Die Wahrheit über platonische Liebe
Es wird erzählt, zum Festmahl bei Agathon seien viele Gäste eingeladen gewesen: da wäre z.B. Phaidros, der Lieblingsschüler Sokrates, Pausanias, der Staatsmann, Eryximachos, der Arzt, ferner Aristophanes, ein berühmter Lustspieldichter, Agathon, der Gastgeber und Tragödiendichter, natürlich Sokrates selbst, ein Philosoph und Lebenskünstler, Diotima, die Priesterin (und die einzige Frau, die hier zu Wort kommt, obwohl gar nicht anwesend(!), denn sie wird einfach von Sokrates "zitiert", da er einst selbst bei ihr alles über die Liebe "gelernt" hatte) und schließlich Alkibiades, der betrunkene (Möchtegern-)Liebhaber des Sokrates. Jeder der Gäste hält eine Lobrede auf den Gott der Liebe, in der er versucht aus seiner Sicht und nach seiner Überzeugung zu erklären, warum Eros der größte aller Götter ist, warum die Liebe zu Tugend und Mut erzieht oder wie das Wesen der Liebe beschaffen sein muss.
Diese recht illustre Runde ist ein durchaus repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung, was die soziale Einordnung, berufliche Orientierung, philosophische Überzeugung und gesellschaftlichen Status angeht. Es trafen sich also einst ein Student, ein Politiker, ein Arzt, zwei Dichter, eine Nonne, ein Philosoph und ein Liebeskranker und redeten über die Liebe – so könnte Symposion wohl zeitgemäß und lapidar betrachtet werden – und jeder hatte seine eigene Überzeugung, was die Liebe mit den Menschen und der Welt so anrichten kann.
Die Menschen lesen die Klassiker der Philosophie, um daraus nützliche Erkenntnisse für ihre gegenwärtige Weltordnung zu gewinnen: Liebe ist ein gutes Beispiel dafür – darüber nachzudenken lohnt sich jeden Tag aufs Neue. Es ist ein unfassbares Geheimnis – ebenso wie Gott und Seele, gehört Liebe in den Bereich der Metaphysik und kann weder objektiv bewiesen, noch rational berechnet werden; man kann es nicht riechen, nicht sehen – nur fühlen, manchmal.
Die berühmteste Definition ist uns allerdings unter dem Namen "platonische Liebe" bekannt: eine emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen, die keine sexuellen Erlebnisse miteinander teilen, sondern sich durch Übereinstimmung des Geistes verbunden fühlen. Es ist jedoch ein großer Irrtum zu glauben, dass genau diese Definition auch in Platons Traktat über die Liebe zu finden ist: "platonische Liebe" so wie wir sie verstehen, hat überhaupt nichts, aber auch gar nichts mit Platon zu tun!
Vielmehr ist "Liebe" bei Platon eine Idee – eine stetige Entwicklung, die im Bett anfängt und schließlich im Himmel endet: zuerst finden wir nur einen Menschen schön, verlieben sich in ihn und genießen alles, was zu solch einem Glück dazugehört; dann werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass es viele schönen Körper gibt, die zu lieben es sich lohnt, und wir lieben sie alle, lange und ausgiebig, doch wir beginnen langsam, aber sicher uns zu langweilen – denn im Grunde sind ja alle Körper in ihrer Bauweise gleich – und entdecken, dass es außer Körper auch noch die Seele gibt: so sind die nächste Stufe – die Liebe zu den schönen Seelen – und die zweite Erkenntnis – Äußerlichkeiten sind nicht wichtig – erreicht. Von den schönen Seelen kommt der Mensch alsdann zu schönen Gedanken und von da aus ist bis zur Schönheit der Erkenntnisse und Ideen nicht mehr weit. Und wer bis dahin alles richtig gemacht hatte, dem wird die letzte Erkenntnis zuteil werden: die Idee der Liebe, die absolute Wahrheit und das Geschenk der Unsterblichkeit.
"Platonische Liebe" ist so gesehen nur die Wegbeschreibung – seine Gefühle muss man allerdings schon selbst auf den richtigen Weg lenken. Da jedoch jedem Menschen seine eigene Gefühlswelt zueigen ist, empfindet jeder auch die Liebe sehr individuell. Platons Symposion ist ein Paradebeispiel dafür: sieben Menschen – sieben Definitionen der Liebe. Platon entzieht sich geschickt der Aussage, welche Sichtweise nun die richtige ist. Das Symposion ist eine Idee, wie Liebe beschaffen sein könnte: viele schöne Alternativen, aber keine Lösung des Problems.
Aus der Sicht der pragmatischen Moderne bedeutet Alternative eins – die Liebe ist eine göttliche Eingebung, die den Menschen schamhaft, loyal und mutig macht: das ist richtig – aus Liebe werden Menschen gedemütigt, beschützt und getötet.
Möglichkeit zwei – in der Liebe sind alle Mittel erlaubt, wenn man(n) nur den Besten der Besten auf schöne Weise liebt: auch das ist richtig – aus Liebe verzichten Menschen auf eigenen Stolz, wenn die Leidenschaft für ein unerreichbares Ideal nur hell genug lodert, und geben sich in bester Absicht der Schönheit der sinnlichen Freuden hin.
Die dritte Vermutung, die Liebe könne echte körperliche Schmerzen verursachen und einen Menschen vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen, ist gleichermaßen auch vollkommen treffend: psychosomatisch bedingte Krankheiten aufgrund hormoneller Schwankungen können u.a. zu Fehlfunktionen im Gehirn führen: von Reizbarkeit und Wut bis hin zu Depressionen und Suizid ist alles möglich.
Auch die Überzeugung, man habe irgendwo auf der Welt einen Seelenverwandten oder die perfekte Ergänzung – auch bekannt als Traummann bzw. Traumfrau – ist oft verbreitet: in dem Glauben, man würde irgendwann schon den- oder diejenige treffen, verharren die Menschen ihr Leben lang in stoischem Verzicht auf die Liebe und nehmen billigend die Möglichkeit in Kauf, anschließend in Einsamkeit zu sterben.
Eine Annahme, die Liebe sei prachtvoll, friedlich, leicht wie eine Feder und zeitlos schön, ist ebenfalls wahr, denn die Liebe erscheint den Menschen allzu gern als ein immerwährender Traum voller Schönheit und Glück: sie allein hat die Macht, die Feinde zu versöhnen, alle Hindernisse zu überwinden und die Welt zu retten.
Und zuletzt, es ist auch durchaus möglich, die Liebe als eine Muse zu verstehen, die den Menschen inspiriert und auf der Suche nach der Antwort, was die Liebe selbst sein mag, unermüdlich antreibt: natürlich tut sie das – von Eigenbetrachtungen abgelenkt, zwingt sie uns, unsere Gedanken auf jemand Besonderen zu lenken und ihn zu studieren; später vergleichen wir ihn mit anderen, die im Besonderen unsere Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben, und stellen fest, dass alle letztendlich gleich sind. Wir fragen auf einmal nach "warum?" und suchen nach einer Erklärung für das, was uns passiert ist, bis wir erkennen, dass es am Ende keine endgültige Lösung für das Problem gibt und alles nur eine große, schöne Illusion war – eine Idee der Liebe, eben.
Glaubt man an diese Idee, sei es auch nur für kurze Zeit oder gar für sein ganzes Leben, erlebt man Euphorie und Ernüchterung, Lachen und Tränen, Schönheit und Scheusal, Hingabe und Hass, Leidenschaft und Ekel, das Gute und das Böse – alle Charaktereigenschaften, alle existenziellen Empfindungen, eben alles, was uns zuweilen von vielen anderen Bewohnern dieser Welt unterscheidet und bewusst zum Individuum "Mensch" macht.
Die Erkenntnis, wer wir eigentlich sind, ist unsere große Schau.
Und die einzige Wahrheit, die uns unsterblich machen kann:
Was ist der Sinn unseres Lebens?
Bin dann mal kurz suchen,
Sophia Sommer
Kein Problem, ich habe es instinktiv richtig gelesen!