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Liebe und Fußball haben viel gemeinsam

Zurückhaltung in der Liebe – ein etwas vermottet klingender Nachruf auf die einstigen Benimmregeln, die das letzte Mal wohl zu Zeit von Jane Austen noch en vogue waren. Verschämtes Augenniederschlagen, steife Vorstellungszeremonien, Kommunikation nur im Beisein der gesamten weiblichen Anstandsriege, einziger Körperkontakt – Boulanger in einem überfüllten Ballsaal. Danach führte der Weg bis zum ersten Kuss über die Verlobung und ins Bett – über den Traualtar. Und weniger war definitiv mehr.
In diesem Licht betrachtet, hat sich heute viel verändert. Doch beim genauen Hinsehen haben wir noch einige rudimentäre Verhaltensweisen trotz der fortschreitenden Beziehungsmodernisierung behalten dürfen. Auch heute überfällt uns gelegentlich die verschämte Röte, wenn wir plötzlich einem aufregenden Mann gegenüber stehen. Und wer von uns hat dabei nicht schon öfters schwitzende Hände und weiche Knie bekommen, während man sinnlose, unzusammenhängende Sätze vor sich hin sabberte? Da ist man froh und glücklich, gute Freundinnen in unmittelbarer Nähe zu wissen, die einem moralische Unterstützung und sicheren Fluchtort bieten. Und auch das Tanzen ist nach wie vor die beste Möglichkeit, auf "Tuchfühlung" zu gehen und zu erkunden, wie er riecht, sich anfühlt und wie gut er sich bewegen kann – auf diese Fähigkeiten legen wir bekanntermaßen großen Wert.
Einzig der weitere Weg ist erheblich kürzer geworden: niemand von uns wird auf die Idee kommen, sich zuerst zu verloben und erst dann zu küssen, oder mit den ersten Zärtlichkeiten bis zur Hochzeitsnacht zu warten! Das moderne Zeitalter ist von Testphasen geprägt: neue Medikamente werden an Tieren getestet, neue Autos bei Probefahrten inspiziert, Frauen im Bett und dann vielleicht in der Küche auf ihre Fähigkeiten hin erprobt, Männer darauf hin überprüft, wie viel Geld sie bereit sind für uns auszugeben, wie lange sie bei einem Einkaufsbummel aushalten, ohne zusammenzubrechen, und welchen Gesichtsausdruck sie spontan zur Schau tragen, wenn wir ihnen vorschlagen, doch mal unsere Mutter kennen zu lernen. Wir sind dazu übergegangen, zu testen, bevor es ans Eingemachte geht.
Die Liebe und der Fußball haben hier viel gemeinsam.

Denn unsere Nationalhelden testen auch gern.
Jürgen Klinsmann – der heute übrigens als 41-jähriger selten lecker aussieht; kein Vergleich zu seiner aktiven Zeit, trotz der etwas dünner gewordenen Haarpracht; allein dieses "unschuldige" Lächeln bringt mich zum Schmelzen, ehrlich! – hat auch ausgiebig getestet. In jedem Vorbereitungsspiel hat die Nationalelf mit einer anderen Mannschaftsausstellung gespielt. Bis zum letzten Tag wusste keiner der Jungs, ob er dabei ist oder nicht; technische Fähigkeiten wurden inspiziert, Stärken herausgefiltert, man wurde auf "Spieltauglichkeit über volle 90 Minuten" geprüft – ich gebe zu, so hätte ich es als Frau auch gemacht, wenn mir 22 knackige Kandidaten zur Auswahl gestanden hätten.
Die Ländertestspiele gegen Luxemburg, Japan und Kolumbien sollten unsere Jungs auf das vorbereiten, was sie ab dem 9. Juni auf dem Rasen erwartet: defensiv starke Mannschaften, offensiv spielende Gegner, Blutgrätschenfans. Wie in einer guten Beziehung hat sich Klinsi sehr knapp vor dem großen Ereignis nun hoffentlich endgültig entschieden und jetzt heißt es: sich entspannen und auf Gott, Glück und eigene Fähigkeiten vertrauen.
Doch, wie auch unmittelbar vor der Hochzeit, wird man auch knapp vor der WM gelegentlich von Alpträumen geplagt. Nur, dass die Jungs sich dabei weniger Sorgen um das Kleid, die Menüfolge oder spontane Panikattacken des Bräutigams Sorgen machen müssen. Es ist der konservative Pfarrer mit seiner "kein Sex vor der Ehe"-Predikt, der den Brautleuten am meisten Angst macht. Und in unserem WM-Fall ist es der Schiedsrichter, der allein die Entscheidungsgewalt über Sieg oder Niederlage innehat. Das Schreckgespenst jeder Frau ist es, vor dem Traualtar sitzen gelassen zu werden. Und das Trauma der deutschen Fußballer heißt "Wembley '66".

Was war damals passiert? Das muss ich Ihnen sicherlich nicht en detail ausbreiten. Doch angesichts der Gefahr der Wiederholung sollten wir unserer Phobie mutig ins Auge sehen: wenn wir im Viertelfinale gegen Niederlande und im Halbfinale gegen Frankreich gewinnen, und Engländer ebenso gut mit Portugal und Brasilien fertig werden (alles pure Theorie, zugegeben!) – dann treffen Deutschland und England mal wieder im Finale aufeinander und dann sollte unser ganzes Land beten, dass diesmal kein russischer Linienrichter dabei ist. Obwohl, die guten Kontakte unserer Ex-Politiker zur Finanzelite der östlichen Weltmacht könnten sich diesmal sogar im Zweifelsfall richtig auszahlen.
Auch eine gute Vorbereitung ist, vor allem bei einem großen Ereignis wie diesem, das Wichtigste – mentale Stärke ist entscheidend. Damals '66 haben sich in der Nacht vor dem WM-Finale jedoch seltsame Dinge in den Mannschaftsquartieren abgespielt. Der englische Trainer hat seinen talentierten Kickern Filme aus dem 1. & 2. Weltkrieg vorgeführt, wo die Engländer bekanntermaßen gegen die Deutschen gewonnen haben, um die Moral der Truppe zu stärken. Und unsere Jungs? Seeler, Beckenbauer & Co. haben sich Soft-Pornos und Whiskey-Cola reingezogen. Das würde unseren Jungs heute unter Klinsmann sicherlich nicht passieren. Oder etwa doch?

Egal, auf dem Platz damals entschied jedoch seltsamerweise die uns schon so gut bekannte Zurückhaltung. Als Sir Geoff Hurst den Ball in der 101. Spielminute ins deutsche Tor beförderte, schrie das ganze Stadion auf: wo das Runde in das Eckige hätte rein sollen, war die obere Planke im Weg. Die Engländer jubelten! Die Deutschen waren ratlos. Während all der Zeit, als die Schiris ebenso ahnungslos hin und her überlegten, waren unsere Jungs … voller vornehmer Zurückhaltung: kein Jubel, keine brodelnden Emotionen und, was noch viel wichtiger war, kein Protest. "Lass sein Verhalten das deine bestimmen!" hatte Jane Austen stets ihren Heldinnen geraten. Ein solcher 250 Jahre alter Vorschlag hätte auch unseren Jungs vielleicht "das Leben" gerettet. Denn schlussendlich war weniger definitiv zu wenig – das anerkannte Tor zu 3:2 brach uns das Genick. Die resignierte deutsche Elf kassierte im Anschluss noch einen Treffer und überließ den Sieg dann endgültig dem Gastgeber. Im Nachhinein betrachtet, konnten wir ruhig großzügig bleiben: die armen Briten haben seitdem nie wieder ein internationales Meisterschaftsspiel gegen uns gewonnen – der Fluch von Wembley schwebt über ihren Köpfen. Und wir waren schon drei Mal Weltmeister – für die anderen bleibt die WM '66 ihr einziger Triumph.
Doch unsere sportliche Fairness und Großmut als Verlierer hat uns damals die Herzen der englischen Bevölkerung geöffnet: wir, die tragischen Vize-Weltmeister, wurden unter orgiastischem Applaus nach Hause verabschiedet. Deutschland hatte in einem "erneuten Blitz-Krieg" (so die Schlagzeilen der englischen Presse damals) auf dem internationalen Parkett das erste Mal Contenance bewiesen.
Und weniger war dann wohl doch mehr.

Ihre
Sophia Sommer

P.S.: Nach neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen mittels Computer, Flugberechnung und Simulation war der 3:2 Treffer definitiv irregulär: der Ball befand sich "nicht in seinem vollen Umfang hinter der Torlinie". Auch der zweite Treffer in dieser grausamen Verlängerung hätte nicht gepfiffen werden dürfen: einige Zuschauer befanden sich bereits auf dem Platz, unmittelbar rechts des Strafraumes zum Zeitpunkt der Ballabgabe.
Aber egal: wir sind Deutschland, wir sind Papst und bald sind wir auch Weltmeister!

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