Sensible Helden
Dass Frauen eine emotional gesehen instabile, ja geradezu explosive Mischung sind, wissen wir alle nur allzu genau. Wer sich noch an seinen "Titanic"-Kinobesuch mit Freundin oder Freund erinnert, wird das Bild schluchzender, in Tränen aufgelöster Weiblichkeit, kiloweise mit Taschentüchern bewaffnet, niemals vergessen können. Wir Frauen sind ziemlich nah am Wasser gebaut – wir weinen bei jedem rührenden Liebesfilm, in jeder Schulaufführung unserer "Kleinen", die mal wieder verdammt schnell erwachsen geworden sind, nach jedem Streit um die Farbe der Küche und bei jedem Paar Designer-Schuhe, die wir im Ausverkauf unter Einsatz unseres Lebens ergattert haben. Wir weinen eben gern – wenn wir glücklich und wenn wir traurig, wenn wir enttäuscht und begeistert, wenn wir verliebt sind und auch wenn wir verlassen werden. Die Tränen sind unsere liebste Ausdrucksmöglichkeit und zuweilen auch unsere liebste Waffe.
Wenn ich da an meine Kindheit zurückdenke: neben puppenhaftem Augenklimpern – das spätestens mit der Pubertät leider seine Wirkung unwiderruflich verloren hatte –, konnte ich meinen Vater am häufigsten damit erweichen, wenn ich bettelnd und heulend jammerte: "Du hast mich nicht mehr lieb!". Und wenn er – entsetzt über so viel geballte taktische emotionale Erpressung von einer Person, die noch aufrecht unter dem Kaffeetisch durchpasst – erwiderte "Aber das stimmt doch nicht, Liebes! Papa hat dich immer lieb!", versetzte ich ihm mit höchstem Vergnügen den finalen Dolchstoss: "Und warum willst du mir dann diese Puppe nicht kaufen?" Später waren es dann ein antikes Klavier und ein neues, viel zu kurzes Kleid, das erste knallrote Auto und Open-End-Ausgang am Wochenende mit zwielichtigen, pickligen Jungs, auch wenn er aus eigener Erfahrung genau wusste, dass sie seinem kleinen Mädchen eigentlich nur "an die Wäsche" wollten.
In meinem späteren Leben hatte ich erfreut festgestellt, dass diese Taktik ebenso erfolgreich auch bei jedem anderen Mann funktionierte. Wie sonst hätte ich meinen Freund jemals dazu bringen können, eine beige filigrane Chaselounge mit Leinenbezug ins Wohnzimmer zu stellen, wo er ja eigentlich eher mit einer mächtigen schwarzen Ledercouch geliebäugelt hatte, und unseren Urlaub auf einem Weinseminar in der Toskana zu verbringen, wo er doch eigentlich mit den Jungs zur Formel 1 nach Budapest fahren wollte? Wenn ich – Gott bewahre! – meine Fähigkeit der tränenreichen Überredungskunst damals eingebüßt hätte, würden wir wohl in einer Ballack-Bettwäsche kuscheln, beim Essen auf Besteck verzichten müssen und im Kühlschrank außer Bier und Weißwurst nichts Essbares vorfinden. Nur dank meiner Tränen konnten wir zusammen ein so glückliches Leben führen!
Als ich Jahre später ein letztes Mal "unsere" Wohnung aufsuchte, um meine verbliebenen drei Bücherkartons abzuholen, die ich bei meinem hektischen Auszug vergessen hatte, lag er relaxt, samt schlammüberzogenen Wanderstiefeln auf meiner geliebten Chaselounge und trank Bier aus der Flasche, die er erleichtert auf dem fragilen Glastisch abstellte, ohne einen Untersetzer zu benutzen – ein demonstratives Zeichen seiner neuen maskulinen Freiheit.
Wer hätte jedoch jemals auf den Gedanken kommen können, dass unsere eignen Waffen eines Tages gegen uns eingesetzt werden könnten? Gottlob haben unsere modernen Männer noch nicht das durchschlagene Erpressungspotenzial dieser Munition entdeckt, doch das Weinen als solches ist längst nicht mehr als Ausdrucksmittel nur den Frauen vorbehalten. Emotionen öffentlich zu zeigen, empfindsam zu sein, ist auch unter Männern hoffähig geworden. Glaubt man den Umfragen, die seitenweise die Boulevard-Presse überfluten, wollen auch die Frauen neuerdings nicht nur gut aussehende und gut gebaute Männer an ihrer Seite sehen, nein, sie sollen auch rücksichtsvoll und sensibel sein oder wie Angie Harmon es schon so treffend formulierte: "Ich will einen Mann, der offen seine Gefühle zeigen kann – ich will einen, der weint, wenn ich ihm ein paar knalle!"
An diesem denkwürdigen Tag, als die Titanic überaus medienwirksam unterging, konnte ich jene neuen sensiblen Helden zum ersten Mal in der freien Wildbahn betrachten. Gegen Ende heulte das ganze Kino kurzentschlossen, wobei alle Frauen aufrichtig und laut schluchzten. Nicht zu glauben war jedoch, dass diejenigen Männer, die drin saßen (obwohl es wirklich wenige waren) wie kleine Kinder diese großen perligen Krokodilstränen vergossen haben! Um nicht lauter als ihre vollkommen aufgelösten Freundinnen zu schluchzen, wischten sie sich permanent über die Wangen – Gott bewahre, dass einer sich mutigerweise umdrehte, um sich nach der Reaktion seines Geschlechtsgenossen umzusehen! –, pressten die Lippen krampfhaft aufeinander und schnieften, als ob sie erkältet wären. Danach ging ich in meine kleine Lieblings-Bar und habe mir erst einmal einen doppelten Whiskey eingeflösst, bevor meine Augen einigermaßen "abgeschwollen" sind, während ich darüber nachdachte, was ich gerade gesehen habe. Die Männer der Moderne sind längst nicht mehr die Felsen in der Brandung, an deren zuverlässiger Schulter wir uns in Ruhe ausweinen könnten. Jetzt sind es unsere Schultern, die ihre Emotionalität (er)tragen müssen, was die Beziehung zwischen Männern und Frauen nicht gerade einfacher macht.
Doch, wo lassen sich die neuen Gefühlsstürme stärker ausleben als in der Arena? Zwar sind die Männer auch dort schon längst nicht mehr nur "unter sich" – die fanatischsten Fans sind ja wohl die knapp bekleideten brasilianischen Schönheiten, die man, zugegeben, auch als Frau am liebsten nur mit Nationalflagge drapiert sehen würde –, die emotionale Gemeinschaft ist jedoch nach wie vor überwältigend: vom euphorischen Jubel bis hin zu dramatischen Tränen ist alles drin.
Und das Fieber hat auch mich erfasst. Tatort: Samstag 17:00, beige Chaselounge. Anlass: 1/8 Finale Deutschland gegen Schweden live im ZDF. Proviant: eine Flasche Prosecco und Erdbeeren mit Schlagsahne. Und dann passierte es: 17:04 – Tor! 17:12 – noch ein Tor! Ich war aus dem Höschen! Ich schrie, ließ eine dick-sahnige Erdbeere auf den Teppich fallen, jubelte, verschüttete den ganzen Prosecco, gluckste und sprang quer durchs Wohnzimmer – so viel unbändige Freude empfand ich das letzte Mal, als Mr. Big und Carry sich in Paris versprochen hatten, einander niemals zu heiraten!
Am Abend auf der Geburtstagsparty meiner Freundin gab es natürlich nur ein Thema zu diskutieren – unser Einzug ins Viertelfinale. Das Spiel, der verschossene Elfer, die scharfen schwedischen Flanken und natürlich die Tore waren auf jedermanns Lippen, geschlechtsunabhängig wohlgemerkt. Und dann hörte ich es, einen Satz, der mein Blut stocken ließ: "Ich sag's dir, Sophia, ich hab' wie Sau geweint!" – schluchzte der taffe Macho am Grill, während er blutige Steaks wendete. ??? Bitte ??? Während ich also ganz unweiblich in unkontrolliertes Gegröle ausbrach und einen wilden Tanz in Unterwäsche aufführte, weinte der Mann von heute und schnäuzte in die Deutschlandfahne?
Aber so sind sie wohl, unsere neuen sensiblen Helden – hochemotional, gerührt, euphorisch und extrem zuneigungsbedürftig. Und es ist so schön zu wissen, dass beim nächsten herzzerreißenden Liebesklassiker ich ungeniert meinen Tränen freien Lauf lassen und auf seinen missbilligenden Blick hin voller Stolz antworten kann: nein, Schatz, das ist mir nicht peinlich. Oder weißt du nicht mehr, damals, als wir gegen die Schweden gewonnen haben?
Schluchz,
Ihre Sophia Sommer
P.S.: Nachtrag von Sonntag, 01:02
Portugal gegen Holland! 1:0 – was für ein Spiel! Und was für ein Pech für Cristiano Ronaldo! Selten war ein Mann so enttäuscht wie der portugiesische Stürmer, als er das Spiel nach dem dritten Tackling in der 33. Minute bedauerlicherweise aufgeben musste. Selten war ich so sehr gerührt, einen Mann weinen zu sehen. Und noch seltener waren die Tränen so heldenhaft sensibel. Prädikat: männlich, wie noch nie!
Übrigens Frau Autorin, Ihr puppenhaftes Augenklimpern kommt auch heute immer noch sehr gut an...