende deines Lebens abzufinden". Ja, entschuldigt mal! Wann sollen die schweren Jungs denn bitte auch pfeifen, wenn sie um acht Uhr morgens erst mal frühstücken, gegen zehn dann gemütlich ihre Brotzeit machen, um zwölf zum Mittag watscheln, um zwei eine Runde Kaffee ausgeben und ab drei anfangen, sich mit einer Kiste Bier den Feierabend herbeizusaufen! Ich wundere mich da eher, dass die Straßenbahn auf diesen Schienen überhaupt noch geradeaus fährt...
Die Leute scheinen den ganzen lieben Tag nur mit Essen beschäftigt zu sein: von morgens bis abends, stehend und sitzend. Und wenn man neuerdings als Raucher zum gesellschaftlich Geächteten mutiert, werden einige bald auch im Bett essen statt rauchen – Vorspiel, Hauptgang, Nachspeise. Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.
Feiertage müssen schon lange nicht mehr für die Lust an Deftigem, Süßem und Sündigem herhalten: allerlei kalorienreiche Schweinereien gibt es an jeder Ecke zu kaufen. Kauen scheint der neue Volkssport geworden zu sein: mittlerweile machen sich sogar Wissenschaftler ernsthafte sorgen um die Ernährung moderner Menschen. Selbst der arme Jamie Oliver ist mit seiner Aktion "Gesundes Schulessen" gescheitert. Ich habe diese Bilder im Fernsehen gesehen. Und ich weiß nicht, was mich mehr erschrocken hat: die übergewichtigen, weinenden Teenager hinter Gittern des Schulgeländes oder ihre englischen XXL-Eltern, die panisch unzählige fetttriefende Burger, tütenweise Pommes und Unmengen an frittiertem Fisch in all die flehentlich ausgestreckten Hände stopften! Das muss man sich mal vorstellen: die Mütter haben Fast-Food-Sammelbestellungen ganzer Klassen aufgenommen, um ja nicht zuzulassen, dass ihre armen Kleinen von einem Sterne-Koch mit Gemüse, Dinkelbrot und Bio-Putenfleisch vergiftet werden.
Bald ist Weihnachten – da heißt es, der Gans einen Apfel in den Hintern stopfen, Blaukraut dünsten und Specksemmelknödel drehen. Die Regale im Supermarkt brechen schon seit September unter Christstollen, Lebkuchenherzen, Marzipanplätzchen und Zimtsternen fast zusammen – und bis Februar ist keine Chance für eine Diät in Sicht.
Aber schon meine Lieblingsserienheldin Fran Fine, ihres Zeichens Nanny und Jüdin aus Leidenschaft, hatte eine kluge Replik auf die Träume des modernen Menschen parat:
"Chanukka ist ein Festtag, an dem wir erst die Kerzen anzünden.
Und uns dann voll stopfen."
Guten Appetit,
Sophia Sommer
Ja, das stimmt – ich bin auch für das Gesamtpaket! Selbst wenn er keinen Waschbrettbauch – oder, ich hab doch grad einen neuen Ausdruck dazugelernt: Sperrzone – hat, morgens kleine Pfützen im Bad hinterlässt und mit seinen Jungs bis morgens um die Häuser zieht, mir dafür aber erlaubt, ihm des nächstens meine eiskalten Füße zum Aufwärmen "unterzuschieben", für mich vom Einkaufen meine Lieblingsschokolade mitbringt und meine Mama ins Theater ausführt – wäre ich sogar bereit, ihn zu heiraten ;-)